5. Februar 2020

Lehre schlägt Gymi


Das schweizerische duale Bildungssystem ist eine Erfolgsgeschichte – Zahlen belegen dies eindrücklich. Die Sekundarschule mit einer anschliessenden Berufslehre ist dem vermeintlichen Königsweg Gymnasium in gewissen Punkten sogar überlegen. Weltweit gibt es kaum ein anderes Land, in dem Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren so leicht Arbeit finden und eine so tiefe Jugendarbeitslosigkeit herrscht.
Filippo Leutenegger: "Lehre schlägt Gymi", NZZ, 5.2. von Filippo Leutenegger

Im internationalen Vergleich belegt die Schweiz bezüglich der Erwerbsquote und der Erwerbstätigenquote von Jugendlichen einen Spitzenrang. Grosse Teile Europas bieten dagegen ein trauriges Bild und weisen Jugendarbeitslosenquoten von bis zu 50 Prozent aus. Gerade in Ländern mit einer hohen Akademisierungsrate und einem wenig ausgeprägten Lehrlingswesen (beispielsweise Frankreich und Italien) erreicht die Jugendarbeitslosigkeit Spitzenwerte.

Jugendarbeitslosigkeit bei hoher Gymnasialquote
Ähnliche Tendenzen lassen sich auch in der Schweiz erkennen: je höher die Gymnasialquote, desto höher die Jugendarbeitslosigkeit. In der Zentralschweiz, wo der Sekundarschulabschluss mit anschliessender Lehre den Normalfall bildet, liegt die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen um die 1 Prozent – häufig sogar darunter. In den Kantonen Genf und Tessin mit der höchsten schweizerischen Gymnasial- und Maturitätsquote sind bis zu fünfmal mehr Jugendliche arbeitslos.

Die Yass-Studie macht ein weiteres Problem deutlich: In der französischsprachigen Schweiz verfügten 2014/15 ein Sechstel der jungen Männer und ein Fünftel der Frauen weder über eine Matur noch über einen Lehrabschluss. Im deutschsprachigen Raum waren diese Werte nur halb so hoch. Der hohe Anteil von Gymischülern in der Westschweiz und im Tessin bringt auch eine hohe Abbruchquote mit sich. Ist dann das Lehrstellenwesen schwach ausgebildet, fallen diese Jugendlichen zwischen Stuhl und Bank – Arbeitslosigkeit dürfte nur eine der Folgen sein. Paradoxerweise bleibt der Druck auf das Gymnasium in Zürich trotzdem hoch.

Denn viele Zürcher Eltern sind verunsichert und glauben fest daran, dass nur die Matur beste Zukunftschancen bietet. Dabei ist das Gegenteil der Fall! Dies wollten wir belegen und haben zur Stärkung der Sekundarschule und des dualen Bildungssystems drei Informationsveranstaltungen für Eltern durchgeführt. Wir waren überrascht über das grosse Interesse: Knapp 600 Eltern sind der Einladung gefolgt. Und es wurde klar: Viele erkennen die grosse Kraft des dualen Bildungssystems nicht. Wir konnten aufzeigen, dass die Lehre eine hervorragende Basis für die künftige berufliche Karriere bildet und nach Lehrabschluss alle Türen weit offen stehen. Eine KV-Lernende und ein ausgelernter Hochbauzeichner schilderten in einer Podiumsdiskussion, welch grossen Spass sie in der Berufswelt haben. Trotz bestandener Gymiprüfung hat sich die KV-Lernende ganz bewusst für eine Lehre entschieden. Beide besitzen die Berufsmatur und haben dank unserem durchlässigen Bildungssystem vielfältige Weiterbildungsmöglichkeiten an den Fachhochschulen – mit der Passerelle ist auch ein Studium an der Uni möglich.

Erfahrung einer Schnupperlehre
Längst nicht jedes Kind ist für das Gymnasium geeignet. Ein Plan B – beispielsweise in Form einer gesicherten Lehrstelle – ist allen Eltern dringend zu empfehlen. Misserfolge und Enttäuschungen bei Kind und Eltern werden damit abgefedert. Ebenfalls in der Pflicht stehen die Schulen. Zu reflexartig wird in der Primarschule die Gymiprüfung vorgeschlagen, sobald die Noten in diese Richtung weisen oder der Druck der Eltern hoch ist. Die Lehrpersonen sollten auch in solchen Fällen aufzeigen, dass die Sekundarschule in Kombination mit einer Lehre hervorragende Karrierechancen bietet. Monika Walser von de Sede, Hansueli Loosli von Coop oder Ernst Tanner von Lindt und Sprüngli sind dafür beste Beispiele.

Das Abwandern von guten Schülern aus der Sekundarschule müssen wir verhindern. Talente gehören gefördert, nur so lässt sich der Bedarf an guten Fachkräften stillen. Stadtzürcher Eltern und Kinder müssen frühzeitig über mögliche Alternativen zum Gymnasium informiert werden – idealerweise noch vor Ende der Primarschule. Es braucht entsprechende Schritte, um die Langzeitgymi-Quote zugunsten des Kurzzeitgymnasiums zu senken. So haben mehr Kinder die Möglichkeit, die Erfahrung einer Schnupperlehre zu machen, mit der Arbeitswelt in Kontakt zu treten und unbekannte Fähigkeiten oder Neigungen zu entdecken. Daher: Nur wer gut und breit informiert ist, kann sich fundiert mit der eigenen oder der Zukunft seines Kindes auseinandersetzen und die wirklich passende Lösung finden. Und gerade bei Kindern, die den Knopf etwas später aufmachen, sorgt unser durchlässiges Bildungssystem für eine hervorragende Chancengerechtigkeit – dem gilt es Sorge zu tragen.

Filippo Leutenegger, Stadtrat in Zürich, ist der Vorsteher des Schul- und Sportdepartements.


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