14. Dezember 2019

Wir brauchen kritische Leser


Wird die Leseförderung durch die zunehmende Digitalisierung nicht obsolet? Genügt es nicht, wenn die Schülerinnen und Schüler digitale Medien bedienen können? Meine Antwort ist hier ein ganz klares Nein. Kinder und Jugendliche lesen heute nicht unbedingt weniger, sondern primär anders. Vor noch nicht allzu langer Zeit haben sich die Lesemedien massiv um die digitalen Endgeräte erweitert. Das Smartphone etwa ist für die überwiegende Zahl der Menschen und auch für unsere Jugendlichen zum nicht mehr wegzudenkenden Begleiter im Alltag geworden. Welche Konsequenzen haben diese einschneidenden Veränderungen für die schulische Bildung?
Digitale Bildung ersetzt keine Leseförderung, NZZ, 13.12. von Michael Piazolo


Hier hat zuletzt die Stavanger-Erklärung Anfang des Jahres herausgestellt, dass Bildschirme und bedrucktes Papier keine gleichwertigen Lesemedien sind. Bei digitalen Texten besteht zum Beispiel die Gefahr des oberflächlichen und unkonzentrierten Lesens. In ihren Schlussfolgerungen unterstützt die Erklärung den von uns in Bayern eingeschlagenen Weg. Der Weg zum kompetenten Leser erfolgt in Bayern über den gedruckten Text. Für Kinder und Jugendliche ist die Lektüre von «analogen» Ganzschriften nach wie vor essenziell. Und dennoch ist es daneben unabdingbar, unsere jungen Menschen – aufbauend auf bereits fundierten Lesefähigkeiten – auch im Umgang mit digitalen Texten zu schulen, ein Bewusstsein für die Unterschiedlichkeit der Medien zu schaffen und Reflexionsprozesse anzustossen. Wir können und dürfen die Lebenswirklichkeit hier nicht ausblenden.

«Deep reading»
Konkret bedeutet dies vor allem, dass die Schülerinnen und Schüler einerseits schrittweise die Kompetenz des überfliegenden Lesens von Hypertexten aufbauen und andererseits auch ihre Fähigkeit des digitalen «deep reading» trainiert wird. Dabei verfolgen wir die Maxime, dass der Einsatz digitaler Medien an den Schulen kein Selbstzweck sein darf, sondern einen pädagogisch-didaktischen Mehrwert haben muss. Druckwerke dürfen nicht wahllos durch digitale Technologien ersetzt werden.

Leseförderung im digitalen Zeitalter ist eng verbunden mit der politischen Bildung und der Medienbildung. Wir brauchen kritische Leserinnen und Leser, die Texte und deren Qualität beurteilen können. Ein angesichts des digitalen Wandels noch vordringlicher gewordenes Ziel ist es, dass unsere jungen Menschen kompetent und zunehmend souverän darin werden, Informationen und Zusammenhänge zu überprüfen und Falsches von Zutreffendem zu unterscheiden. Nur so lassen sie sich nicht von Populisten, Extremisten und Verschwörungstheoretikern täuschen und vereinnahmen.

An diesem Beispiel wird ausserdem klar: Leseförderung in der Schule ist bei weitem nicht nur die Aufgabe der Deutsch-Lehrkräfte, sondern hierbei handelt es sich um ein fächerübergreifendes Bildungs- und Erziehungsziel, zu dem alle Lehrerinnen und Lehrer einen Beitrag leisten. In Bayern haben wir deshalb zum vergangenen Schuljahr die mehrjährige Leseförderungsinitiative «#lesen.bayern» gestartet, die die Stärkung der Lesekompetenzen unser Schülerinnen und Schüler nochmals als Daueraufgabe aller Schulen und aller Lehrkräfte betont. Lesekompetenzen werden in allen Fächern – und später in allen Studiengängen und in wohl nahezu allen Berufen – benötigt und müssen deshalb auch im Unterricht fachspezifisch trainiert werden.

Fake-News entlarven
Ich bin deshalb fest davon überzeugt: Die Leseförderung wird auch in Zukunft sogar mehr denn je ein zentrales Bildungs- und Erziehungsziel sein. Die Digitalisierung macht zusätzliche Lesekompetenzen erforderlich, die Schülerinnen und Schüler ebenfalls im Laufe ihrer Schullaufbahn erwerben und sukzessive festigen müssen. Gerade bei der Nutzung digitaler Medien sind ausserdem die Kompetenzen, die Qualität von Texten zu beurteilen und etwa sogenannte Fake-News als solche zu entlarven, grundlegend.

Nur mit einer umfassend verstandenen Leseförderung, die Hand in Hand auch mit der digitalen und der politischen Bildung geht, kann die Schule erfolgreich auf verantwortliches und mündiges Handeln im persönlichen Umfeld, im Beruf sowie in Staat und Gesellschaft vorbereiten. Je mehr dies gesamtgesellschaftlich – beginnend bereits ab dem frühen Kindesalter – unterstützt wird, umso wirksamer werden sich diese schulischen Anstrengungen entfalten.

Michael Piazolo ist bayrischer Staatsminister für Unterricht und Kultus. Er diskutierte am NZZ-Podium Bayern mit vom 9. Oktober 2019 zum Thema «Lesen» in den Münchner Kammerspielen.

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