Eine neue Auswertung im
Rahmen der Pisa-Studie zeigt: Mobbing an Schulen nimmt zu. Die Anzahl
körperlicher Übergriffe hat sich sogar verdoppelt.
Nirgends in Europa werden so viele Schüler gemobbt wie in der Schweiz, Aargauer Zeitung, 4.12. von Anna Miller
Auf dem Schulweg wird das Kind gehänselt,
drangsaliert, bedroht, über Monate hinweg. Der Jugendliche beschimpft,
beleidigt, sogar körperlich attackiert. Und keiner schaut hin. Was nach einem
Albtraum klingt, ist im Durchschnitt für mindestens ein Schweizer Schulkind pro
Klasse Realität. Die Zahlen von Mobbingopfern steigen seit Jahren an. Nun
bestätigt die neuste Pisa-Studie aus dem Jahr 2018 einen Anstieg in sämtlichen
Mobbingkategorien teilweise auf den doppelten Wert. Kein anderes europäisches
Land weist ähnlich hohe Zahlen auf.
Vom Auslachen bis hin zu
physischer Gewalt
Das Spektrum reicht von Ausgelacht- Werden bis hin
zu physischer Gewalt. Die Befragung wurde in sechs Kategorien unterteilt. Die
Schülerinnen und Schüler wurden gefragt, ob und wie häufig sie sich im letzten
Jahr ausgeschlossen oder bedroht fühlten, ob sie geschlagen und geschupst
wurden, gemeine Gerüchte über sie verbreitet wurden oder ob sich
Mitschülerinnen und Mitschüler über sie lustig machten. Eine weitere Aussage
mass, ob den Jugendlichen Dinge weggenommen oder zerstört wurden. Im Vergleich
zur letzten Erhebung im Jahr 2015 verzeichneten die Wissenschafter einen
Anstieg in sämtlichen Kategorien.
2015 hatten noch elf Prozent der Jugendlichen in
der Schweiz angegeben, dass man sich mindestens ein paar Mal pro Monat über sie
lustig gemacht habe. 2018 waren es 13 Prozent, wie es im Pisa-Bericht von 2018
heisst. Der Anteil jener, über die ein paar Mal im Monat gemeine Gerüchte
verbreitet worden sind, sei von sieben auf rund elf Prozent gestiegen. Die
Häufigkeit körperlicher Übergriffe hat sich im Zeitraum von nur drei Jahren auf
sieben Prozent verdoppelt, wie die Schülerinnen und Schüler melden.
Wieso die Zahlen ansteigen, können die
Wissenschafter nicht klar beantworten. Es sei möglich, dass die Anzahl der
Mobbingfälle tatsächlich zugenommen habe. Möglich sei aber auch, dass die
Jugendlichen sensibilisierter für das Thema sind – auch aufgrund der
Aufklärungsarbeit der letzten Jahre.
Drangsalieren als Flucht
vor Einsamkeit
Thomas Brunner von der Stiftung Pro Juventute ortet
das Problem zum Teil in einer gefühlten Einsamkeit der Jugendlichen.
Tatsächlich geben junge Menschen in Umfragen vermehrt an, dass sie sich einsam
fühlen, obwohl sie faktisch in soziale Gruppen eingebunden sind. Fast die
Hälfte der Schweizer Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren fühlt sich
laut einer 2019 erschienenen Studie der Universität Zürich manchmal bis dauernd
einsam.
Wer sich einsam fühlt, für den kann Mobbing ein Weg
in die gefühlte Gemeinschaft sein – wer mitmacht, ist dabei, auf Kosten eines
anderen. «Mobbing findet ja nicht isoliert zwischen zwei Menschen statt.
Mobbing ist immer Plagen innerhalb einer definierten Gruppe», sagt Brunner.
Wenn sich Menschen gegen einen anderen zusammentun,
kann sich das identitätsstiftend auf die Gruppe auswirken. Und führt beim Opfer
zu langfristigen Folgeschäden auf emotionaler und psychischer Ebene, von
Schlafstörungen bis Suizidgedanken. Studien zeigen: Wer in der Schule gemobbt
wurde, hat als junger Erwachsener ein dreifach erhöhtes Selbstmordrisiko.
Doch so alarmierend die Zahlen sind: Der grosse
Aufschrei bleibt bisher aus. Brunner ortet hier Handlungsbedarf auf breiter
Ebene. Er sagt: Wir müssen als Gesamtgesellschaft anfangen, hinzuschauen. «Es
liegt an uns allen, das Schweigen zu brechen. Natürlich gibt es immer einen
Anführer, wenn es um Mobbing geht. Aber genauso wichtig für das
Aufrechterhalten der Dynamik ist die schweigende Mehrheit, die nichts
unternimmt», sagt der Experte.
Das habe gar nicht primär mit der Jugend zu tun –
das fange beim Tratsch im Büro an oder damit, dass man sieht, dass es dem
Nachbarn schlecht geht, und nichts unternimmt. «Es braucht neben einer weiteren
Sensibilisierung für das Thema vor allem auch klare Bekenntnisse in Schulen und
der Gesellschaft, dass Mobbing nicht geduldet wird», sagt Brunner.
Die Gefahren der
24-Stunden-Gesellschaft
Vor allem in einer Zeit, in der die sozialen
Zugehörigkeiten eines Menschen immer weiter verschmelzen. Und ein Jugendlicher
von morgens um sieben bis Mitternacht on- und offline mit den gleichen Menschen
lebt. «Früher hatte man den Pfadiverein, die Familie, die Schule – diese
unterschiedlichen Kreise konnten einen Puffer bilden», sagt Brunner. Heute sei
man 24 Stunden miteinander verbunden und damit auch permanent einer
potenziellen Mobbingkultur ausgesetzt.
Pro Juventute prüfe derzeit deshalb Möglichkeiten
zum Aufbau einer Allianz gegen Mobbing. Die Idee steht schon, mit
Bildungsinstitutionen und nationalen Akteuren. Akteure aus Politik und
Wirtschaft wurden noch nicht angefragt. Der Wunsch sei aber da, auch diese mit
einzubinden.
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