Dagmar Rösler, die oberste Lehrerin des Landes, führt die in der
Pisa-Studie festgestellte Leseschwäche nicht zuletzt darauf zurück, dass immer
mehr Kinder mit Migrationshintergrund die Schule besuchen. Sie fordert kleinere
Klassen.
"Für manche Kinder ist Gaming praktisch der zentrale Lebensinhalt", NZZ, 28.12. von Daniel Gerny und Erich Aschwanden
Frau Rösler, Ihre beiden Töchter sind 13 und 15 Jahre alt. Welche Bücher
lesen sie?
Die jüngere liest «Ostwind» – ein Buch über ein schwarzes Pferd. Und die
Ältere liest im Moment Jugendkrimis.
Also klassisch – so wie das bei uns damals war?
Es ist ja gut, dass bewährte Dinge weitergetragen werden. Ich muss
allerdings ehrlich sagen: Die Diskussionen über das Smartphone häufen sich auch
in unserer Familie. Zum Beispiel darüber, wann man es abstellt und wann
Nachtruhe herrscht.
Netflix zum Beispiel ist ein Dauerbrenner an vielen Familientischen.
Welche Regelungen haben Sie getroffen? Wie oft dürfen Ihre Töchter Netflix
schauen?
Wenn die Kinder in der Pubertät sind, wollen wir das nicht immer
kontrollieren müssen. Aber es braucht immer wieder Diskussionen und ein
Bewusstmachen über den Umgang mit dem Handy – auch in unserer Familie.
Die jüngste Pisa-Studie kommt zum Schluss, dass mehr als die Hälfte der
Kinder heute nicht mehr zum Vergnügen liest, weil Internet und Smartphone alles
verdrängen. Was beobachten Sie als Lehrerin?
Das ist so. Das Handy bietet sehr viel Ablenkung, am Smartphone läuft
immer etwas. Es wird zwar schon noch gelesen. Aber dieses herkömmliche Lesen –
sich hinzusetzen und sich während längerer Zeit ganz in ein Buch zu vertiefen:
Das verschwindet.
«Das Smartphone lenkt sehr stark ab. Immer blinkt und piepst etwas,
immer hat es neue Nachrichten.»
Dann scheinen Ihre Kinder eher zu einer Minderheit zu gehören. Was haben
sie also besser gemacht?
Ach, wissen Sie, auch unsere Mädchen könnten mehr lesen. Entscheidend
ist, was die Eltern den Kindern vorleben. Wenn die Kinder sehen, dass Mutter
und Vater lesen, und wenn in der Familie über Bücher geredet wird, bekommt das
Lesen automatisch einen Stellenwert. Natürlich sind auch wir mit unseren
Geräten beschäftigt, aber Bücher und Zeitungen gehören bei uns einfach auch
dazu.
Ist das Smartphone aus Ihrer Sicht als Lehrerin nur ein Fluch, oder
bringt es auch Positives?
Das Smartphone lenkt sehr stark ab. Immer blinkt und piepst etwas, immer
hat es neue Nachrichten. Viele Kinder haben Mühe, sich über längere Zeit zu
konzentrieren. Das betrifft nicht nur das Lernverhalten. Aber natürlich hat
das Smartphone auch positive Seiten: Ich beobachte beispielsweise, dass
Jugendliche viel selbstverständlicher mit dem Englischen umgehen: Sie schauen
viele Dokumentationen und Filme in der Originalsprache. Das wirkt sich auf den
Wortschatz und schliesslich auch auf die Schulnoten aus. Es wäre natürlich
schön, wenn das beim Französisch ebenfalls so wäre, aber so weit sind wir
leider noch nicht . . .
Welche Auswirkungen hat das Smartphone denn ganz konkret auf den
Schulunterricht?
Das kommt auf das Alter an. In der Primarschule dürfen es die Kinder gar
nicht mitnehmen, deshalb ist das dort kein grosses Thema.
Aber im Alltag der Kinder schon.
In diesem Alter ist das Gamen viel prägender. Für manche Kinder ist
Gaming praktisch der zentrale Lebensinhalt. Sie rennen nach der Schule sofort
nach Hause zu ihrer Konsole, statt draussen mit ihren Freundinnen und Freunden
zu spielen.
Und bei den älteren Kindern?
Über die negativen Folgen haben wir bereits gesprochen. In der
Sekundarschule kann man das Smartphone jedoch auch gut in den Unterricht
integrieren. Beispielsweise wenn es darum geht, etwas zu recherchieren oder ein
Interview aufzuzeichnen.
Die Pisa-Studie zeigt aber: Während für die Kinder das Smartphone immer
wichtiger wird, sagen offenbar viele Lehrpersonen, sie seien damit überfordert,
das Handy in den Unterricht zu integrieren. Wächst mit der Digitalisierung der
Gap zwischen den Generationen?
Ich sehe das nicht so. Lehrerinnen und Lehrer gehen mit dem Smartphone
ja meist ebenfalls selbstverständlich um. Aber die sinnvolle Integration dieser
Geräte in den Unterricht bleibt schwierig. Es ist ja weiterhin unsere Aufgabe,
den Kindern das herkömmliche Lesen und Schreiben beizubringen. Soziale
Kompetenzen oder die Fähigkeit, selbständig Lösungen zu finden, werden
zunehmend wichtiger. Jetzt kommt noch der Umgang mit dem Smartphone dazu. Diese
beiden Bereiche klug zu verbinden – darin besteht meines Erachtens die grosse
Herausforderung bei der Digitalisierung im Klassenzimmer.
Lehrerinnen und Lehrer gelten nicht unbedingt als innovativ. Sind sie
für diese Herausforderung überhaupt bereit?
Ja. Sämtliche Weiterbildungskurse, bei denen es um solche Fragen geht,
sind hoffnungslos überbucht. Das Bild des konservativen und
innovationsfeindlichen Lehrers, wie Sie es gerade zeichnen, ist ein Klischee. Die
meisten Lehrerinnen und Lehrer sehen sehr genau, dass sie um diese Thematik gar
nicht herumkommen. Sie wollen dabei sein. Sehr viele bilden sich selbständig
weiter. Natürlich gibt es immer noch einzelne Lehrpersonen, die mit der ganzen
Digitalisierung am liebsten nichts am Hut haben möchten. Aber diese Einstellung
finden Sie in allen Berufen.
Die Pisa-Studie zeigt auch, dass ohnehin schon lernschwächere Kinder
immer schlechter lesen können. Weshalb?
Das bereitet uns in der Tat grosse Sorgen. Die Studie zeigt aber
auch, dass wir gute bis sehr gute Resultate in den Fachbereichen Mathematik und
Naturwissenschaften vorzeigen können und eben leider nur durchschnittliche in
der Lesekompetenz. In der Tat – der Anteil der leseschwachen Jugendlichen ist
seit 2015 um 4 Prozentpunkte auf 24 Prozent gestiegen. Das heisst: Fast jedes
vierte Kind erreicht die Lernziele im Lesen nicht! Es gibt verschiedene
Ursachen, doch zeigt sich, dass vor allem fremdsprachige Kinder, die zu Hause
kein oder zu wenig Deutsch sprechen, Probleme haben.
Also ist es ein Migrationsproblem?
Ja, in erster Linie. In vielen Fällen kommt zu den vorhandenen
sprachlichen Defiziten hinzu, dass die Eltern keine Unterstützung leisten
oder leisten können. Dort, wo die Eltern die entsprechenden Fähigkeiten haben
und sich bemühen, stellt die Fremdsprachigkeit per se kein Problem dar. Es ist
aber auch ein kulturelles Problem.
Was meinen Sie damit?
Oft sind kulturelle Unterschiede vorhanden, die das Verständnis für
unsere Arbeit erschweren, obwohl es eigentlich alle gut meinen. Ausserdem ist
es eine Haltungsfrage: Wenn sich die Eltern nicht dafür interessieren, was in
der Schule läuft, oder zu Hause kein einziges Buch vorhanden ist, spürt man
dies auch im Unterricht. Kinder mit Migrationshintergrund entstammen
überdurchschnittlich einem eher bildungsfernen Milieu. Diese Mischung aus
sozioökonomischen und migrationsbedingten Faktoren wirkt sich besonders
nachteilig aus.
Was kann dagegen unternommen werden?
Wir stellen fest, dass die Kinder zunehmend bereits mit grossen
Defiziten in den Kindergarten kommen. Wir müssen also schon vorher Gegensteuer
geben und die sprachliche Frühförderung im Alter von einem bis vier Jahren
ausbauen.
Wie wollen Sie wissen, wer gefördert werden muss?
Das könnte beispielsweise über die Kinderärzte oder die Väter- und
Mütterberatung geschehen. Sie sehen die Kinder schon früh und regelmässig.
Alleine im Kanton Zürich befinden sich rund 30 000 Kinder im
Kindergarten. Ist gezielte sprachliche Frühförderung bei solchen Dimensionen
überhaupt möglich?
Wir kommen gar nicht darum herum. Zudem müssen ja längst nicht alle
gefördert werden. Wer allerdings am Anfang sprachlich hinterherhinkt, hat in
der Schule auch später weniger Chancen.
Wenn Sie sagen, es gehe nicht ohne gezielte Frühförderung, bedeutet das
ja auch: Die Schule ist heute mit den Problemen, die die Kinder von zu Hause
mitnehmen, überfordert.
Die Schule kann einfach nicht alles lösen, was in der Gesellschaft nicht
klappt, aber wir können versuchen, solche Probleme wettzumachen. Doch das ist
nicht einfach – zumal die Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer mit der
Einführung der integrativen Schule sowieso schon zugenommen haben. Früher hat
man Kinder, die besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung benötigten, in
Klein- oder Sonderklassen unterrichtet. Heute sind viele dieser Schülerinnen
und Schüler in der Regelklasse. Sie sehen also: Der Spannungsbogen aller
Kinder, die sich in einer Klasse befinden, ist in den letzten Jahren in jeder
Hinsicht viel grösser geworden. Das macht der Schule zu schaffen.
War die Einführung des integrativen Schulmodells ein Fehler?
Das integrative Schulmodell ist aus unserer Sicht der richtige Weg. Aber
in der Praxis ist es davon abhängig, wie die Rahmenbedingungen aussehen und wie
wir Lehrerinnen und Lehrer arbeiten können.
Sprich: Es kostet Geld.
Die Politik spielte mit dem Gedanken, mit der Einführung des
integrativen Modells Geld zu sparen. Dies, weil Klassen aufgehoben werden
können, wenn alle Schülerinnen und Schüler in die Regelschule gehen. Nun stellt
sich heraus, dass das so nicht funktioniert. Man darf die Klassenlehrerinnen
nicht allein lassen, indem man sagt, ihr habt ja noch die Heilpädagogen, die
euch drei Stunden in der Woche unterstützen. So einfach ist es eben nicht.
Welche Konsequenzen sind aus dieser Erkenntnis zu ziehen? Braucht es
mehr Geld oder die Rückkehr zu Kleinklassen in bestimmten Konstellationen?
So weh mir das tut: Es gibt weiterhin Kinder, die nicht in eine
Regelklasse integriert werden können, einfach weil sie viel enger betreut
werden müssen als ihre Alterskameraden. In einer Klasse mit über zwanzig
Schülern gehen sie unter. Hier stösst die Schule an ihre Grenzen. Hingegen
gibt es viele Schüler, die früher in einer Kleinklasse unterrichtet wurden und
nun davon profitieren, dass sie in einer Regelklasse sind.
Ein anderes höchst umstrittenes Thema ist das frühe Erlernen von
Fremdsprachen, also Frühenglisch und Frühfranzösisch. Sind wir da auf dem
richtigen Weg?
Bei diesem Thema wurden sicher falsche Erwartungen geschürt. Man kann
nicht davon ausgehen, dass alle Kinder beim Schulaustritt fliessend Französisch
sprechen, weil sie in der dritten Klasse damit begonnen haben. Wenn man jedoch
Kinder früh an eine andere Landessprache heranführen will und ihnen deren
Kultur vermittelt und die Freude an der Sprache wecken kann, dann ist dies
realistisch.
Das ist ein Plädoyer fürs Frühfranzösisch.
Nein, ein Plädoyer für eine Landessprache. In einigen Kantonen kann dies
auch Italienisch sein.
Aber Englisch soll nicht die erste Fremdsprache sein.
Die Ostschweiz sieht das etwas anders. Dort ist die welsche Schweiz
natürlich viel weiter weg als für mich als Solothurnerin oder für die Berner.
Doch wir sind nun einmal ein viersprachiges Land. Ich finde es daher wichtig,
dass diese Diskussion geführt wird.
Nun beklagen sich aber die Lehrer auf der Oberstufe, Frühfranzösisch
bringe überhaupt nichts. Die Schüler seien noch schlechter in Französisch als
früher.
Es war schon immer so, dass Lehrer auf der nächsthöheren Stufe moniert
haben, die Schülerinnen und Schüler, die zu ihnen kämen, seien schlechter als
früher. Das Problem bei den Fremdsprachen sind die Übergänge. Die Lehrer und
Lehrerinnen auf der Oberstufe müssen wissen, was die Kinder bisher gelernt
haben und worauf sie aufbauen können. Dazu kommt, dass die Oberstufe ihrerseits
durch die nächsthöhere Stufe unter Druck gerät – sprich Gymnasium oder
Berufsschule, die auch ein gewisses Leistungsniveau verlangen.
Also sind Sie zuversichtlich, was die frühen Fremdsprachen anbelangt.
Wir sind langsam, aber sicher auf einem guten Weg. Dies nach einem
schweren Start, für den auch die Lehrmittel mitverantwortlich waren. Es muss
für Lehrpersonen möglich sein, mehrere Lehrmittel zur Auswahl zu haben, um
möglichst gut auf die Bedingungen in der Klasse reagieren zu können.
In der Nordwestschweiz hat das umstrittene Lehrmittel «Mille feuilles»
für Aufregung gesorgt und in Baselland sogar eine Volksabstimmung provoziert.
Braucht es die Wahlfreiheit aus Sicht der Lehrer?
Es geht hier nicht um Wahlfreiheit, sondern um eine Auswahl von
Lehrmitteln, die gemäss Lehrplan zur Verfügung gestellt werden, damit
Lehrerinnen und Lehrern mehr Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Nicht jedes Lehrmittel eignet sich für jede Klasse gleich gut. Eine totale
Wahlfreiheit ist nicht sinnvoll, das würde ja noch mehr Absprachen zwischen den
verschiedenen Schulstufen bedingen. Doch es braucht eine grössere Auswahl,
einen Katalog von Lehrmitteln, aus denen die Lehrpersonen auswählen können.
Doch selbst wenn dies das Frühfranzösisch beziehungsweise das
Frühdeutsch noch so fördert: Die Realität sieht doch so aus, dass Kinder aus
der Deutschschweiz und der Romandie untereinander Englisch reden.
Französisch verliert leider unter den Jugendlichen an Bedeutung. Schon
in der Primarstufe gilt diese Sprache rasch als uncool. Dagegen gilt Englisch
als trendy, weil die meisten Lieder und viele Filme, die die Jugendlichen
konsumieren, Englisch sind.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Der Austausch über die Sprachgrenzen muss gefördert werden, und das
passiert auch. Ich war vor kurzem an einer Tagung mit dem Titel «Oser
l’échange». Unter Führung von Movetia, der Nationalen Agentur für Austausch und
Mobilität, und ProfilQ, der Allianz zur gemeinsamen Förderung und Entwicklung
von Schul- und Unterrichtsqualität, haben sich in Biel zahlreiche Lehrerinnen
und Lehrer aus der welschen und der deutschen Schweiz getroffen. Von den rund
200 Teilnehmern kamen auch viele aus der Ostschweiz. Am runden Tisch wurde über
den Austausch von Klassen gesprochen, Konzepte und Adressen wurden ausgetauscht
und vielleicht auch neue Partnerklassen gefunden. Das ist ein wichtiger Schritt
in die richtige Richtung.
Wir haben nun viel über neue Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler
und den Trend zur Vermessung gesprochen. Wie wirkt sich dieser steigende
Leistungsdruck im Klassenzimmer aus?
Es gibt Schüler, die mit diesem Druck recht locker umgehen. Andere
verzweifeln, wenn sie in einem Test eine Fünf erreichen. Manchmal kommt der
Druck auch von den Eltern. Doch das sind Einzelfälle. Rund 80 Prozent der
Eltern sind «critical friends» der Lehrer, die uns also wohlgesinnt sind. Auf
der anderen Seite gibt es auch die Mütter und Väter, die schon in der dritten
Klasse fragen, ob ihr Kind den Sprung ins Gymnasium schaffen wird. In diesem
Punkt spürt man, dass Eltern ihrerseits unter Druck stehen.
Wie spüren Sie das ganz konkret?
Die Art und Weise, wie Eltern ihren Einfluss geltend machen, ist härter
geworden. Heutzutage drohen Eltern schnell einmal mit juristischen Schritten,
wenn ihr Kind an der Volksschule nicht reüssiert.
Welche Rolle spielen für den steigenden Leistungsdruck und die Häufung
der Probleme im Schulzimmer die zunehmenden Klassengrössen?
Dieses Thema brennt uns Lehrerinnen und Lehrern stark unter den Nägeln.
Bisher wurde von Bildungspolitikern immer wieder behauptet, es spiele keine
Rolle, ob jemand beispielsweise mit 24 oder nur 17 Mitschülern im Schulzimmer
sitze. Doch je mehr Schülerinnen und Schüler in einer Klasse sitzen, desto
weniger Zeit kann man für den Einzelnen aufwenden. Das zeigt nun erstmals eine
Studie aus Deutschland. Demzufolge ist es sehr relevant für die Leistung, ob man
in einer grossen oder einer kleineren Klasse unterrichtet wird.
Steckt da nicht Wunschdenken dahinter? Die Kantone müssen sparen, und es
zeichnet sich ein Lehrermangel ab.
Es ist uns natürlich bewusst, dass es in Zeiten des Lehrermangels
schwierig ist, die Klassen zu verkleinern. Wir werden immer wieder darauf
hinweisen, dass die Schweiz sich ins eigene Fleisch schneidet, wenn sie auf
diese Weise Geld sparen will. Die ständig steigenden Anforderungen können nicht
mit ständig wachsenden Klassen bewältigt werden.
Ab wann ist für Sie die Obergrenze bei der Klassengrösse erreicht?
Ab zwanzig Schülerinnen und Schülern.
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