28. Dezember 2019

Rösler: "Leseschwäche ist ein Migrationsproblem"


Dagmar Rösler, die oberste Lehrerin des Landes, führt die in der Pisa-Studie festgestellte Leseschwäche nicht zuletzt darauf zurück, dass immer mehr Kinder mit Migrationshintergrund die Schule besuchen. Sie fordert kleinere Klassen.
"Für manche Kinder ist Gaming praktisch der zentrale Lebensinhalt", NZZ, 28.12. von Daniel Gerny und Erich Aschwanden


Frau Rösler, Ihre beiden Töchter sind 13 und 15 Jahre alt. Welche Bücher lesen sie?
Die jüngere liest «Ostwind» – ein Buch über ein schwarzes Pferd. Und die Ältere liest im Moment Jugendkrimis. 

Also klassisch – so wie das bei uns damals war?
Es ist ja gut, dass bewährte Dinge weitergetragen werden. Ich muss allerdings ehrlich sagen: Die Diskussionen über das Smartphone häufen sich auch in unserer Familie. Zum Beispiel darüber, wann man es abstellt und wann Nachtruhe herrscht.

Netflix zum Beispiel ist ein Dauerbrenner an vielen Familientischen. Welche Regelungen haben Sie getroffen? Wie oft dürfen Ihre Töchter Netflix schauen?
Wenn die Kinder in der Pubertät sind, wollen wir das nicht immer kontrollieren müssen. Aber es braucht immer wieder Diskussionen und ein Bewusstmachen über den Umgang mit dem Handy – auch in unserer Familie.

Die jüngste Pisa-Studie kommt zum Schluss, dass mehr als die Hälfte der Kinder heute nicht mehr zum Vergnügen liest, weil Internet und Smartphone alles verdrängen. Was beobachten Sie als Lehrerin?
Das ist so. Das Handy bietet sehr viel Ablenkung, am Smartphone läuft immer etwas. Es wird zwar schon noch gelesen. Aber dieses herkömmliche Lesen – sich hinzusetzen und sich während längerer Zeit ganz in ein Buch zu vertiefen: Das verschwindet.
«Das Smartphone lenkt sehr stark ab. Immer blinkt und piepst etwas, immer hat es neue Nachrichten.»

Dann scheinen Ihre Kinder eher zu einer Minderheit zu gehören. Was haben sie also besser gemacht?
Ach, wissen Sie, auch unsere Mädchen könnten mehr lesen. Entscheidend ist, was die Eltern den Kindern vorleben. Wenn die Kinder sehen, dass Mutter und Vater lesen, und wenn in der Familie über Bücher geredet wird, bekommt das Lesen automatisch einen Stellenwert. Natürlich sind auch wir mit unseren Geräten beschäftigt, aber Bücher und Zeitungen gehören bei uns einfach auch dazu.

Ist das Smartphone aus Ihrer Sicht als Lehrerin nur ein Fluch, oder bringt es auch Positives?
Das Smartphone lenkt sehr stark ab. Immer blinkt und piepst etwas, immer hat es neue Nachrichten. Viele Kinder haben Mühe, sich über längere Zeit zu konzentrieren. Das betrifft nicht nur das Lernverhalten. Aber natürlich hat das Smartphone auch positive Seiten: Ich beobachte beispielsweise, dass Jugendliche viel selbstverständlicher mit dem Englischen umgehen: Sie schauen viele Dokumentationen und Filme in der Originalsprache. Das wirkt sich auf den Wortschatz und schliesslich auch auf die Schulnoten aus. Es wäre natürlich schön, wenn das beim Französisch ebenfalls so wäre, aber so weit sind wir leider noch nicht . . .

Welche Auswirkungen hat das Smartphone denn ganz konkret auf den Schulunterricht?
Das kommt auf das Alter an. In der Primarschule dürfen es die Kinder gar nicht mitnehmen, deshalb ist das dort kein grosses Thema.

Aber im Alltag der Kinder schon.
In diesem Alter ist das Gamen viel prägender. Für manche Kinder ist Gaming praktisch der zentrale Lebensinhalt. Sie rennen nach der Schule sofort nach Hause zu ihrer Konsole, statt draussen mit ihren Freundinnen und Freunden zu spielen.

Und bei den älteren Kindern?
Über die negativen Folgen haben wir bereits gesprochen. In der Sekundarschule kann man das Smartphone jedoch auch gut in den Unterricht integrieren. Beispielsweise wenn es darum geht, etwas zu recherchieren oder ein Interview aufzuzeichnen.

Die Pisa-Studie zeigt aber: Während für die Kinder das Smartphone immer wichtiger wird, sagen offenbar viele Lehrpersonen, sie seien damit überfordert, das Handy in den Unterricht zu integrieren. Wächst mit der Digitalisierung der Gap zwischen den Generationen?
Ich sehe das nicht so. Lehrerinnen und Lehrer gehen mit dem Smartphone ja meist ebenfalls selbstverständlich um. Aber die sinnvolle Integration dieser Geräte in den Unterricht bleibt schwierig. Es ist ja weiterhin unsere Aufgabe, den Kindern das herkömmliche Lesen und Schreiben beizubringen. Soziale Kompetenzen oder die Fähigkeit, selbständig Lösungen zu finden, werden zunehmend wichtiger. Jetzt kommt noch der Umgang mit dem Smartphone dazu. Diese beiden Bereiche klug zu verbinden – darin besteht meines Erachtens die grosse Herausforderung bei der Digitalisierung im Klassenzimmer.

Lehrerinnen und Lehrer gelten nicht unbedingt als innovativ. Sind sie für diese Herausforderung überhaupt bereit?
Ja. Sämtliche Weiterbildungskurse, bei denen es um solche Fragen geht, sind hoffnungslos überbucht. Das Bild des konservativen und innovationsfeindlichen Lehrers, wie Sie es gerade zeichnen, ist ein Klischee. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer sehen sehr genau, dass sie um diese Thematik gar nicht herumkommen. Sie wollen dabei sein. Sehr viele bilden sich selbständig weiter. Natürlich gibt es immer noch einzelne Lehrpersonen, die mit der ganzen Digitalisierung am liebsten nichts am Hut haben möchten. Aber diese Einstellung finden Sie in allen Berufen.

Die Pisa-Studie zeigt auch, dass ohnehin schon lernschwächere Kinder immer schlechter lesen können. Weshalb?
Das bereitet uns in der Tat grosse Sorgen. Die Studie zeigt aber auch, dass wir gute bis sehr gute Resultate in den Fachbereichen Mathematik und Naturwissenschaften vorzeigen können und eben leider nur durchschnittliche in der Lesekompetenz. In der Tat – der Anteil der leseschwachen Jugendlichen ist seit 2015 um 4 Prozentpunkte auf 24 Prozent gestiegen. Das heisst: Fast jedes vierte Kind erreicht die Lernziele im Lesen nicht! Es gibt verschiedene Ursachen, doch zeigt sich, dass vor allem fremdsprachige Kinder, die zu Hause kein oder zu wenig Deutsch sprechen, Probleme haben. 

Also ist es ein Migrationsproblem?
Ja, in erster Linie. In vielen Fällen kommt zu den vorhandenen sprachlichen Defiziten hinzu, dass die Eltern keine Unterstützung leisten oder leisten können. Dort, wo die Eltern die entsprechenden Fähigkeiten haben und sich bemühen, stellt die Fremdsprachigkeit per se kein Problem dar. Es ist aber auch ein kulturelles Problem.

Was meinen Sie damit?
Oft sind kulturelle Unterschiede vorhanden, die das Verständnis für unsere Arbeit erschweren, obwohl es eigentlich alle gut meinen. Ausserdem ist es eine Haltungsfrage: Wenn sich die Eltern nicht dafür interessieren, was in der Schule läuft, oder zu Hause kein einziges Buch vorhanden ist, spürt man dies auch im Unterricht. Kinder mit Migrationshintergrund entstammen überdurchschnittlich einem eher bildungsfernen Milieu. Diese Mischung aus sozioökonomischen und migrationsbedingten Faktoren wirkt sich besonders nachteilig aus.

Was kann dagegen unternommen werden?
Wir stellen fest, dass die Kinder zunehmend bereits mit grossen Defiziten in den Kindergarten kommen. Wir müssen also schon vorher Gegensteuer geben und die sprachliche Frühförderung im Alter von einem bis vier Jahren ausbauen. 

Wie wollen Sie wissen, wer gefördert werden muss?
Das könnte beispielsweise über die Kinderärzte oder die Väter- und Mütterberatung geschehen. Sie sehen die Kinder schon früh und regelmässig.

Alleine im Kanton Zürich befinden sich rund 30 000 Kinder im Kindergarten. Ist gezielte sprachliche Frühförderung bei solchen Dimensionen überhaupt möglich?
Wir kommen gar nicht darum herum. Zudem müssen ja längst nicht alle gefördert werden. Wer allerdings am Anfang sprachlich hinterherhinkt, hat in der Schule auch später weniger Chancen.

Wenn Sie sagen, es gehe nicht ohne gezielte Frühförderung, bedeutet das ja auch: Die Schule ist heute mit den Problemen, die die Kinder von zu Hause mitnehmen, überfordert.
Die Schule kann einfach nicht alles lösen, was in der Gesellschaft nicht klappt, aber wir können versuchen, solche Probleme wettzumachen. Doch das ist nicht einfach – zumal die Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer mit der Einführung der integrativen Schule sowieso schon zugenommen haben. Früher hat man Kinder, die besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung benötigten, in Klein- oder Sonderklassen unterrichtet. Heute sind viele dieser Schülerinnen und Schüler in der Regelklasse. Sie sehen also: Der Spannungsbogen aller Kinder, die sich in einer Klasse befinden, ist in den letzten Jahren in jeder Hinsicht viel grösser geworden. Das macht der Schule zu schaffen.

War die Einführung des integrativen Schulmodells ein Fehler?
Das integrative Schulmodell ist aus unserer Sicht der richtige Weg. Aber in der Praxis ist es davon abhängig, wie die Rahmenbedingungen aussehen und wie wir Lehrerinnen und Lehrer arbeiten können.

Sprich: Es kostet Geld.
Die Politik spielte mit dem Gedanken, mit der Einführung des integrativen Modells Geld zu sparen. Dies, weil Klassen aufgehoben werden können, wenn alle Schülerinnen und Schüler in die Regelschule gehen. Nun stellt sich heraus, dass das so nicht funktioniert. Man darf die Klassenlehrerinnen nicht allein lassen, indem man sagt, ihr habt ja noch die Heilpädagogen, die euch drei Stunden in der Woche unterstützen. So einfach ist es eben nicht.

Welche Konsequenzen sind aus dieser Erkenntnis zu ziehen? Braucht es mehr Geld oder die Rückkehr zu Kleinklassen in bestimmten Konstellationen?
So weh mir das tut: Es gibt weiterhin Kinder, die nicht in eine Regelklasse integriert werden können, einfach weil sie viel enger betreut werden müssen als ihre Alterskameraden. In einer Klasse mit über zwanzig Schülern gehen sie unter. Hier stösst die Schule an ihre Grenzen. Hingegen gibt es viele Schüler, die früher in einer Kleinklasse unterrichtet wurden und nun davon profitieren, dass sie in einer Regelklasse sind. 

Ein anderes höchst umstrittenes Thema ist das frühe Erlernen von Fremdsprachen, also Frühenglisch und Frühfranzösisch. Sind wir da auf dem richtigen Weg?
Bei diesem Thema wurden sicher falsche Erwartungen geschürt. Man kann nicht davon ausgehen, dass alle Kinder beim Schulaustritt fliessend Französisch sprechen, weil sie in der dritten Klasse damit begonnen haben. Wenn man jedoch Kinder früh an eine andere Landessprache heranführen will und ihnen deren Kultur vermittelt und die Freude an der Sprache wecken kann, dann ist dies realistisch.

Das ist ein Plädoyer fürs Frühfranzösisch.
Nein, ein Plädoyer für eine Landessprache. In einigen Kantonen kann dies auch Italienisch sein.

Aber Englisch soll nicht die erste Fremdsprache sein.
Die Ostschweiz sieht das etwas anders. Dort ist die welsche Schweiz natürlich viel weiter weg als für mich als Solothurnerin oder für die Berner. Doch wir sind nun einmal ein viersprachiges Land. Ich finde es daher wichtig, dass diese Diskussion geführt wird.

Nun beklagen sich aber die Lehrer auf der Oberstufe, Frühfranzösisch bringe überhaupt nichts. Die Schüler seien noch schlechter in Französisch als früher.
Es war schon immer so, dass Lehrer auf der nächsthöheren Stufe moniert haben, die Schülerinnen und Schüler, die zu ihnen kämen, seien schlechter als früher. Das Problem bei den Fremdsprachen sind die Übergänge. Die Lehrer und Lehrerinnen auf der Oberstufe müssen wissen, was die Kinder bisher gelernt haben und worauf sie aufbauen können. Dazu kommt, dass die Oberstufe ihrerseits durch die nächsthöhere Stufe unter Druck gerät – sprich Gymnasium oder Berufsschule, die auch ein gewisses Leistungsniveau verlangen.

Also sind Sie zuversichtlich, was die frühen Fremdsprachen anbelangt.
Wir sind langsam, aber sicher auf einem guten Weg. Dies nach einem schweren Start, für den auch die Lehrmittel mitverantwortlich waren. Es muss für Lehrpersonen möglich sein, mehrere Lehrmittel zur Auswahl zu haben, um möglichst gut auf die Bedingungen in der Klasse reagieren zu können. 

In der Nordwestschweiz hat das umstrittene Lehrmittel «Mille feuilles» für Aufregung gesorgt und in Baselland sogar eine Volksabstimmung provoziert. Braucht es die Wahlfreiheit aus Sicht der Lehrer?
Es geht hier nicht um Wahlfreiheit, sondern um eine Auswahl von Lehrmitteln, die gemäss Lehrplan zur Verfügung gestellt werden, damit Lehrerinnen und Lehrern mehr Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Nicht jedes Lehrmittel eignet sich für jede Klasse gleich gut. Eine totale Wahlfreiheit ist nicht sinnvoll, das würde ja noch mehr Absprachen zwischen den verschiedenen Schulstufen bedingen. Doch es braucht eine grössere Auswahl, einen Katalog von Lehrmitteln, aus denen die Lehrpersonen auswählen können.

Doch selbst wenn dies das Frühfranzösisch beziehungsweise das Frühdeutsch noch so fördert: Die Realität sieht doch so aus, dass Kinder aus der Deutschschweiz und der Romandie untereinander Englisch reden.
Französisch verliert leider unter den Jugendlichen an Bedeutung. Schon in der Primarstufe gilt diese Sprache rasch als uncool. Dagegen gilt Englisch als trendy, weil die meisten Lieder und viele Filme, die die Jugendlichen konsumieren, Englisch sind.

Wie kann man dem entgegenwirken?
Der Austausch über die Sprachgrenzen muss gefördert werden, und das passiert auch. Ich war vor kurzem an einer Tagung mit dem Titel «Oser l’échange». Unter Führung von Movetia, der Nationalen Agentur für Austausch und Mobilität, und ProfilQ, der Allianz zur gemeinsamen Förderung und Entwicklung von Schul- und Unterrichtsqualität, haben sich in Biel zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer aus der welschen und der deutschen Schweiz getroffen. Von den rund 200 Teilnehmern kamen auch viele aus der Ostschweiz. Am runden Tisch wurde über den Austausch von Klassen gesprochen, Konzepte und Adressen wurden ausgetauscht und vielleicht auch neue Partnerklassen gefunden. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. 

Wir haben nun viel über neue Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler und den Trend zur Vermessung gesprochen. Wie wirkt sich dieser steigende Leistungsdruck im Klassenzimmer aus?
Es gibt Schüler, die mit diesem Druck recht locker umgehen. Andere verzweifeln, wenn sie in einem Test eine Fünf erreichen. Manchmal kommt der Druck auch von den Eltern. Doch das sind Einzelfälle. Rund 80 Prozent der Eltern sind «critical friends» der Lehrer, die uns also wohlgesinnt sind. Auf der anderen Seite gibt es auch die Mütter und Väter, die schon in der dritten Klasse fragen, ob ihr Kind den Sprung ins Gymnasium schaffen wird. In diesem Punkt spürt man, dass Eltern ihrerseits unter Druck stehen.

Wie spüren Sie das ganz konkret?
Die Art und Weise, wie Eltern ihren Einfluss geltend machen, ist härter geworden. Heutzutage drohen Eltern schnell einmal mit juristischen Schritten, wenn ihr Kind an der Volksschule nicht reüssiert.

Welche Rolle spielen für den steigenden Leistungsdruck und die Häufung der Probleme im Schulzimmer die zunehmenden Klassengrössen?
Dieses Thema brennt uns Lehrerinnen und Lehrern stark unter den Nägeln. Bisher wurde von Bildungspolitikern immer wieder behauptet, es spiele keine Rolle, ob jemand beispielsweise mit 24 oder nur 17 Mitschülern im Schulzimmer sitze. Doch je mehr Schülerinnen und Schüler in einer Klasse sitzen, desto weniger Zeit kann man für den Einzelnen aufwenden. Das zeigt nun erstmals eine Studie aus Deutschland. Demzufolge ist es sehr relevant für die Leistung, ob man in einer grossen oder einer kleineren Klasse unterrichtet wird.

Steckt da nicht Wunschdenken dahinter? Die Kantone müssen sparen, und es zeichnet sich ein Lehrermangel ab.
Es ist uns natürlich bewusst, dass es in Zeiten des Lehrermangels schwierig ist, die Klassen zu verkleinern. Wir werden immer wieder darauf hinweisen, dass die Schweiz sich ins eigene Fleisch schneidet, wenn sie auf diese Weise Geld sparen will. Die ständig steigenden Anforderungen können nicht mit ständig wachsenden Klassen bewältigt werden.

Ab wann ist für Sie die Obergrenze bei der Klassengrösse erreicht?
Ab zwanzig Schülerinnen und Schülern.


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