Von den«Abgehängten»ist jetzt
häufig die Rede in soziologischen Untersuchungen und sorgenvollen Leitartikeln. Von
denen, die den Anschluss an die Gesellschaft verlorenhaben–Geringverdiener,
die in entvölkerten Landstrichen leben und empfänglich sind für
die billigen Parolen populistischer Rattenfänger. Die neuen Ergebnisse der
Pisa-Studie–alarmierend nicht nur, aber auch für die Schweiz–
dürften die Aufmerksamkeit auf eine andere Art des
Abgehängtseins lenken. Sie hat ihre Ursache nicht in Niedriglöhnen oder einer nicht
vorhandenen Verkehrsanbindung,sondern in mangelnder Lesekompetenz.
Wer nicht liest, ist abgehängt, Basler Zeitung, 4.12. von Martin Ebel
Ein Viertel der künftigen
Stimmbürger ist betroffen Die Betroffenen sind zwar keine
Analphabeten, aber sie sind nicht in der Lage, das Gelesene auch
zu verstehen.Sie wissen oft nicht einmal, was ein Text an Informationen enthält –
geschweige denn, was für Zwecke der Verfasser damit verfolgt. Und schon gar nicht sind
sie fähig, sich zu diesem Text zu verhalten–zustimmend oder kritisch.
Jeder vierte 15-jährige Schüler in der Schweiz hat diese Fähigkeiten nicht, sagt
die neue PisaStudie. Also ein Viertel der künftigen Stimmbürger, Arbeitskräfte, Familienväter
oder -mütter. Sie werden Abstimmungsunterlagen nicht verstehen,
Sicherheitsbestimmungen, Zeitungsartikel, Arbeitsanweisungen. Was für eine Rolle
können sie spielen in der Gesellschaft, was für Staatsbürger können das sein?Und was
für eine Gesellschaft wird das sein, in der ein beträchtlicher Teil gar
nicht versteht, worum es geht?
Information und Propaganda nicht zu unterscheiden
Wer
nicht versteht, was er liest, weil er nicht richtig lesen kann, der kann
zwischen Fakten, Meinungen oder Fakes nicht unterscheiden. Dem ist Information,
Werbung und Propaganda Jacke wie Hose. Der ist
Manipulationen aller Art wehrlos ausgesetzt. Demokratie ist die beste Staatsform,
aber auch die anspruchsvollste. Damit sie funktioniert, braucht sie mündige
Bürger. Mündigkeit stellt sich durch Bildung und Erfahrung her. Die wichtigste
Quelle dafür ist die Lektüre. Nicht nur von Sachtexten, wohlgemerkt. Der
informierte Mensch ist nur der halbe Mensch. Es ist die Literatur, die ihn aus
der eigenen Begrenztheit herausführt. In andere Köpfe, andere Seelen und Gemüter.
Die ihn empfänglich macht für das Leid und die Freude, die Sorgen und
Interessen anderer Menschen. Perspektivwechsel, Einfühlung,
Empathie:Das vermittelt Literatur. Sie bildet die Persönlichkeit
und bereichert sie kontinuierlich, ein Leben lang. Wem dieser Zugang zum
Innern anderer Menschen versperrt bleibt, der ist arm dran. Arm an Wissen, arm an
Empfindung. Wer nicht lesen kann, der ist wirklich abgehängt. Ein Viertel
Abgehängter–das kann sich die Schweiz nicht leisten, nicht politisch, nicht
wirtschaftlich, nicht menschlich.
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