23. November 2019

Ohrenschützer statt Schulbücher


Noch vor wenigen Tagen hielt ich Pamir für ein Hochgebirge in Zentralasien. Das „Dach der Welt“. Angrenzend an ferne Länder wie Kirgisistan, China, Afghanistan und Tadschikistan.
Dann las ich im Klatsch einer Wochenend-Gazette, dass sich der Aargauer Nationalrat Cédric Wermuth auf die kommende Legislatur Kopfhörer der neuesten Generation zulegen wolle. „Der Lärm macht dich sonst fertig“, liess der Parlamentarier und einer der Favoriten für das SP-Parteipräsidium, seine Twitter-Gemeinde wissen.
Ohrenschützer statt Schulbücher, Basler Zeitung, 22.11. von Roland Stark
Diese Ankündigung kommt nun allerdings nicht überraschend. Eine Studie des Parlamentsdienstes im Bundeshaus kommt zum Schluss, dass die Konzentration bei solch lauten Geräuschen – im Schnitt rund 70 Dezibel (dB) – nicht über längere Zeit aufrechterhalten werden könne. Das Arbeitsgesetz legt für „überwiegend geistige Tätigkeiten“ einen Grenzwert von 50 dB , für „allgemeine Bürotätigkeiten“ einen von 65 dB fest. Geräusche ab 85 dB gelten bei langanhaltender oder häufig wiederholter Einwirkung als schädlich.

Unterdessen habe ich mich über die marktüblichen Schutzmassnahmen gegen die Lärmplage kundig gemacht. Als dienstuntauglich gestempelter Zivilist bin ich über die persönliche Ausrüstung eines Soldaten in der Schweizer Armee nur unzureichend informiert. Neben den Waffen gehören dazu offenbar noch weitere Hilfsmittel wie das Armeemesser und eine Feldflasche. Darüber hinaus zählt auch der Pamir zur Ausstattung eines jeden Soldaten. Dabei handelt es sich um einen kleinen Gehörschutz, den die Soldaten in Situationen mit hoher Lärmbelastung verwenden können. Je nach Kaliber erzeugt der Schuss einer Pistole oder eines Gewehres zwischen 130 und 150 Dezibel. Auch der Start eines Düsenflugzeuges verursacht Lärm in dieser Grössenordnung.

Vergleichbare Probleme mit Krach treten in zunehmend alarmierendem Ausmass auch an unseren Schulen auf. „In Schulklassen ist es oft so laut, dass konzentriertes Lernen und Lehrern nicht mehr möglich ist. Nicht nur Lehrer, sondern auch die Schülerinnen und Schüler haben dann Mühe, sich auf den Unterricht zu konzentrieren und sie sind schneller abgelenkt und gestresst“, lesen wir in einem Merkblatt des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes Basel-Stadt.

Das Gesundheitsdepartement leiht deshalb kostenlos sogenannte Lernampeln aus. An dem Gerät kann die Lärmstufe eingestellt werden. Sie springt auf gelb oder rot, wenn die Klasse zu laut ist.

An der Ampel sind die Lärmstufen 1-7 voreingestellt, so dass für jede Lernsituation die angemessene Lautstärkeeinstellung gewählt werden kann. 50-60 dB für Stillarbeit (Stufe 1) oder 70-80 dB für normale Geräusche (Stufe 4).

Die Lärmampel informiert über den Geräuschpegel und macht Lärm sichtbar. Zwar könne die Lautstärke im Raum dadurch kaum gesenkt werden, immerhin aber würde die Sensibilität für das Thema erhöht.

Angesichts dieser unerfreulichen Entwicklung wundert es eigentlich niemanden, dass das Allzweckmittel Pamir auch in den Schulzimmern Einzug gehalten hat. „Auch in Basel werden Primar- und Sekundarschüler mit einem Gehörschutz ausgerüstet. Der Konzentrationsverstärker wird vor allem in der Stillarbeitsphase eingesetzt“, teilt uns Jean-Michel Héritier, der Präsident der Freiwilligen Schulsynode Basel-Stadt mit.

Ein Fünftel mehr Kinder-Ohrenschützer hat der Internethändler „Gehoerschutz-shop.ch in den ersten neun Monaten 2019 verglichen mit dem Vorjahr verkauft. Die Bestellungen kommen zum grössten Teil von Schulen. („Sonntagszeitung“, 20.10.2019)

Die Probleme, da gibt es nichts zu beschönigen, sind im Wesentlichen hausgemacht. Die wohlklingenden Versprechungen der Schulreformer sind nicht erfüllt worden, vielfach haben sie in einem bildungspolitischen Desaster geendet. Das Konzept „Gemeinsam lernen“ (um jeden Preis), unabhängig von Behinderungen, Lernproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten bringt in der Praxis das Schulsystem an seine Grenzen. „Die Wahrheit liegt auf dem Platz“ würde der Fussballlehrer Otto Rehhagel wohl dazu bemerken.

„Die Debatte um die schulische Inklusion hat religiöse Züge angenommen“, schreibt Ewald Kiel, Ordinarius für Schulpädagogik an der LMU München. „Skepsis und Erkenntnisse, die den Erfolg in Zweifel ziehen können, werden ignoriert oder nur am Rande behandelt. Das schadet am Ende der Sache selbst.“ Abweichler von der reinen Lehre seien einfach noch nicht so weit, heisst es verächtlich, oder sie müssten noch Trauerarbeit über den Verlust der ihnen bekannten (nicht-inklusiven) Welt leisten. Ein Vorwurf, der auch Basler Heilpädagogen bekannt vorkommen dürfte.

Für die unliebsamen Folgen ist dann nicht mehr das Erziehungs- sondern das Gesundheitsdepartement zuständig.

Für Lernampeln und Ohrenschützer ist Geld da. Für Schulbücher nicht.

„Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ (Hamlet)




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