Schülerinnen
und Schüler von gutsituierten Eltern haben in der Schule Vorteile – unabhängig
von ihren Fähigkeiten. Die Erziehungs- und Bildungsforscherin Margrit Stamm
plädiert für die gezielte Frühförderung: «Bei Kindern, die kein oder kaum
Deutsch können, müssen wir viel rascher aktiv werden.»
Stamm: Deutsche Sprache ist das Tor zur Bildung. Bild: Annick Ramp
"Push-Eltern beeinflussen die Lehrpersonen. Wir müssen ihr Mitspracherecht beschneiden", NZZ, 7.11. von Daniel Gerny und Erich Aschwanden
Frau Stamm, die Schweiz hat eines der besten Bildungssysteme, doch eine
Konstante besteht seit Jahren: Wenn Schülerinnen und Schüler bereits beim
Schuleintritt einen Rückstand aufweisen, können sie diesen kaum mehr aufholen.
Weshalb versagt die Schule hier?
Die Rückstände werden im Verlaufe der Schulzeit teilweise sogar grösser.
Vielfach bestehen beim Eintritt in den Kindergarten riesige sprachliche
Defizite und ein grosser Mangel an sozial-emotionalen Kompetenzen. Die
Ausgangslage ist damit von Beginn an sehr ungünstig. Schnell reiht sich für
diese Kinder Misserfolg an Misserfolg, und mit jeder neuen Bildungsstufe wird
der Gap grösser. Hinzu kommt ein zweiter Effekt: Kinder aus gutsituierten
Familien profitieren vom Bildungsangebot weitaus stärker. Mit anderen Worten:
Wer hat, dem wird gegeben, während der Abstand bei schwächeren Kindern wächst.
Und wie liessen sich solche Unterschiede ausgleichen?
Ganz ausgleichen lassen sie sich nicht. Um sie zu verringern, muss man
viel früher ansetzen, als dies heute der Fall ist.
Das heisst, die Einschulung im Alter von vier Jahren kommt aus Ihrer
Sicht zu spät?
Nicht unbedingt – für viele Kinder kommt die Einschulung sogar zu früh.
Bei Kindern jedoch, die kein oder kaum Deutsch können, müssen wir viel rascher
aktiv werden. Für solche Kinder sind Sprachkurse vor dem Schuleintritt nötig,
also schon im Alter von drei Jahren. Der Kanton Basel-Stadt gilt als
Vorzeigemodell und macht damit gute Erfahrungen.
Dort sind solche Sprachkurse sogar obligatorisch. Ist das der richtige
Weg?
Das ist eine politische Frage. Wichtig ist, dass es systematisch
geschieht. In Basel erhalten alle Eltern frühzeitig einen Fragebogen in zwölf
unterschiedlichen Sprachen. Der Rücklauf beträgt 99 Prozent, und 40 Prozent
aller Kinder erhalten eine Sprachförderung.
Daran, dass Kinder mit Migrationshintergrund schlechtere Chancen haben,
hat sich dennoch nichts grundsätzlich geändert.
Aber die Unterschiede sind geringer geworden. Der Erfolg ist eindeutig –
besonders, wenn man mit Kantonen vergleicht, die nichts tun. Mehr ist mit zwei
Wochenstunden über einen bestimmten Zeitraum auch nicht zu erreichen.
Eigentlich müssten auch die Eltern in die Sprachförderung einbezogen werden und
Deutsch lernen. Sonst bewegen sich die Kinder weiterhin in einer Umgebung, in
der Deutsch kein Thema ist. Doch die deutsche Sprache ist in der Deutschschweiz
das Tor zur Bildung.
In den letzten Jahren sind viele Flüchtlingsfamilien in die Schweiz
gekommen. Inwiefern verschärft dies das Problem?
Bei Flüchtlingskindern kommt ausser dem Sprachproblem oft auch noch eine
Traumatisierung hinzu. Wenn es für solche Kinder keine spezifischen Massnahmen
gibt, liegen die Verantwortung und die Last am Schluss ganz einfach bei den
Lehrpersonen. Das geht rasch auf Kosten aller Schülerinnen und Schüler. Deshalb
ist es so falsch, in diesem Bereich zu sparen.
Welche Rolle spielt es, dass Schüler mit Migrationshintergrund oft im
selben Quartier wohnen und zusammen in der Schule sind, während bildungsnahe
Familien anderswo wohnen?
Das ist ein ganz erheblicher Nachteil: Gut gebildete Paare, bei denen
beide arbeiten, mögen typischerweise lebendige und multikulturelle Quartiere.
Doch nur, solange sie zu zweit sind. Sobald Kinder da sind, zügeln sie in
andere Stadtteile, in denen fast nur noch Familien mit ähnlicher Bildung und
ähnlicher Einstellung wohnen. Die Kinder werden dort von ihren Eltern gezielt
gefördert. Manche Eltern achten sogar darauf, dass ihre Kinder mit adäquaten
Freunden verkehren. Kinder werden immer mehr als eigentliches Projekt
verstanden werden – und das läuft einer gesunden Durchmischung völlig entgegen.
Und wie durchbricht man dies?
Durchbrechen lässt sich dies nicht, denn das würde bedeuten, dass man
Eltern verbieten müsste, ihre Kinder zu fördern. Das will zum Glück niemand.
Man kann aber dafür sorgen, dass die Chancen von Kindern mit
Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Familien grösser werden –
beispielsweise, indem man in den benachteiligten Quartieren in die Förderung
investiert.
Umgekehrt gibt es aber auch die Kritik, dass begabte Schüler zu wenig
gefördert würden.
Die Frühförderung hat die Begabungsförderung bis zu einem gewissen Grad
tatsächlich etwas verdrängt. In den 1990er Jahren haben so gut wie alle Kantone
grosszügig Mittel in die Begabungsförderung gesteckt. Es gab damals in der
ganzen Schweiz einen grossen Enthusiasmus. Heute sind es vor allem einzelne Gemeinden
und das Netzwerk Begabungsförderung, die sich in diesem Bereich stark
engagieren. Die Frühförderung ist leider stärker auf Defizite ausgerichtet. Sie
kann die Begabungsförderung deshalb nicht ersetzen. Es gibt hier einen
Rückschritt.
Das heisst, Nachholbedarf gibt es vor allem bei Kindern, die aus einer
bildungsfernen Umgebung kommen, und bei jenen, die obenaus schwingen?
Richtig – und Kinder mit einer besonderen Begabung, die aber aus
einfachen Verhältnissen kommen, haben schon gar keine Chance. Hier liegt
Potenzial brach.
Beim Wechsel ins Gymnasium werden die ungleichen Chancen erst recht
sichtbar. Auf Twitter haben Sie vorgeschlagen, das Mitspracherecht beim
Übertritt ins Gymnasium zu beschneiden. Was meinen Sie damit?
Studien zeigen, dass die Chancengerechtigkeit in jenen Kantonen grösser
ist, in denen die Eltern bei der Wahl der Bildungsstufe kein Mitspracherecht
haben. Eltern, die sehr ambitioniert sind und in der Schule auftreten, neigen
nämlich dazu, Lehrpersonen zugunsten ihrer eigenen Kinder zu beeinflussen. Das
kann sich rasch auf die Noten auswirken – und damit auf die Schullaufbahn.
Typischerweise sind es Eltern mit akademischen Berufen oder mit
Kaderfunktionen, die sich auch in den Schulen durchzusetzen wissen. Es wäre
notwendig, solchen Effekten entgegenzuwirken. Grundsätzlich sollten die
unabhängigen Interessen des Kindes mehr gewichtet werden.
Wie soll das gelingen?
Es gibt Schulgesetze, in denen das Mitspracherecht ausdrücklich
berücksichtigt wird. Ich halte dies im Zusammenhang mit dem Gymi-Enscheid für
fragwürdig, denn die Lehrpersonen werden dadurch einem ungeheuren Druck
ausgesetzt. Dabei müssten sie sich eigentlich zu Anwälten der schwächeren
Kinder machen, die keine Push-Eltern haben. Ein Prüfungssystem wie im Kanton
Zürich ist vielleicht auch nicht das Gelbe vom Ei, doch der Entscheid für den
Eintritt ins Gymnasium wird so wenigstens teilweise objektiviert.
Diese Selektion müsste doch heute schon stattfinden, nämlich indem
schwächere Gymi-Schüler aufgrund ihrer schlechteren Leistung wieder
ausscheiden.
Das geschieht nicht, weil immer mehr Kinder in der Probezeit
Nachhilfestunden erhalten, damit sie den Sprung ins Gymi schaffen und dort auch
bleiben. Inzwischen erhalten manche Schüler während der gesamten Gymnasialzeit
unterstützenden Unterricht. Im Kanton Zürich ist dies besonders ausgeprägt –
und es betrifft nicht nur schwache Schüler. Oft wollen Eltern auf diese Weise
ihren Sprösslingen ein Polster verschaffen, damit sie sich keine Sorgen machen
müssen. Eine andere Möglichkeit ist es, sein Kind auf eine Privatschule zu
schicken.
Welche Konsequenzen hat dies für die Gymnasien?
Eine Untersuchung der ETH-Professorin Elsbeth Stern bei Schweizer
Gymnasiasten zeigt, dass gut 30 Prozent nicht über die kognitiven Fähigkeiten
für den Besuch der Mittelschule verfügen.
Die Matura wird für gewisse Kreise also so gut wie käuflich. Auf der
anderen Seite kämpfen handwerkliche und andere Berufe mit Nachwuchsproblemen.
Ja, diese Akademisierung bereitet mir Sorgen. Für immer mehr Berufe,
darunter bald auch Kindergärtner und Kindergärtnerinnen, benötigt man nicht nur
einen tertiären Abschluss, sondern sogar einen Master. Das verstärkt die
Sogwirkung der Gymnasien. Für viele Eltern ist das Gymnasium dadurch zu einem
Statussymbol geworden. Demgegenüber machen fast nur noch Kinder aus Arbeiter-
und allenfalls Beamtenfamilien eine Berufslehre. Der Zugang zu diesen
Ausbildungen ist also durch die Herkunft und nicht durch die Neigungen und die
Fähigkeiten der Kinder bestimmt.
Das Image der Berufslehre ist in den letzten Jahren allerdings besser
geworden.
Da muss ich den Verantwortlichen ein Kränzchen winden. Mit
Veranstaltungen wie den Swiss Skills, über die die Medien ausführlich
berichten, konnte in der Öffentlichkeit der Stellenwert der Lehre tatsächlich
gehoben werden.
Und warum nützt dies dennoch nichts?
Der Entscheid, welchen Beruf man ergreifen will, erfolgt in der Schweiz
zu früh. Die Kinder kommen immer jünger in die Schule. Heute muss sich ein
13-Jähriger für eine Schnupperlehre bewerben. Das ist eine Überforderung!
Jugendliche haben in diesem Alter oft andere Probleme. Das Gymnasium ist nicht
der einfachere Weg, aber der Zeitpunkt für diese wichtige Weichenstellung wird
hinausgezögert. Das ist natürlich bequemer.
Was raten Sie?
Schwierig, denn der Trend geht eher in die Gegenrichtung. International
gilt die Formel: Je jünger ein Mensch beim Abschluss der Ausbildung ist, umso
besser. Dieses Paradigma müsste man überdenken. Warum kann man das Kind nicht
reifen lassen? Schliesslich heisst Matura Reife.
Führt der Weg also auch hier über die Eltern?
In der Tat, denn wie gesagt: Heutzutage sind viele Kinder für die Eltern
ein Projekt, über das sie sich selber verwirklichen. In einer Studie zur
Berufsbildung haben wir festgestellt, dass die Mutter die wichtigste Person
ist, wenn es um die berufliche Entscheidfindung geht. In der Schweiz gibt es
rund 230 Berufe. Davon nehmen die Eltern – oder eben meistens die Mutter – nur
gerade 4 in den Fokus. Das sind so gut wie immer Berufe mit einem hohen Image,
also sicher nicht Strassenbauer oder Metzger. Man will das Beste fürs Kind und
lässt das Kind gar nicht seinen eigenen Weg suchen. Auf diese Strategie der
Eltern sind häufig auch psychische oder physische Probleme zurückzuführen, die
bei Schulkindern tatsächlich stark zunehmen. Die Situation ist beunruhigend:
Viele kinderpsychiatrische Dienste sind auf mehrere Monate hinaus ausgebucht.
In den letzten Jahren scheinen die Mädchen die Buben an der Schule
überflügelt zu haben.
Im Durchschnitt haben die Mädchen die Buben tatsächlich überholt. Das
ist auch bei den höheren Bildungsabschlüssen der Fall. Aber man darf nicht
pauschalisieren. Es gibt auch sehr erfolgreiche Knaben. Die Unterschiede
innerhalb des Geschlechts sind noch immer grösser als die Unterschiede zwischen
den Geschlechtern. Aber die Risikogruppe jener, deren schulische Leistung nicht
genügt, ist bei den Buben grösser.
Ist dies eine Folge der Feminisierung der Schule?
Nein, aus der Forschung weiss man, dass dies nicht der Fall ist. Frauen
beurteilen Jungen und Mädchen gleich streng. Unter den Lehrerinnen gibt es
allerdings auch pointierte Feministinnen. Diese stellen sich auf den
Standpunkt, dass Buben lernen müssten, was es heisse, von den Mädchen überholt
zu werden. Schliesslich hätten Mädchen genug Benachteiligungen erlebt. Nun
sollten auch die Knaben die Erfahrung machen, dass sie hinterherhinkten. Das
ist ein ganz falscher Ansatz.
Das kann aber nicht der Hauptgrund für die Unterschiede sein.
Nein, heutzutage werden in der Schule die sozialen und emotionalen
Kompetenzen stärker betont. Die Sprache und das Sich-selber-Mitteilen haben
einen hohen Stellenwert. Der Wettbewerb wird dagegen aus dem Schulzimmer
verbannt. Das zeigt sich auch auf dem Pausenhof. Das Rammeln zwischen Schülern,
das früher absolut normal war, wird zum Teil als Gewalt gebrandmarkt.
Für die Schülerinnen sollte diese Entwicklung eigentlich ein Vorteil
sein.
Nicht unbedingt, denn viele Mädchen sind überangepasst. Sie sind so
fleissig, so nett. Manche Knaben sind unruhig und versuchen häufig, mit
minimalem Aufwand durch die Schulzeit zu kommen – so, wie ihnen dies von ihrer
Peer-Group vorgelebt wird. Wenn ein Mädchen fleissig ist, ist dies dem
weiblichen Geschlechterstereotyp zuträglich. Ein fleissiger Knabe dagegen ist
häufig ein Aussenseiter.
Mit welchen Folgen?
Bis zum Schulaustritt sind die Mädchen angepasst und fleissig, aber in
der Berufswelt gelten plötzlich andere Massstäbe. Die Welt wird gröber. Oft
fehlt es dann den jungen Frauen an Durchsetzungsvermögen, an
Risikobereitschaft. Sie ziehen sich eher zurück. Sie treffen auf junge Männer,
die zum Teil zu viel Selbstvertrauen haben und ihre Schwächen gar nicht
erkennen. Die stark auf die Sozialkompetenz fokussierten Lehrpläne haben also
gerade für die Frauen eher einen nachteiligen Effekt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen