20. November 2019

Grosse Lehrerfluktuation in St. Gallen


Den rund 880 St.Galler Lehrerinnen und Lehrern geht es gut und sie sind zufrieden. Zumindest wenn es nach dem Stadtrat geht. «Die Zahlen und Fakten zur Fluktuation der Lehrpersonen der städtischen Schulen lassen positive Rückschlüsse zu.»
Die Rotationsquoten seien vergleichsweise gering, die durchschnittliche Verweildauer der Lehrer hoch, die Absenzenquote tief. «Diese Fakten stützen die Ergebnisse der Mitarbeitendenumfragen von 2010 und 2016, die hohe Arbeitsmotivation und -zufriedenheit attestiert haben.»
"Fast jede vierte Lehrperson wechselt, diese Zahl ist erschreckend", St. Galler Tagblatt, 19.11. von Diana Hagmann-Bula


Dieses optimistische Bild zeichnet der Stadtrat in seiner Antwort auf eine Interpellation der CVP/EVP- und der GLP-Fraktion. Sie wollten wissen, ob die Abgänge an der Volksschule «Business as usual» seien. Oder doch ein Zeichen dafür, dass es um das Schulklima nicht so gut stehe.

«Uns fehlt die kritische Auseinandersetzung»
Sechs Seiten Zahlen und Statistiken liefert der Stadtrat. Er schreibt dazu, dass in den Jahren 2010 mit 42 Kündigungen, 2014 mit 36 Kündigungen und 2018 mit 42 Kündigungen vergleichsweise hohe Werte erreicht seien. Auch habe sich die Bruttorotationsquote – sie bezieht alle Abgänge wie Pensionierungen, Kündigungen, Ablauf befristeter Lehraufträge mit ein – zwischen 2001 und 2018 dem gesamtschweizerischen Wert angenähert.
Gründe dafür sucht und nennt der Stadtrat jedoch nicht. Stattdessen schliesst er mit versöhnlichem Fazit. Und der Feststellung: «Die Pflege der Mitarbeiterzufriedenheit ist eine Daueraufgabe.»

CVP/EVP-Fraktionspräsident Patrik Angehrn würdigt das Zahlenmaterial als «gut aufbereitet», stuft den Schluss des Stadtrates aber als zu positiv ein: «Uns fehlen die kritische Auseinandersetzung und Erklärungen.» Er verweist auf das aktuelle Jahr: 192 von 882 Lehrpersonen treten aus oder in eine andere städtische Schule über.

«Fast jede vierte Lehrperson wechselt also. Uns ist klar, dass sich darunter ebenfalls Pensionierte und schwangere Frauen befinden. Dennoch ist diese Zahl erschreckend.»
Auch fragt sich Angehrn, warum die durchschnittliche Anstellungsdauer der kündigenden Lehrer auf knapp über fünf Jahre gesunken sei. «Je höher die Verweildauer, desto eher bedeutet das doch: Ja, hier passt alles.»

Angehrn wundert sich, dass der Stadtrat nicht mehr über diese Veränderungen erfahren will. Auch spricht der Interpellant jene Arbeitsverhältnisse an, die im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst worden sind. «Das kommt erst seit wenigen Jahren vor.»
In der Zeit von 2001 bis 2014 – in der Ära vor Marlis Angehrn als Leiterin der Dienststelle Schule und Musik – gab es drei solche Fälle. Seit dem Eintritt der promovierten Juristin sind es neun Fälle.

Die 57-Jährige hat ihre Stelle im September per Ende Januar 2020 gekündigt. Auch wegen «feindselig motivierter und unberechtigter Kritik», wie sie begründete. Sie sei unnahbar, nicht empathisch und wenig dialogfähig, warfen Lehrerinnen und Lehrer ihr immer wieder vor.

«Engagierte Lehrpersonen müssen über kurze Wege zu ihren Vorgesetzten gelangen und sich einbringen können. Schulleiter und die Dienststelle Schule und Musik müssen die Anregungen wohlwollend kritisch prüfen. Dieser Ansatz müsste in der Vergangenheit, heute und in Zukunft gelebt werden», sagt Patrik Angehrn.

Lehrer, die anonym bleiben möchten, beklagen: Sie hätten zwar das Gefühl, gehört zu werden, aber ihre Anliegen würden von oben her nicht umgesetzt. «Stattdessen bekommen wir von der Direktion neue Innovationen verordnet, die wir an der Basis verwirklichen müssen. Das demotiviert.»

Es gehe das Gerücht um, dass sich in den umliegenden Schulgemeinden die Bewerbungen von St.Galler Lehrern stapeln würden. «Wir wünschen uns mehr Nähe. Auch wenn wir uns zu einem riesigen Apparat entwickelt haben, der am Herbstforum die Olmahalle füllt.»

Neuer Vorstoss zum Thema wird heute eingereicht
In der Auslegeordnung des Stadtrates zur Fluktuation der Lehrer erkennt Stadtparlamentarier Patrik Angehrn «keine riesigen Verwerfungen, aber Tendenzen, die uns auffordern, dran zu bleiben». Die Mitarbeiterumfragen, auf die sich der Stadtrat beruft, hält der Stadtparlamentarier für eine «gute Basis».

Nun müsse es aber weitergehen mit Verbesserungen. Den pädagogischen Dialog sieht er als ersten zu begrüssenden Schritt. Die Dienststellenleiterin besucht dabei die Schulen und wohnt dem Unterricht bei, stellt sich den Fragen der Lehrerinnen und Lehrer. «In einer ersten Runde wies das Projekt noch Schwachstellen auf. Zum Beispiel protokollierte man die Ergebnisse nicht. Unterdessen ist es auf gutem Weg», sagt Patrik Angehrn.

Die CVP/EVP-Fraktion hat eine weitere Interpellation zum Thema vorbereitet, die er am Dienstag im Parlament einreicht. Als Grundlage dazu dient ihm das vor wenigen Wochen durchgeführte Bildungspodium zur Lehrerzufriedenheit in St.Georgen, auf dem Marlis Angehrn öffentlich ihre Sicht der Dinge darlegte und die Lehrerverbände kritisierte. Diese hätten den Behörden schon 1995 und 2012 vorgeworfen, ein «Klima der Angst» zu verbreiten, sagte sie.

Mit dem neuen Vorstoss will Patrik Angehrn erfahren: Wie gedenkt der Stadtrat, das schon lange bestehende Zerwürfnis zwischen Lehrerverbänden und Dienststelle Schule und Musik zu beseitigen, damit die Nachfolgerin oder der Nachfolger von Marlis Angehrn unbelastet die Arbeit aufnehmen kann?

Lehrerverband will die Gründe finden
Bruno Oesch, Generalsekretär des Verbandes Lehrpersonen Sektion St.Gallen, mag die Ergebnisse des Stadtrates zur Lage der St.Galler Lehrer nicht beurteilen. Er wünscht sich aber neuere Zahlen und Fakten als jene aus der Mitarbeiterbefragung von 2016.
Deshalb fühle der Kantonale Lehrerverband aktuell selber den städtischen Lehrern auf den Zahn. Die Ergebnisse sollen Anfang Jahr vorliegen. «Wenn sie gut sind, sind sie gut. Wir haben dann aber klare Erkenntnisse und wissen, dass wir unseren Fokus auf pädagogische Themen richten können und nicht primär auf die Begleitung von Mitgliedern mit personalrechtlichen Fragen.»

Es sei eine Aussprache mit der Direktion Bildung und Freizeit vorgesehen, bei der es um die Umfrageergebnisse gehe – «in aller Offenheit». Oesch hofft nun, dass die Umfrage des Lehrerverbandes auch die Gründe für das «diffuse Gefühl von Distanz und mangelnder Wertschätzung» aufzeigen wird. Und ergründet, auf welchen Ebenen es wirklich harzt.

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