Spiegelglatt liegt das «Walenseeli» an diesem Herbstmorgen da. Keine
hundert Quadratmeter misst das Gewässer in der Nähe von Pfäffikon. Durch eine
Rinne ist es mit dem Zürichsee verbunden. Hier befindet sich die Werft der
Kibag Marina. Ein Vogel landet raschelnd im Baum, ab und zu schlagen Schiffsteile
klimpernd aneinander. Vom Motorbötchen über Segelschiffe bis zur Jacht, findet
man hier alles. Fast jeder Platz im Hafen ist besetzt. Aber nicht mehr lange.
«Nächste oder übernächste Woche geht’s so richtig los», sagt Bruno Leisinger
gutgelaunt. Er trägt eine dunkelblaue Funktionshose und eine leuchtend
orangefarbene Jacke. Die Füsse stecken in Schuhen mit Plastikkappen, das ist
ideal für die Arbeit am und mit Wasser. Wir stehen an der Rampe, über uns ein Kran. Bis zu zehn Tonnen Tragkraft
habe der, sagt Leisinger. Gurte hängen herunter. Bis im Dezember werden daran
280 Segelschiffe und Motorboote ausgewassert, geputzt und bereit gemacht zum
Überwintern. Bei manchen Schiffen fallen zudem Reparaturen an. Leisinger darf aber
nur bei den kleineren mitanpacken und auch dort nur einfache Arbeiten
erledigen, zum Beispiel schleifen und laminieren. Ein Fachmann steht dann neben
ihm und weist ihn an. Bruno Leisinger ist nämlich kein ausgebildeter
Werftarbeiter, sondern während sieben Wochen «der Gango für alles», wie er es
nennt.
Wenn der Sekundarlehrer auf der Werft arbeitet, NZZaS, 25.10. von Regula Freuler
Eigentlich ist er Sekundarlehrer in Buchs. Derzeit absolviert er eine
dreimonatige Intensivweiterbildung (IWB), die von der Pädagogischen Hochschule Zürich
angeboten wird. Vier verschiedene Profile stehen zur Auswahl.
Leisinger hat sich für das Profil «Arbeitswelten erfahren - kompakt»
entschieden. Es umfasst sieben Wochen Praktikum in einem Betrieb sowie sechs
Wochen mit Seminaren, Praktikumsvor- und -nachbereitungen sowie einem
Selbststudium. Das Betriebspraktikum ist das Kernstück dieser Weiterbildung.
Das Ziel: Die teilnehmenden Lehrpersonen sollen in eine fremde Arbeitswelt
eintauchen und dadurch eine Aussensicht auf den Schulalltag gewinnen.
Begehrtes Angebot
Für den Sekundarlehrer war von Anfang an klar, dass er etwas
Handwerkliches machen wollte, vorzugsweise mit Schiffen. «Vor drei Jahren habe
ich mich mit dem Segelvirus angesteckt», erzählt er, «also suchte ich nach
einem Platz in einer Werft.» Zwei Bewerbungen in Skandinavien blieben
erfolglos, bei der Kibag Marina klappte es schliesslich.
Normalerweise hat man dort nur Praktikanten oder Schnupperlehrlinge im
Jugendalter. Der 46-jährige Leisinger, der in seiner Freizeit schon immer gerne
herumwerkelte, kann mehr bieten als die meisten Teenager. So zimmerte er als
Erstes auf Eigeninitiative bei einer hohen Stufe in der Werkstatt eine Treppe
aus Schaltafeln. Und er freut sich grundsätzlich über jede Arbeit, die man ihm
überträgt. «Ich würde es durchaus verstehen, wenn man mich nur den Boden und
die Boote fegen liesse», sagt Bruno Leisinger, «ich lerne ja schon viel alleine
vom Zusehen und Fragenstellen.»
Die IWB ist ein Weiterbildungsurlaub für Lehrpersonen der Volksschule im
Kanton Zürich und steht allen Lehrpersonen nach zehn Dienstjahren und mit einer
Anstellung von mindestens 50 Prozent offen. Ähnliche Angebote existieren auch
in anderen Kantonen wie Bern, Luzern oder St. Gallen.
Handelt es sich um eine Vorsorgemassnahme gegen Burnout? «Vielleicht hat
es bei der einen oder anderen Lehrperson diese Wirkung», sagt Barbara Dangel,
Leiterin des Zentrums Person und Profession an der PH Zürich, «aber die
Weiterbildung wird nicht mit diesem Ziel ausgeschrieben.» Vielmehr geht es
darum, sich aus dem Alltag ausklinken zu können und seine aktuelle berufliche
Situation zu überprüfen. Beim Profil, das Bruno Leisinger gewählt hat, geht es
zudem darum, sein Wissen überfachlich zu erweitern, das heisst nicht in
schulischen Bereichen.
Gestärkt ins Klassenzimmer zurück
Die IWB gibt es schon seit über dreissig Jahren, in dieser Zeit hat sich
die Zielsetzung stetig geändert. Mittlerweile ist sie als
Personalentwicklungsinstrument implementiert. Deshalb sank auch das
Durchschnittsalter der Teilnehmenden in den vergangenen Jahren stetig. Früher
waren die meisten im Programm 50 Jahre und älter, heute nehmen bereits
Lehrpersonen ab Ende 30 das Angebot wahr, sagt Barbara Dangel.
Die dreimonatige Intensivweiterbildung diene aber nicht zur beruflichen
Neuorientierung, betont Dangel. Die Motivation sollte eine andere sein:
«Idealerweise kehren die Teilnehmenden gestärkt ins Klassenzimmer zurück.»
Pro Jahr bewilligt die Bildungsdirektion 140 Plätze, die auf die vier
Weiterbildungsprofile verteilt sind; drei davon sind inhaltlich komplett
schulfern. Die Wartezeit auf einen Platz kann bis zu zwei Jahre betragen, sagt
Barbara Dangel. Darum hat man die IWB bis jetzt auch nicht explizit beworben.
Das soll sich aber ändern, denn es falle auf, dass aus einigen Schulen
regelmässig Anmeldungen kommen und aus anderen gar nie.
Weltreise oder Weiterbildung
Auch Bruno Leisinger hat eher durch Zufall von der Möglichkeit erfahren.
Nach dem Sportlehrer-Studium an der ETH Zürich hatte er zuerst in einem
Biomechanik-Labor gearbeitet, bis er im Jahr 2005 zu unterrichten begann.
Lehrer Leisinger ist aber nicht etwa schulmüde, im Gegenteil, er schwärmt von
seinem Arbeitsumfeld in Buchs mit seinem vielseitigen Unterrichtsmodell, das
ihn immer wieder herausfordert. Als er eine dritte Sekundarklasse abgab, nutzte
er den Moment für einen «Tapetenwechsel»: «Ich wollte einmal richtig durchatmen
können.» Ausserdem wollte er zur Abwechslung «etwas mit den Händen machen»;
etwas, bei dem man das Resultat sofort sieht.
Auf der Werft ist er nun ein Teil jenes Umfelds, auf das er seine
Schülerinnen und Schüler vorbereitet. Was hat ihm dieser Perspektivenwechsel
bis jetzt gebracht? «Ich bin positiv überrascht, wie man heute - im Vergleich zu
früher - den Bedürfnissen der Lehrlinge entgegenkommt. Die Hierarchien sind
viel flacher geworden.»
Persönlich schätzt er es, die Arbeit am Abend auch gedanklich
niederlegen zu können. «Gerade wenn in der Schule etwas nicht optimal läuft,
trägt man das mit nach Hause», sagt er. Ausserdem zeige ihm der pragmatische
Ansatz auf der Werft, wie man in der Schule manche Nebensächlichkeiten
übertrieben wichtig nehme. Dass er weiterhin Lehrer bleiben möchte, steht für
ihn dennoch ausser Frage.
Ganz anders sah das bei Claudia Greco aus, als sie sich vor vier Jahren
für eine Intensivweiterbildung entschied. Sie war damals seit 13 Jahren im
Schuldienst. «Ich war drauf und dran, den Beruf zu wechseln», erzählt die
Handarbeitslehrerin aus Thalwil am Telefon. Die steigende administrative
Belastung liess sie zunehmend zweifeln, ob sie an der Schule noch am richtigen
Ort sei. Statt vor allem mit ihren Schülerinnen und Schülern hatte sie immer
mehr mit Papierkram zu tun. Claudia Greco verbrachte ihr Betriebspraktikum am
Schauspielhaus Zürich. Dort half sie Kostüme nähen, verlegte Teppiche,
gestaltete und produzierte Bühnenbilder und Requisiten mit.
Es war nicht die erste Auszeit von Claudia Greco, die heute 42 Jahre alt
ist. Sie hatte davor bereits ein einjähriges Sabbatical genommen und war in
dieser Zeit alleine um die Welt gereist. «Aber die Intensivweiterbildung hat
mir ganz klar mehr gebracht», sagt sie rückblickend. «Mein Sabbatical war zwar
eine echte Lebensschule, aber man denkt in dieser Zeit über nichts nach. Ich
lebte einfach von Tag zu Tag.»
Bei der dreimonatigen Intensivweiterbildung hingegen setzt man sich
intensiv mit sich selbst auseinander – und dies auf strukturierte Weise. Greco
schätzte ausserdem den Austausch mit den anderen Teilnehmern, den man in einem
gewöhnlichen Sabbatical nicht hat. Ein «grosses Geschenk» sei das gewesen,
betont Greco. «Als Lehrperson gibt man ständig. Bei der IWB geht es für einmal
um einen selber.»
Voller Überzeugung ist sie in ihren Beruf zurückgekehrt. Heute wisse sie
besser, wie sie ihren Alltag als Lehrperson gestalten wolle und mit dem
administrativen Aufwand umgehen könne.
Intensive Auseinandersetzung
Auch Bruno Leisinger muss heute mehr Berichte schreiben als früher. Aber
er sieht in der Mehrarbeit auch Vorteile: «Steht ein Elterngespräch an, hat man
alles schon zur Hand. Ausserdem sind die Beurteilungen immer durch mehrere
Lehrpersonen abgestützt, das macht sie genauer und weniger anfechtbar.»
In dem Moment kommt ein kleines rotes Motorboot angefahren. Der Besitzer
und seine Frau steigen aus. Dann wird ihr Boot an den Krangurten aus dem Wasser
gehoben und einige Meter nach vorn gezogen. Leisinger packt den
Hochdruckreiniger und beginnt, das Unterschiff und den Aussenbordmotor
abzuspritzen. «Kann ich auch hier bei den Kabeln?», fragt er den Werftarbeiter
neben ihm und fügt an: «Es sind nur mechanische Kabel, keine elektrischen.»
Der Sekundarlehrer hat sich ganz offensichtlich eingefuchst in sein
Praktikumsthema. Er kennt die unterschiedlichen Modelle und ihre technischen
Details, sogar die Längen der Seile. Er kann Anschaffungs- und Unterhaltskosten
auflisten und weiss dramatische Geschichten von Seglern, die über Bord fielen,
weil sie das Sicherheitssystem nicht nutzten.
Sein Traum: ein Jahr mit der Familie auf einem hochseetauglichen
Katamaran unterwegs sein. «Vorerst üben wir auf dem Bodensee, wie lange die
Kinder es an Bord überhaupt aushalten», meint er lachend und widmet sich dann
wieder dem roten Motorboot.
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