27. Oktober 2019

Neue Perspektiven durch Weiterbildung


Spiegelglatt liegt das «Walenseeli» an diesem Herbstmorgen da. Keine hundert Quadratmeter misst das Gewässer in der Nähe von Pfäffikon. Durch eine Rinne ist es mit dem Zürichsee verbunden. Hier befindet sich die Werft der Kibag Marina. Ein Vogel landet raschelnd im Baum, ab und zu schlagen Schiffsteile klimpernd aneinander. Vom Motorbötchen über Segelschiffe bis zur Jacht, findet man hier alles. Fast jeder Platz im Hafen ist besetzt. Aber nicht mehr lange. «Nächste oder übernächste Woche geht’s so richtig los», sagt Bruno Leisinger gutgelaunt. Er trägt eine dunkelblaue Funktionshose und eine leuchtend orangefarbene Jacke. Die Füsse stecken in Schuhen mit Plastikkappen, das ist ideal für die Arbeit am und mit Wasser. Wir stehen an der Rampe, über uns ein Kran. Bis zu zehn Tonnen Tragkraft habe der, sagt Leisinger. Gurte hängen herunter. Bis im Dezember werden daran 280 Segelschiffe und Motorboote ausgewassert, geputzt und bereit gemacht zum Überwintern. Bei manchen Schiffen fallen zudem Reparaturen an. Leisinger darf aber nur bei den kleineren mitanpacken und auch dort nur einfache Arbeiten erledigen, zum Beispiel schleifen und laminieren. Ein Fachmann steht dann neben ihm und weist ihn an. Bruno Leisinger ist nämlich kein ausgebildeter Werftarbeiter, sondern während sieben Wochen «der Gango für alles», wie er es nennt.
Wenn der Sekundarlehrer auf der Werft arbeitet, NZZaS, 25.10. von Regula Freuler


Eigentlich ist er Sekundarlehrer in Buchs. Derzeit absolviert er eine dreimonatige Intensivweiterbildung (IWB), die von der Pädagogischen Hochschule Zürich angeboten wird. Vier verschiedene Profile stehen zur Auswahl. Leisinger hat sich für das Profil «Arbeitswelten erfahren - kompakt» entschieden. Es umfasst sieben Wochen Praktikum in einem Betrieb sowie sechs Wochen mit Seminaren, Praktikumsvor- und -nachbereitungen sowie einem Selbststudium. Das Betriebspraktikum ist das Kernstück dieser Weiterbildung. Das Ziel: Die teilnehmenden Lehrpersonen sollen in eine fremde Arbeitswelt eintauchen und dadurch eine Aussensicht auf den Schulalltag gewinnen.

Begehrtes Angebot
Für den Sekundarlehrer war von Anfang an klar, dass er etwas Handwerkliches machen wollte, vorzugsweise mit Schiffen. «Vor drei Jahren habe ich mich mit dem Segelvirus angesteckt», erzählt er, «also suchte ich nach einem Platz in einer Werft.» Zwei Bewerbungen in Skandinavien blieben erfolglos, bei der Kibag Marina klappte es schliesslich.

Normalerweise hat man dort nur Praktikanten oder Schnupperlehrlinge im Jugendalter. Der 46-jährige Leisinger, der in seiner Freizeit schon immer gerne herumwerkelte, kann mehr bieten als die meisten Teenager. So zimmerte er als Erstes auf Eigeninitiative bei einer hohen Stufe in der Werkstatt eine Treppe aus Schaltafeln. Und er freut sich grundsätzlich über jede Arbeit, die man ihm überträgt. «Ich würde es durchaus verstehen, wenn man mich nur den Boden und die Boote fegen liesse», sagt Bruno Leisinger, «ich lerne ja schon viel alleine vom Zusehen und Fragenstellen.»

Die IWB ist ein Weiterbildungsurlaub für Lehrpersonen der Volksschule im Kanton Zürich und steht allen Lehrpersonen nach zehn Dienstjahren und mit einer Anstellung von mindestens 50 Prozent offen. Ähnliche Angebote existieren auch in anderen Kantonen wie Bern, Luzern oder St. Gallen.

Handelt es sich um eine Vorsorgemassnahme gegen Burnout? «Vielleicht hat es bei der einen oder anderen Lehrperson diese Wirkung», sagt Barbara Dangel, Leiterin des Zentrums Person und Profession an der PH Zürich, «aber die Weiterbildung wird nicht mit diesem Ziel ausgeschrieben.» Vielmehr geht es darum, sich aus dem Alltag ausklinken zu können und seine aktuelle berufliche Situation zu überprüfen. Beim Profil, das Bruno Leisinger gewählt hat, geht es zudem darum, sein Wissen überfachlich zu erweitern, das heisst nicht in schulischen Bereichen.

Gestärkt ins Klassenzimmer zurück
Die IWB gibt es schon seit über dreissig Jahren, in dieser Zeit hat sich die Zielsetzung stetig geändert. Mittlerweile ist sie als Personalentwicklungsinstrument implementiert. Deshalb sank auch das Durchschnittsalter der Teilnehmenden in den vergangenen Jahren stetig. Früher waren die meisten im Programm 50 Jahre und älter, heute nehmen bereits Lehrpersonen ab Ende 30 das Angebot wahr, sagt Barbara Dangel.

Die dreimonatige Intensivweiterbildung diene aber nicht zur beruflichen Neuorientierung, betont Dangel. Die Motivation sollte eine andere sein: «Idealerweise kehren die Teilnehmenden gestärkt ins Klassenzimmer zurück.»

Pro Jahr bewilligt die Bildungsdirektion 140 Plätze, die auf die vier Weiterbildungsprofile verteilt sind; drei davon sind inhaltlich komplett schulfern. Die Wartezeit auf einen Platz kann bis zu zwei Jahre betragen, sagt Barbara Dangel. Darum hat man die IWB bis jetzt auch nicht explizit beworben. Das soll sich aber ändern, denn es falle auf, dass aus einigen Schulen regelmässig Anmeldungen kommen und aus anderen gar nie.

Weltreise oder Weiterbildung
Auch Bruno Leisinger hat eher durch Zufall von der Möglichkeit erfahren. Nach dem Sportlehrer-Studium an der ETH Zürich hatte er zuerst in einem Biomechanik-Labor gearbeitet, bis er im Jahr 2005 zu unterrichten begann. Lehrer Leisinger ist aber nicht etwa schulmüde, im Gegenteil, er schwärmt von seinem Arbeitsumfeld in Buchs mit seinem vielseitigen Unterrichtsmodell, das ihn immer wieder herausfordert. Als er eine dritte Sekundarklasse abgab, nutzte er den Moment für einen «Tapetenwechsel»: «Ich wollte einmal richtig durchatmen können.» Ausserdem wollte er zur Abwechslung «etwas mit den Händen machen»; etwas, bei dem man das Resultat sofort sieht.

Auf der Werft ist er nun ein Teil jenes Umfelds, auf das er seine Schülerinnen und Schüler vorbereitet. Was hat ihm dieser Perspektivenwechsel bis jetzt gebracht? «Ich bin positiv überrascht, wie man heute - im Vergleich zu früher - den Bedürfnissen der Lehrlinge entgegenkommt. Die Hierarchien sind viel flacher geworden.»

Persönlich schätzt er es, die Arbeit am Abend auch gedanklich niederlegen zu können. «Gerade wenn in der Schule etwas nicht optimal läuft, trägt man das mit nach Hause», sagt er. Ausserdem zeige ihm der pragmatische Ansatz auf der Werft, wie man in der Schule manche Nebensächlichkeiten übertrieben wichtig nehme. Dass er weiterhin Lehrer bleiben möchte, steht für ihn dennoch ausser Frage.

Ganz anders sah das bei Claudia Greco aus, als sie sich vor vier Jahren für eine Intensivweiterbildung entschied. Sie war damals seit 13 Jahren im Schuldienst. «Ich war drauf und dran, den Beruf zu wechseln», erzählt die Handarbeitslehrerin aus Thalwil am Telefon. Die steigende administrative Belastung liess sie zunehmend zweifeln, ob sie an der Schule noch am richtigen Ort sei. Statt vor allem mit ihren Schülerinnen und Schülern hatte sie immer mehr mit Papierkram zu tun. Claudia Greco verbrachte ihr Betriebspraktikum am Schauspielhaus Zürich. Dort half sie Kostüme nähen, verlegte Teppiche, gestaltete und produzierte Bühnenbilder und Requisiten mit.

Es war nicht die erste Auszeit von Claudia Greco, die heute 42 Jahre alt ist. Sie hatte davor bereits ein einjähriges Sabbatical genommen und war in dieser Zeit alleine um die Welt gereist. «Aber die Intensivweiterbildung hat mir ganz klar mehr gebracht», sagt sie rückblickend. «Mein Sabbatical war zwar eine echte Lebensschule, aber man denkt in dieser Zeit über nichts nach. Ich lebte einfach von Tag zu Tag.»

Bei der dreimonatigen Intensivweiterbildung hingegen setzt man sich intensiv mit sich selbst auseinander – und dies auf strukturierte Weise. Greco schätzte ausserdem den Austausch mit den anderen Teilnehmern, den man in einem gewöhnlichen Sabbatical nicht hat. Ein «grosses Geschenk» sei das gewesen, betont Greco. «Als Lehrperson gibt man ständig. Bei der IWB geht es für einmal um einen selber.»

Voller Überzeugung ist sie in ihren Beruf zurückgekehrt. Heute wisse sie besser, wie sie ihren Alltag als Lehrperson gestalten wolle und mit dem administrativen Aufwand umgehen könne.

Intensive Auseinandersetzung 
Auch Bruno Leisinger muss heute mehr Berichte schreiben als früher. Aber er sieht in der Mehrarbeit auch Vorteile: «Steht ein Elterngespräch an, hat man alles schon zur Hand. Ausserdem sind die Beurteilungen immer durch mehrere Lehrpersonen abgestützt, das macht sie genauer und weniger anfechtbar.»

In dem Moment kommt ein kleines rotes Motorboot angefahren. Der Besitzer und seine Frau steigen aus. Dann wird ihr Boot an den Krangurten aus dem Wasser gehoben und einige Meter nach vorn gezogen. Leisinger packt den Hochdruckreiniger und beginnt, das Unterschiff und den Aussenbordmotor abzuspritzen. «Kann ich auch hier bei den Kabeln?», fragt er den Werftarbeiter neben ihm und fügt an: «Es sind nur mechanische Kabel, keine elektrischen.»

Der Sekundarlehrer hat sich ganz offensichtlich eingefuchst in sein Praktikumsthema. Er kennt die unterschiedlichen Modelle und ihre technischen Details, sogar die Längen der Seile. Er kann Anschaffungs- und Unterhaltskosten auflisten und weiss dramatische Geschichten von Seglern, die über Bord fielen, weil sie das Sicherheitssystem nicht nutzten.
Sein Traum: ein Jahr mit der Familie auf einem hochseetauglichen Katamaran unterwegs sein. «Vorerst üben wir auf dem Bodensee, wie lange die Kinder es an Bord überhaupt aushalten», meint er lachend und widmet sich dann wieder dem roten Motorboot.

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