15. August 2019

Was Jugendliche mit dem Handy so treiben


Im Sommer 2017 hat sich Samuel* beim Sex mit seiner damaligen Freundin gefilmt. Warum er das gemacht hat, kann er heute nicht mehr sagen. Klar ist nur, dass er deswegen ein gutes Jahr später vor einer Jugendanwältin sitzt und peinliche Fragen beantworten muss.
Warum sich Teenager verbotene Pornos und Köpfungsvideos zuschicken. NZZ, 15.8. von Florian Schoop


Wessen Idee war es, den Geschlechtsverkehr zu filmen?
Meine.

Was haben Sie mit dem Film gemacht?
Eine Zeit lang gar nichts, bis ich ihn dann auf Snapchat stellte.
Snapchat, diese App, die bekannt ist für ihre lustigen Filter, Snapchat, der Nachrichtendienst, bei dem gepostete Fotos und Videos nur für kurze Zeit online sind und sich dann selbst zerstören, dieses Snapchat ist Samuel zum Verhängnis geworden. Der damals 16-Jährige ging wie viele davon aus, dass ein Film nur ein paar Minuten online ist und dann von selbst verschwindet. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass jemand sein Video aufzeichnet und dann der ganzen Welt zugänglich macht.

Der Film sei nicht einmal fünf Minuten online gewesen, beteuert der junge Mann. «Er hatte zuerst nur eine gewisse Reichweite», erklärt er in der Einvernahme der Jugendanwältin. «Doch dann konnte ich es nicht mehr aufhalten.»

Wie denken Sie, wirkte sich die Veröffentlichung des Films auf Ihre damalige Freundin aus?
Schlimm. Aber ich habe mich dadurch auch selber zum Opfer gemacht. Ich leide genauso darunter wie sie.

Was denken Sie rückblickend über Ihr Verhalten?
Ich würde das nie mehr machen.

Zunahme von verbotener Pornografie

Die Geschichte von Samuel ist einer von drei Fällen von illegaler Pornografie und Gewaltdarstellungen, in welche die NZZ in anonymisierter Form Einblick erhalten hat. Sie stehen symptomatisch für ein Phänomen, das dank immer besseren Smartphones und immer günstigeren Flat-Rate-Abos an Bedeutung gewinnt. Dies zeigen neuste Zahlen der Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Strafverfahren wegen Pornografie deutlich angestiegen. Während 2015 deswegen noch gegen 39 Jugendliche ermittelt wurde, waren es 2018 bereits 84. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer dürfte viel höher sein.

In jedem dritten Fall spielte selbst erstelltes pornografisches Material eine Rolle. Denn wer unter 16 Jahre alt ist und sich nackt fotografiert oder bei sexuellen Handlungen aufzeichnet, macht sich der Herstellung von Kinderpornografie strafbar. Dies war auch bei Samuel der Fall. Seine damalige Freundin war erst 15-jährig, als er sie und sich selbst beim Geschlechtsverkehr filmte. Aber nicht nur die Herstellung von solchem Bildmaterial ist strafbar. Auch das Weiterleiten oder das Speichern wird rechtlich geahndet.

Laut der Studie «EU Kids Online Schweiz», die im Mai erschienen ist und bei der über 1000 Schülerinnen und Schüler befragt wurden, haben im Durchschnitt bereits 24 Prozent der Teilnehmer sexuelle Nachrichten erhalten. Der Anteil steigt gar auf 42 Prozent bei den 15- bis 16-Jährigen. 3 bis 10 Prozent der Befragten haben schon selbst sexuelle Nachrichten verschickt. Und 2 Prozent der 11- bis 16-Jährigen gaben an, schon von jemandem erpresst worden zu sein, der im Besitz von sexuellen Nachrichten war.

Die Behörden stellen dabei ein neues Phänomen fest: Während früher primär Fotos von Mädchen in expliziter Pose die Runde machten, filmen sich heute vermehrt auch männliche Teenager bei sexuellen Handlungen oder erstellen Nacktbilder von sich. Aber was ist die Motivation dahinter?

Simone Eberle, Jugendanwältin bei der Jugendanwaltschaft Zürich-Stadt, ist häufig mit solchen Fällen konfrontiert. Sie stellt fest, dass sich Mädchen und Knaben aus unterschiedlichen Gründen explizit ablichten. «Bei weiblichen Jugendlichen geht es um Anerkennung, um Liebesbeweise.» Viele hätten das Gefühl, dass dies zu einer guten Beziehung dazugehöre. «Jungs hingegen geht es oft um die Selbstdarstellung, um zu zeigen, was man hat.» Einige Knaben erhofften sich auch, dass sie mit eigenen Sexbildern auf Trophäensammlung gehen könnten, also im Sinne von: Ich schicke dir meins, und du schickst mir deins.

In Umlauf kommen jedoch meistens nur Fotos und Videos von nackten Mädchen. «Für Jungs sind solche Bilder eine Art Pokal, den sie gerne herumzeigen.» Bei weiblichen Teenagern aber stossen explizite Bilder von jungen Männern eher ab. Oder wie es Jugendanwältin Eberle formuliert: «Ich kenne keinen Fall, bei dem ein Mädchen ein solches Bild herumgeschickt hätte.» Vielmehr weiss sie von jungen Männern, die eigenhändig ihre Nacktbilder in Umlauf brachten. «Sie stellten das Material in den Klassenchat. Es ging ihnen dabei wohl darum, zu zeigen, wie potent sie sind.»

Doch das Veröffentlichen von Nacktbildern birgt grosse Gefahren. Ist ein solches Foto erst einmal in einem Gruppenchat erschienen, kann es sich rasend schnell verbreiten. Das weiss auch Simone Eberle: Es sei illusorisch zu glauben, die Publikation des Materials stoppen zu können. «Auch mit einem Strafverfahren können wir das nicht mehr aufhalten.» Und was empfiehlt sie Eltern in einem solchen Fall? «Es ist allgemein wichtig, dass sie mit ihrem Kind über das sprechen, was digital passiert.» Sie sollten laut der Jugendanwältin aber auch technisch am Ball bleiben – um zu wissen, womit ihr Kind überhaupt konfrontiert ist. «Es kann zum Beispiel nicht schaden, selbst eine App wie Snapchat herunterzuladen und auszuprobieren.»


Videos von Sex mit Tieren machen die Runde

Verbotene Pornografie muss dabei nicht immer von Jugendlichen stammen. Oft tauchen auch Filmchen auf, in denen Menschen beim Sex mit Tieren zu sehen sind. Samuel hatte ebenfalls solche Videos auf dem Handy. Etwa jenes, in dem ein Hund einem Mann den Penis leckt. In der Einvernahme sagt er: «Ich wusste gar nicht, dass ich das auf dem Handy habe. An diesen Film kann ich mich nicht erinnern.» Das ist durchaus glaubwürdig, denn viele haben bei Whatsapp die Funktion des automatischen Speicherns aktiviert. Alle Fotos und Videos werden dadurch direkt auf der Festplatte des Handys archiviert.
Noch mehr als die Zunahme der Pornografie-Fälle beschäftigt die Behörden der Anstieg von Gewaltdarstellungen. Im vergangenen Jahr wurde gegen 56 Jugendliche ein Strafverfahren eröffnet, 2016 waren es noch 18. Sie alle hatten Videos von massiver Gewalt wie etwa der Tötung von Menschen oder Tieren verbreitet oder auf ihrem Handy abgespeichert.

Auch die 12-jährige Tatjana* stellt eines Tages ein grausames Filmchen in den Klassenchat. Darin ist zu sehen, wie einem Mann der Kopf abgehackt wird. Warum tat sie das? In der Einvernahme sagt sie:

Ich habe zuerst geschrieben, dass ich ein grausiges Video hätte. Einige haben dann geschrieben, ich solle es schicken. Also habe ich es geschickt.

Was denkst du, haben die anderen Kinder gedacht, die das Video gesehen haben?
Ich weiss nicht. Sie fanden es sicher auch grausig. Einige Kollegen waren geschockt. Zwei in der Schule fanden es lustig. Ich sagte ihnen dann, dass es nicht lustig sei.

Was für ein Gefühl hattest du, als du das Video angeschaut hast?
Ich habe nichts Schlimmes gedacht, ich dachte, es sei nicht echt, sondern nur nachgemacht.

Wäre es dann weniger schlimm?
Keine Ahnung.

Was denkst du heute über die Angelegenheit?
Das nächste Mal überlege ich und frage Mami oder Papi, wenn was ist.

Der Fall zog weitere Kreise. An ihm kann man genau sehen, in welcher Windeseile sich solche Videos verbreiten – und mit welchem Mechanismus.

Nachdem Tatjana den grausamen Film in den Klassenchat gestellt hatte, schaute ihn sich Alex* an. Der 12-Jährige war aufgewühlt und erzählte davon seinem Freund David*, 11 Jahre alt. Dieser wollte das Video auch unbedingt haben – um es seiner gleichaltrigen Kollegin Sina* zu geben. Auch sie hatte um das Video gebeten. In der Einvernahme sagt Alex: «David hat so lange gebettelt, bis ich ihm das Video weitergesendet habe.» Am Ende ist es die Mutter einer Freundin von Sina, die den Teufelskreis unterbricht. Sie informiert die Schulleitung. Diese erstattet schliesslich Anzeige.

«Einer hat das Video geschickt, um die anderen zu nerven»

Wie weit verbreitet solche Videos sind, zeigt sich auch am Beispiel von Samuel. Auf seinem Handy fanden die Ermittler nicht nur den Sexfilm mit seiner Ex-Freundin, sondern auch eine Vielzahl von Greuelvideos. In einem ist etwa zu sehen, wie die Geschlechtsteile von verschiedenen Männern malträtiert werden, in einem anderen springt eine Person von einem Strommast und begeht Selbstmord. «Mein Handy ist voll von dem Scheiss», erklärt Samuel in der Einvernahme. All diese Sachen habe er in Gruppenchats auf Whatsapp erhalten. «Einer hat das geschickt, um die anderen zu nerven.»

Was haben Sie mit dem Strommast-Video gemacht?
Angeschaut. Ich war schockiert und angeekelt. Dann habe ich den Nächsten mit dem Video genervt.

Was treibt Jugendliche an, anderen solche Videos zu senden? Laut Jugendanwältin Simone Eberle schaukeln sie sich gegenseitig hoch. «‹Ich wollte noch etwas Grusigeres schicken›, höre ich dann oft», sagt sie. Also nach dem Motto: Wer wagt mehr? Wer hat das krassere Filmchen? In Gruppenchats herrschten teilweise besondere Dynamiken. Alles geht schneller als auf dem Pausenhof. «Die Barriere, etwas Grenzwertiges zu bringen, ist deutlich tiefer als in der realen Welt. Das Handy baut Hemmungen ab.»

Laut der Studie «EU Kids Online Schweiz» haben bereits 22 Prozent aller Jugendlichen Gewaltdarstellungen gesehen – viele davon unabsichtlich, weil sie solche Videos ungefragt zugeschickt bekommen haben.


Was Gewaltvideos anbelangt, stellen die Jugendanwaltschaften des Kantons Zürich einen Trend fest: die Herstellung von eigenen Brutalo-Filmchen. Wie das funktioniert, zeigt der Fall von Luca*.

Der damals 15-Jährige ist mit ein paar Freunden unterwegs. Zusammen gehen sie in einen Park. «Dann wollte dort einer ‹schleglä›», erzählt Luca in der Einvernahme. «Man sagte mir, ich solle filmen, was ich auch tat.» Luca zückt sein Handy und hält auf dem Telefonspeicher fest, wie ein Junge aus seiner Schule einen anderen Knaben mit Fäusten und Tritten traktiert. «Danach schickte ich den Film an drei Kollegen.» Dadurch hat er sich strafbar gemacht. Denn gemäss Strafgesetzbuch ist es verboten, Gewaltdarstellungen zu filmen und zu verbreiten – ausser man übergibt sie ausschliesslich zu Beweiszwecken der Polizei.
Dass sich Jugendliche bei Schlägereien filmten, sei ein neues Phänomen, erklärt Jugendanwältin Simone Eberle. Das bestätigt auch Priska Dabkowska, Programmverantwortliche für Medienkompetenz bei Pro Juventute. Zwar sei bereits vor etwa zehn Jahren das Phänomen «happy slapping» aufgetaucht, bei dem Ahnungslosen Ohrfeigen verteilt worden seien. Nun aber würden die Opfer mit Fäusten und Tritten traktiert und dabei gefilmt. «Die Motivation dabei ist, allen zu zeigen, wozu man fähig ist. Und mit dem Video wird dafür gleich der Beweis mitgeliefert», sagt Dabkowska.

Egal ob Tierpornos, eigene Sexfilmchen oder Aufnahmen von krasser Gewalt: Wer solche Daten herstellt, auf seinem Handy speichert oder weiterleitet, macht sich immer strafbar. Das mussten Samuel, Tatjana, Alex, David und Luca auf die harte Tour lernen. Sie alle wurden am Ende per Strafbefehl verurteilt. Aus ihrer Erfahrung weiss Simone Eberle, dass bei solchen Vergehen oftmals eher unauffällige Jugendliche ins Visier der Justiz geraten. «Die meisten kommen nur einmal mit dem Gesetz in Konflikt und gehen danach relativ unauffällig durchs Leben.»
* Namen geändert.


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