Im Sommer 2017 hat sich
Samuel* beim Sex mit seiner damaligen Freundin gefilmt. Warum er das gemacht
hat, kann er heute nicht mehr sagen. Klar ist nur, dass er deswegen ein gutes
Jahr später vor einer Jugendanwältin sitzt und peinliche Fragen beantworten muss.
Warum sich Teenager verbotene Pornos und Köpfungsvideos zuschicken. NZZ, 15.8. von Florian Schoop
Wessen Idee war es, den Geschlechtsverkehr zu filmen?
Meine.
Was haben Sie mit dem Film
gemacht?
Eine Zeit lang gar nichts,
bis ich ihn dann auf Snapchat stellte.
Snapchat, diese App, die
bekannt ist für ihre lustigen Filter, Snapchat, der Nachrichtendienst, bei dem
gepostete Fotos und Videos nur für kurze Zeit online sind und sich dann selbst
zerstören, dieses Snapchat ist Samuel zum Verhängnis geworden. Der damals
16-Jährige ging wie viele davon aus, dass ein Film nur ein paar Minuten online
ist und dann von selbst verschwindet. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass
jemand sein Video aufzeichnet und dann der ganzen Welt zugänglich macht.
Der Film sei nicht einmal
fünf Minuten online gewesen, beteuert der junge Mann. «Er hatte zuerst nur eine
gewisse Reichweite», erklärt er in der Einvernahme der Jugendanwältin. «Doch
dann konnte ich es nicht mehr aufhalten.»
Wie denken Sie, wirkte
sich die Veröffentlichung des Films auf Ihre damalige Freundin aus?
Schlimm. Aber ich habe mich dadurch auch selber zum Opfer gemacht. Ich leide
genauso darunter wie sie.
Was denken Sie
rückblickend über Ihr Verhalten?
Ich würde das nie mehr
machen.
Zunahme von verbotener Pornografie
Die Geschichte von Samuel
ist einer von drei Fällen von illegaler Pornografie und Gewaltdarstellungen, in
welche die NZZ in anonymisierter Form Einblick erhalten hat. Sie stehen
symptomatisch für ein Phänomen, das dank immer besseren Smartphones und immer
günstigeren Flat-Rate-Abos an Bedeutung gewinnt. Dies zeigen neuste Zahlen der
Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich. In den vergangenen Jahren ist die
Zahl der Strafverfahren wegen Pornografie deutlich angestiegen. Während 2015
deswegen noch gegen 39 Jugendliche ermittelt wurde, waren es 2018 bereits 84.
Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer dürfte viel höher
sein.
In jedem dritten Fall
spielte selbst erstelltes pornografisches Material eine Rolle. Denn wer unter
16 Jahre alt ist und sich nackt fotografiert oder bei sexuellen Handlungen
aufzeichnet, macht sich der Herstellung von Kinderpornografie strafbar. Dies
war auch bei Samuel der Fall. Seine damalige Freundin war erst 15-jährig, als
er sie und sich selbst beim Geschlechtsverkehr filmte. Aber nicht nur die
Herstellung von solchem Bildmaterial ist strafbar. Auch das Weiterleiten oder
das Speichern wird rechtlich geahndet.
Laut der Studie «EU Kids
Online Schweiz», die im Mai erschienen ist und bei der über 1000 Schülerinnen
und Schüler befragt wurden, haben im Durchschnitt bereits 24 Prozent der
Teilnehmer sexuelle Nachrichten erhalten. Der Anteil steigt gar auf 42 Prozent
bei den 15- bis 16-Jährigen. 3 bis 10 Prozent der Befragten haben schon selbst
sexuelle Nachrichten verschickt. Und 2 Prozent der 11- bis 16-Jährigen
gaben an, schon von jemandem erpresst worden zu sein, der im Besitz von
sexuellen Nachrichten war.
Die Behörden stellen dabei
ein neues Phänomen fest: Während früher primär Fotos von Mädchen in expliziter
Pose die Runde machten, filmen sich heute vermehrt auch männliche Teenager bei
sexuellen Handlungen oder erstellen Nacktbilder von sich. Aber was ist die Motivation
dahinter?
Simone Eberle,
Jugendanwältin bei der Jugendanwaltschaft Zürich-Stadt, ist häufig mit solchen
Fällen konfrontiert. Sie stellt fest, dass sich Mädchen und Knaben aus
unterschiedlichen Gründen explizit ablichten. «Bei weiblichen Jugendlichen geht
es um Anerkennung, um Liebesbeweise.» Viele hätten das Gefühl, dass dies zu
einer guten Beziehung dazugehöre. «Jungs hingegen geht es oft um die
Selbstdarstellung, um zu zeigen, was man hat.» Einige Knaben erhofften sich
auch, dass sie mit eigenen Sexbildern auf Trophäensammlung gehen könnten, also
im Sinne von: Ich schicke dir meins, und du schickst mir deins.
In Umlauf kommen jedoch
meistens nur Fotos und Videos von nackten Mädchen. «Für Jungs sind solche
Bilder eine Art Pokal, den sie gerne herumzeigen.» Bei weiblichen Teenagern
aber stossen explizite Bilder von jungen Männern eher ab. Oder wie es
Jugendanwältin Eberle formuliert: «Ich kenne keinen Fall, bei dem ein Mädchen
ein solches Bild herumgeschickt hätte.» Vielmehr weiss sie von jungen Männern,
die eigenhändig ihre Nacktbilder in Umlauf brachten. «Sie stellten das Material
in den Klassenchat. Es ging ihnen dabei wohl darum, zu zeigen, wie potent sie
sind.»
Doch das Veröffentlichen
von Nacktbildern birgt grosse Gefahren. Ist ein solches Foto erst einmal in
einem Gruppenchat erschienen, kann es sich rasend schnell verbreiten. Das weiss
auch Simone Eberle: Es sei illusorisch zu glauben, die Publikation des
Materials stoppen zu können. «Auch mit einem Strafverfahren können wir das
nicht mehr aufhalten.» Und was empfiehlt sie Eltern in einem solchen Fall? «Es
ist allgemein wichtig, dass sie mit ihrem Kind über das sprechen, was digital
passiert.» Sie sollten laut der Jugendanwältin aber auch technisch am Ball
bleiben – um zu wissen, womit ihr Kind überhaupt konfrontiert ist. «Es kann zum
Beispiel nicht schaden, selbst eine App wie Snapchat herunterzuladen und
auszuprobieren.»
Videos von Sex mit Tieren machen die Runde
Verbotene Pornografie muss
dabei nicht immer von Jugendlichen stammen. Oft tauchen auch Filmchen auf, in
denen Menschen beim Sex mit Tieren zu sehen sind. Samuel hatte ebenfalls solche
Videos auf dem Handy. Etwa jenes, in dem ein Hund einem Mann den Penis leckt.
In der Einvernahme sagt er: «Ich wusste gar nicht, dass ich das auf dem Handy
habe. An diesen Film kann ich mich nicht erinnern.» Das ist durchaus
glaubwürdig, denn viele haben bei Whatsapp die Funktion des automatischen
Speicherns aktiviert. Alle Fotos und Videos werden dadurch direkt auf der
Festplatte des Handys archiviert.
Noch mehr als die Zunahme
der Pornografie-Fälle beschäftigt die Behörden der Anstieg von
Gewaltdarstellungen. Im vergangenen Jahr wurde gegen 56 Jugendliche ein
Strafverfahren eröffnet, 2016 waren es noch 18. Sie alle hatten Videos von
massiver Gewalt wie etwa der Tötung von Menschen oder Tieren verbreitet oder
auf ihrem Handy abgespeichert.
Auch die 12-jährige
Tatjana* stellt eines Tages ein grausames Filmchen in den Klassenchat. Darin
ist zu sehen, wie einem Mann der Kopf abgehackt wird. Warum tat sie das? In der
Einvernahme sagt sie:
Ich habe zuerst
geschrieben, dass ich ein grausiges Video hätte. Einige haben dann geschrieben,
ich solle es schicken. Also habe ich es geschickt.
Was denkst du, haben die
anderen Kinder gedacht, die das Video gesehen haben?
Ich weiss nicht. Sie
fanden es sicher auch grausig. Einige Kollegen waren geschockt. Zwei in der
Schule fanden es lustig. Ich sagte ihnen dann, dass es nicht lustig sei.
Was für ein Gefühl hattest
du, als du das Video angeschaut hast?
Ich habe nichts Schlimmes
gedacht, ich dachte, es sei nicht echt, sondern nur nachgemacht.
Wäre es dann weniger
schlimm?
Keine Ahnung.
Was denkst du heute über
die Angelegenheit?
Das nächste Mal überlege
ich und frage Mami oder Papi, wenn was ist.
Der Fall zog weitere
Kreise. An ihm kann man genau sehen, in welcher Windeseile sich solche Videos
verbreiten – und mit welchem Mechanismus.
Nachdem Tatjana den grausamen Film in den Klassenchat gestellt hatte, schaute
ihn sich Alex* an. Der 12-Jährige war aufgewühlt und erzählte davon seinem
Freund David*, 11 Jahre alt. Dieser wollte das Video auch unbedingt haben – um
es seiner gleichaltrigen Kollegin Sina* zu geben. Auch sie hatte um das Video
gebeten. In der Einvernahme sagt Alex: «David hat so lange gebettelt, bis ich
ihm das Video weitergesendet habe.» Am Ende ist es die Mutter einer Freundin
von Sina, die den Teufelskreis unterbricht. Sie informiert die Schulleitung.
Diese erstattet schliesslich Anzeige.
«Einer hat das Video geschickt, um die
anderen zu nerven»
Wie weit verbreitet solche
Videos sind, zeigt sich auch am Beispiel von Samuel. Auf seinem Handy fanden
die Ermittler nicht nur den Sexfilm mit seiner Ex-Freundin, sondern auch eine
Vielzahl von Greuelvideos. In einem ist etwa zu sehen, wie die Geschlechtsteile
von verschiedenen Männern malträtiert werden, in einem anderen springt eine
Person von einem Strommast und begeht Selbstmord. «Mein Handy ist voll von dem
Scheiss», erklärt Samuel in der Einvernahme. All diese Sachen habe er in
Gruppenchats auf Whatsapp erhalten. «Einer hat das geschickt, um die anderen zu
nerven.»
Was haben Sie mit dem
Strommast-Video gemacht?
Angeschaut. Ich war
schockiert und angeekelt. Dann habe ich den Nächsten mit dem Video genervt.
Was treibt Jugendliche an,
anderen solche Videos zu senden? Laut Jugendanwältin Simone Eberle schaukeln
sie sich gegenseitig hoch. «‹Ich wollte noch etwas Grusigeres schicken›, höre
ich dann oft», sagt sie. Also nach dem Motto: Wer wagt mehr? Wer hat das
krassere Filmchen? In Gruppenchats herrschten teilweise besondere Dynamiken.
Alles geht schneller als auf dem Pausenhof. «Die Barriere, etwas Grenzwertiges
zu bringen, ist deutlich tiefer als in der realen Welt. Das Handy baut
Hemmungen ab.»
Laut der Studie «EU Kids Online Schweiz» haben bereits 22 Prozent aller
Jugendlichen Gewaltdarstellungen gesehen – viele davon unabsichtlich, weil sie
solche Videos ungefragt zugeschickt bekommen haben.
Was Gewaltvideos
anbelangt, stellen die Jugendanwaltschaften des Kantons Zürich einen Trend
fest: die Herstellung von eigenen Brutalo-Filmchen. Wie das funktioniert, zeigt
der Fall von Luca*.
Der damals 15-Jährige ist
mit ein paar Freunden unterwegs. Zusammen gehen sie in einen Park. «Dann wollte
dort einer ‹schleglä›», erzählt Luca in der Einvernahme. «Man sagte mir, ich
solle filmen, was ich auch tat.» Luca zückt sein Handy und hält auf dem
Telefonspeicher fest, wie ein Junge aus seiner Schule einen anderen Knaben mit
Fäusten und Tritten traktiert. «Danach schickte ich den Film an drei Kollegen.»
Dadurch hat er sich strafbar gemacht. Denn gemäss Strafgesetzbuch ist es
verboten, Gewaltdarstellungen zu filmen und zu verbreiten – ausser man übergibt
sie ausschliesslich zu Beweiszwecken der Polizei.
Dass sich Jugendliche bei
Schlägereien filmten, sei ein neues Phänomen, erklärt Jugendanwältin Simone
Eberle. Das bestätigt auch Priska Dabkowska, Programmverantwortliche für
Medienkompetenz bei Pro Juventute. Zwar sei bereits vor etwa zehn Jahren das
Phänomen «happy slapping» aufgetaucht, bei dem Ahnungslosen Ohrfeigen verteilt
worden seien. Nun aber würden die Opfer mit Fäusten und Tritten traktiert und
dabei gefilmt. «Die Motivation dabei ist, allen zu zeigen, wozu man fähig ist.
Und mit dem Video wird dafür gleich der Beweis mitgeliefert», sagt Dabkowska.
Egal ob Tierpornos, eigene
Sexfilmchen oder Aufnahmen von krasser Gewalt: Wer solche Daten herstellt, auf
seinem Handy speichert oder weiterleitet, macht sich immer strafbar. Das
mussten Samuel, Tatjana, Alex, David und Luca auf die harte Tour lernen. Sie
alle wurden am Ende per Strafbefehl verurteilt. Aus ihrer Erfahrung weiss
Simone Eberle, dass bei solchen Vergehen oftmals eher unauffällige Jugendliche
ins Visier der Justiz geraten. «Die meisten kommen nur einmal mit dem Gesetz in
Konflikt und gehen danach relativ unauffällig durchs Leben.»
* Namen geändert.
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