16. Mai 2019

Ende der Kreidezeit


Obwohl immer mehr Untersuchungen zutage fördern, dass digitale Hilfsmittel das Lernen eher behindern als befördern, hält der Trend zur Computerisierung des Klassenzimmers an. Schulen sind Orte von Menschen und für Menschen, und Lernen braucht Zeit. Es digitaler Bequemlichkeit zu unterwerfen, ist ein Fehler.
Zierer:"Jedes Kind hat ein Recht auf eine humane Schule", Bild: Universität Augsburg

Wenn das Handy noch in der Schultasche stört – die digitale Bildungsrevolution zeitigt ernüchternde Resultate, NZZ, 16.5. von Klaus Zierer


Die Kreidezeit ist zu Ende, die Tafel ist tot: Smartboard und Powerpoint haben gewonnen. Diese Erfahrung lässt sich bereits heute an vielen Schulen machen. Und dort, wo es noch nicht der Fall ist, werden Strukturmassnahmen wie zum Beispiel der fünf Milliarden Euro umfassende Digitalpakt in Deutschland der Kreidezeit den Todesstoss versetzen. Endlich, werden viele sagen: Nur so kann man den Anschluss halten, um im globalen Wettbewerb nicht abzufallen. Angst, nicht mehr über das Geld zu verfügen, das die Welt regiert, wird verbreitet und Digitalisierung verherrlicht. Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten.

So zeigen die immer zahlreicher werdenden Studien zur Wirksamkeit von digitalen Medien auf die Lernleistungen im Durchschnitt nur mässige Effekte, wie in der aktuellen Übersicht von «Visible Learning» nachzulesen ist. Mit über 1400 Metaanalysen, die selbst über 85 000 Einzelstudien umfassen, wertet «Visible Learning» einen, vielleicht sogar den grössten Datensatz der empirischen Bildungsforschung aus: Nicht in Mathematik, nicht in den Naturwissenschaften, nicht beim Lesen und auch nicht beim Schreiben sind Leistungszuwächse nachweisbar, welche die Hoffnungen nach einer digitalen Bildungsrevolution rechtfertigen würden.

Powerpoint, zum Beispiel
Allem voran werden für Powerpoint kaum positive Effekte nachgewiesen, häufig sind sogar negative Effekte möglich: weil Lehrpersonen schneller sprechen, weil Argumentationsstränge nicht mehr Schritt für Schritt entstehen und weil Lernende in verdunkelten Klassenzimmern stets dem Dilemma ausgesetzt sind: Folgen sie der Lehrperson oder lesen sie die Folien?

Je mehr Zeit Kinder und Jugendliche mit Smartphones verbringen, desto schlechter sind die schulischen Leistungen.

Ähnlich ernüchternd sind die Ergebnisse aus einer aktuellen Metaanalyse zu den Effekten der Lesesoftware «Accelerated Reader» – dem englischsprachigen Pendant von Antolin & Co. und damit einem digitalen Angebot zur Leseförderung mit kompetitiver Punktesammelfunktion. Das Ergebnis: geringe Wirksamkeit für die Leseleistung. Und selbst die mittleren Effekte auf die Lesemotivation sind problematisch, denn nicht Lesen und Lernen stehen im Fokus, sondern der Wettbewerb.

Punkto Schreiben hat bereits 2014 die Studie «The Pen is mightier than the Keyboard» offenbart, dass Lernende besser und nachhaltiger lernen, wenn sie mit Papier und Bleistift dem Unterricht folgen und nicht einen Laptop für Notizen benutzen. In Zeiten von Tablets könnte man meinen, dass dieses Ergebnis aber schon veraltet ist. Denn schreiben kann man am Tablet nahezu genauso wie mit Papier und Bleistift. Allerdings belegt die Studie «Don’t throw away your printed books», dass selbst dann das Lesen und Lernen vom Papier dem Lesen und Lernen am Tablet überlegen ist. Ein Grund dafür ist, dass Lernende vom Papier langsamer und gründlicher lesen, wohingegen am Tablet schneller und oberflächlicher gelesen wird – vieles wird weggewischt.

Der Mensch im Mittelpunkt
Nicht viel anders steht es um die Wirksamkeit von «Flipped Classroom» auf die Lernleistung. Für viele ist diese Methode derzeit der Nukleus der Digitalisierung: Lehrpersonen verlagern Inputphasen aus der Schule in die Eigenverantwortung der Lernenden, um im Unterricht mehr Zeit für Gespräche zu haben. So faszinierend diese Idee ist, die Effekte sind ernüchternd.

Bleibt der Schluss: Medien, ob digital oder analog, sind bloss Hilfsmittel des Unterrichts. Entscheidend für ihre Wirksamkeit ist und bleibt die Professionalität von Lehrpersonen. Setzen Lehrpersonen Technik um der Technik willen ein, zeigen empirische Studien, dass digitale Medien sogar zu negativen Effekten führen können.

Die Studie «Brain Drain» ist in diesem Zusammenhang das bekannteste Beispiel: Allein das Vorhandensein des Smartphones reduziert die Aufmerksamkeit und die Leistungsfähigkeit. Auf Facebook und Twitter machen gegenwärtig Bilder die Runde, die zeigen, dass in einer einzigen Unterrichtseinheit Hunderte von Nachrichten Kinder und Jugendliche erreichen, wenn sie ihr Smartphone eingeschaltet lassen. Je mehr Zeit Kinder und Jugendliche mit Smartphones verbringen, desto schlechter sind die schulischen Leistungen.

Mit den Geldern, die für die digitale Transformation zur Verfügung stehen, werden Schulen sich verändern. Werden die Mittel vornehmlich in digitale Medien investiert und werden diese dann so eingesetzt, wie es aus der Forschung bis jetzt bekannt ist, dann wird sich im Unterricht wenig ändern, manches sich mit Sicherheit verschlechtern. Digitale Medien können aus einem gewöhnlichen Unterricht keinen guten machen, obschon sie das Potenzial haben, aus einem guten Unterricht einen noch besseren zu machen.

Schulen sind Orte von Menschen und für Menschen. Der Mensch muss im Zentrum stehen. Es geht um Bildung und damit um die Frage, was uns Menschen zu Menschen macht und wie wir unsere Möglichkeiten als Mensch für uns und unsere Mitmenschen nutzen können. Das bedeutet aber, dass Pädagogik der Technik vorgeht. Jedes Kind hat ein Recht auf eine humane Schule – auch oder gerade im Zeitalter der Digitalisierung.

Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.


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