Der Postbote würde die Briefe per Propellerflugzeug ausliefern, und es
würde einen elektrischen Schrubber geben. In der Schule würde der Lehrer Bücher
maschinell elektrifizieren, während die Schülerinnen und Schüler den Inhalt per
Kopfhörer aufnehmen. So stellte man sich um 1900 vor, wie die Welt im Jahr 2000
funktionieren würde. In der Postkartenserie «en l’an 2000» wird ersichtlich, dass
Visionen einer technologisierten Arbeits- und Bildungswelt der Zukunft schon
länger en vogue sind.
Illustration von Jean-Marc Coté aus dem Jahr 1899
Schulen hinken in Sachen Digitalisierung nach, NZZaS, 11.4. von Sarah Genner
Digitale Transformation prägt die aktuelle Arbeitswelt. Neue
Technologien verändern Geschäftsmodelle und Arbeitsprozesse. Mobile Geräte ermöglichen
neue Arbeitsformen und Interaktionsmöglichkeiten mit der Kundschaft.
Beratungsfirmen propagieren Disruption, Revolution und gigantische
Möglichkeiten, dank Big Data, künstlicher Intelligenz und Blockchain neue
Geschäftsfelder zu erschliessen. Manch eine Schlagzeile bewirtschaftet aber
auch Ängste, dass Digitalisierung Millionen an Jobs vernichte. Müssen sich
nachrückende Generationen Sorgen um Jobs machen? Welche Kompetenzen sind
gefragt in der Arbeitswelt der Zukunft? Wie muss sich das Schulsystem ändern,
um mit der «Arbeitswelt 4.0» mitzuhalten?
Lochkarte und Big Data
Die IT-Branche sei ungeduldig, liess neulich der
Wirtschaftsverband der ICT- und Online-Branchen verlauten. Man
sei sich einig, dass sich die Schule in Sachen Medien- und Informatikbildung
viel zu langsam entwickle. Gleichzeitig werden immer wieder Argumente ins Feld
geführt, warum angesichts der digitalen Omnipräsenz die Schule ein mehrheitlich
analoger Ort bleiben müsse. Seit Jahren macht Schlagzeilen, dass ausgerechnet jene Eltern,
die im Silicon Valley in der IT-Branche tätig sind, ihre Kinder in vorwiegend
technologiekritische Schulen schicken. Die Debatte, wie Heranwachsende optimal
auf die neue Arbeitswelt vorbereitet werden können, ist emotional und
weltanschaulich geprägt.
Die Kurzformel 4.0 bezeichnet die Umwälzungen der digitalen
Transformation – zu Beginn mehrheitlich in der Industrie. Arbeitswelt 4.0 steht
für das Arbeiten während der laufenden vierten industriellen Revolution.
Während IT-Technologien bereits während der dritten Welle der
Industrialisierung in den 1970ern eine grosse Rolle spielten, war die zweite
Welle durch Elektrizität geprägt und die erste durch Wasser- und Dampfkraft.
Als prägend für die vierte Welle der Industrialisierung gilt das
Internet der Dinge. Nachdem 2011 in Hannover eine Industriemesse unter dem
Motto Industrie 4.0 gestanden hatte, startete die deutsche Bundesregierung das
deutschlandweite Programm Arbeit 4.0. 2016 griff das World Economic Forum die
Formel 4.0 auf. Damit wurde 4.0 global zum Inbegriff der digitalen
Transformation.
Streng genommen gibt es «die» Digitalisierung nicht. Im Prinzip waren
die per Lochkarten automatisierten Webstühle um 1800 bereits «digital». Das
Internet gibt es seit Ende der 1960er Jahre und das WWW seit 30 Jahren.
Computer digitalisieren die Arbeitswelt seit den 1980ern. Im vergangenen
Jahrzehnt sorgte der Smartphone-Boom in Kombination mit Breitbandinternet für
einen spürbaren Wandel für breite Bevölkerungsschichten. Manche sagen
«Digitalisierung» und meinen «papierlos», andere Social Media, Big Data oder
künstliche Intelligenz. Nochmals andere meinen neue Berufsbilder,
Beschleunigung oder agile Arbeitsmethoden.
Konkret bedeutet Arbeitswelt 4.0, dass grosse Teile unserer Lebens- und
Arbeitswelten datentechnisch erfasst, vernetzt, ausgewertet und optimiert
werden können. Maschinen kommunizieren mit Maschinen, Prozesse werden
algorithmisch gesteuert. Über Smartphones sind Menschen potenziell immer und
überall vernetzt. Neben den Vor- und Nachteilen der ständigen digitalen
Erreichbarkeit ist Cybersicherheit ein Thema, aber auch agile Projektmethoden
und Organisationsformen aus der Software-Branche wie Scrum und Holacracy. Räumlich bedeuten mobil-flexible
Arbeitsformen neben Home-Office Flex-Desks, mobiles Arbeiten unterwegs und
Co-Working-Spaces.
Führung wandelt sich im digitalen Zeitalter insofern, als mehr
Selbstführung erforderlich ist, da mehr über räumliche Distanz und digitale
Kanäle geführt wird. Eine Organisationskultur muss daher noch mehr von
gemeinsamen Zielen und Werten leben. Es braucht zudem mehr Austausch darüber,
wie man zusammenarbeitet inmitten der Vielzahl von Tools. Geteilte Dokumente
sind noch lange kein geteiltes Verständnis.
Am meisten Schlagzeilen macht der potenzielle Jobverlust durch
Digitalisierung. Eine Studie von zwei Oxford-Forschern hat
eruiert, dass 47 Prozent der aktuellen Jobs wegdigitalisiert werden könnten.
Arbeitnehmende machen sich Sorgen um ihren Job, Eltern um die Zukunft ihrer
Kinder. Die Angst, dass Maschinen Menschen Arbeit wegnehmen, ist so alt wie die
Industrialisierung selbst: 1832 brannte in Uster eine Textilfabrik, zur
selben Zeit zerschlugen in England die Ludditen Maschinen.
Historisch betrachtet, hat jede Automatisierungswelle tatsächlich Jobs
gekostet, aber unter dem Strich deutlich mehr davon generiert.
Technologisierung führte jeweils zu einer höheren Nachfrage nach Arbeit, zu
höherer Produktivität und höheren Löhnen, aber auch zu einer Polarisierung: Die
Gewinne wurden ungleich verteilt. Das Ende der Arbeit ist nicht in Sicht. Das
zeigen auch neue Zahlen aus der Schweiz: Digitalisierung schafft deutlich mehr
Jobs, als sie frisst.
Beratungsfirmen propagieren, die Schweiz müsse ihr Bildungssystem
überdenken, um als Volkswirtschaft überleben zu können. Dabei vergessen sie
wohl, dass die Schweiz mit dem dualen Bildungssystem im Vergleich zu fast allen
anderen Ländern nicht nur punkto Jugendarbeitslosigkeit, sondern auch im
technologischen Wandel einen immensen Vorteil hat: Die aktuellsten berufs- und
branchenspezifischen Technologien können «on the job» erlernt werden. Zahllose
internationale Delegationen pilgern in die Schweiz, weil sie dieses System in
ihrem Land nachzubauen hoffen.
Das Klischee, jüngere Generationen seien per se digital kompetenter,
bröckelt zunehmend. Fehlende digitale Berührungsängste und die souveräne
Bedienung von Social-Media-Apps machen noch keine digitale Kompetenz. Dazu
gehören auch kritisches Denken im Umgang mit digitalen Quellen, Sozialkompetenz
in der Online-Kommunikation, ein Wissen über sichere Passwörter, digitale
Privatsphäre und die Fähigkeit, sich von permanenten digitalen Ablenkungen
abzuschirmen. Digitale Gräben sind immer weniger von Generationen geprägt,
sondern viel mehr von Bildungsniveau, Persönlichkeit und Technologie-Affinität.
Neben digitalen Kompetenzen seien gerade im digitalen Zeitalter
menschliche Fähigkeiten wie Kreativität oder soziale Kompetenzen besonders
wichtig, weil Menschen damit Maschinen überlegen seien. Dies betonen
Arbeitsmarktexperten wie auch führende Köpfe von IT-Firmen. Gerade soziale und
persönliche Kompetenzen können jedoch im ausserschulischen Bereich am besten
vermittelt werden: durch Eltern, Bezugspersonen, in Jugendgruppen und in
Berufslehren. Auch hier gilt es das duale Bildungssystem zu verteidigen.
Langer Atem
Das Schweizer Bildungssystem wird stark aufgerüstet: Mit dem Lehrplan 21
wurden das Modul und das Fach «Medien und Informatik» neu eingeführt.
An den pädagogischen Hochschulen laufen die entsprechenden Weiterbildungen auf
Hochtouren.
Weiterbildungskurse sind auf Jahre ausgebucht. Die Zürcher
Hochschulen haben soeben eine grosse Digitalisierungsinitiative angestossen,
und im nationalen Forschungsprogramm «Digitale Transformation» ist Bildung ein
Schwerpunkt. Für Medienpädagogin Rahel Tschopp sind die wichtigsten
Herausforderungen für Digitalisierung und Schule: Commitment von Schulpflege,
Schulleitung und Lehrpersonen, inhaltlicher Konsens, funktionierende
Infrastruktur, technischer und pädagogischer Support. Das ist wenig disruptiv,
sondern bedeutet Konsensfindung, Weiterbildung – und vor allem einen langen
Atem.
Der Text ist ein Auszug aus einem Referat von Dr. Sarah Genner anlässlich
der Informatiktage der Zürcher Hochschule für
Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
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