Kann es angehen, dass die Einteilung in
eine Realschule Familien in Kummer und Sorgen stürzt? Nein, findet
«Bluewin»-Kolumnistin Kerstin Degen – warum bloss entscheiden in unserer
Gesellschaft gute Schulleistungen über die soziale Anerkennung?
Realschule - der Anfang vom Ende? Bluewin, 23.4. von Kerstin Degen
Kaum weicht der bunt bebilderte,
ergonomisch geprüfte Schulthek in Pink und Blau dem lässigeren, weniger
ergonomischen Rucksack, da steht unser Nachwuchs schon vor der Frage nach der
Berufswahl. Zumindest vermeintlich, scheint die Einteilung in die Oberstufe
hierzulande doch über die Karrierechancen zu entscheiden – und überhaupt über
den sozialen Status.
Dabei sind die Halbwüchsigen gerade
einmal zwölf Jahre alt, stehen in der pubertären Blüte, haben Schmetterlinge im
Bauch. Mathematik und Französisch? Nebensache. Verständlich, nicht? Oder ist
Ihnen etwa Mathe nicht aus dem Kopf gegangen, als Sie Zahnspange trugen und
Pubertätspickel hatten?
Büffeln bis die Köpfe qualmen
Sicher, es gibt Mittelschüler, die mit derart glänzenden Noten gesegnet sind, dass alles ein Selbstläufer ist. Doch andernfalls wird gebüffelt, bis die Köpfe rauchen, selbst wenn Mami und Papi dafür auch nochmal in die Bresche springen müssen. Das unbedingte Ziel: Die gymnasiale Matura oder eben die sekundäre Schulausbildung mit höchstmöglichem Anspruch.
Nun gibt es in der Schweiz ja die kantonalen Unterschiede, was die Bezeichnungen der Schulen auf Sekundärstufe anbelangt. Doch Fakt ist: Spätestens zu Beginn der fünften Klasse beginnt das grosse Zittern. Reichen die Noten fürs Gymi? Oder zumindest die SEK A? Denn hier liesse sich ja noch auf einen Aufstieg hoffen.
Den Bildungsweg mit dem geringsten Anforderungsniveau, vielerorts bekannt als Realschule, gilt es jedenfalls grossräumig zu umschiffen. Denn da landen doch nur die dummen Kinder, die Schulversager, die fortan auf einem absteigenden Ast befindlich sind – ein ebenso anmassendes wie ungerechtfertigtes Vorurteil, das sich in unserer leistungsorientierten Gesellschaft dennoch hartnäckig hält. Leider.
Zeit zum Umdenken
«Realschüler werden oft als «Kellerkinder» wahrgenommen.» zitierte die Aargauerzeitung 2016 die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Auf unsere Nachfrage, ob diese Wahrnehmung auch heute noch bestehe, erhalten wir eine verstörende Antwort: «Meiner Meinung nach hat sich diese Haltung sogar verstärkt», sagt Margrit Stamm. «Der Akademisierungstrend führt dazu, dass der Schulabschluss zum Statussymbol geworden ist. Tritt ein Kind ins Gymnasium ein, erntet die Familie Anerkennung. Andernfalls ist es umgekehrt.»
Doch die Expertin rät auch, zwischen Praxis und Wahrnehmung zu differenzieren. Denn in der Realität zeige sich ein anderes Bild. Oft wiesen Realschüler beispielsweise ein höheres mathematisches Niveau auf als Gymnasiasten, verfügten aber nicht über jene – unter dem Begriff Literacyzusammengefassten – sprachlichen Fertigkeiten. Dies meist aufgrund ihrer Herkunft aus einem anderssprachigen oder bildungsfernen Umfeld.
Zudem habe der Lehrlingsmangel in den
letzten Jahren die Situation für Berufseinsteiger stark verbessert, und auch
Realschullehrer bekräftigen, ihre Schulabgänger vermehrt direkt und mit Erfolg
im Berufsleben platzieren zu können.
Unlängst bin ich in meinem
Bekanntenkreis selbst mit dem hier behandelten Thema konfrontiert worden. Habe
erlebt, wie besorgte Eltern nach Fehlern suchen, am Urteil der Schule zweifeln
und am Ende an ihren eigenen Fähigkeiten. Gerade damit aber geben sie ihrem
Kind (wenn auch unbewusst) verstärkt das Gefühl, auf ganzer Linie versagt zu
haben.
«Die Eltern fühlen sich für den
kindlichen Misserfolg verantwortlich.», bestätigt Stamm. «Glänzt das Kind in
Schule oder Sport, ernten die Eltern viel Lob, beinahe als sei es ihr
Verdienst. Und im umgekehrten Fall wird auch das auf die Eltern zurückgeführt.»
Doch Leistungen entstehen immer aus einem Zusammenspiel zwischen Individuum und
Umfeld, erklärt die Erziehungswissenschafterin. Mittels frühkindlicher
Förderung und Zusatzangeboten glaube man heute, Kinder wie Edelsteine schleifen
zu können. Doch Kinder haben ihre eigene individuelle Entwicklungsgeschichte.
Dies zu akzeptieren, das falle den Eltern zunehmend schwer.
Drogen,
Alkohol und kaum Perspektiven
Welche Ängste führen dazu, dass Eltern,
gerade wenn sie eigentlich das Selbstvertrauen ihres Kindes aufzubauen
gefordert sind, in Selbstzweifel verfallen?
Anskar Roth, Berufs-, Studien- und
Laufbahnberater am Berufsinformationszentrum
(biz) Horgen, vermutet: «Wahrscheinlich hängt diese Sorge mit den
vermeintlich beschränkteren Auswahlmöglichkeiten ihres Kindes in der Berufswahl
zusammen. Bei genauerem Hinschauen stellt man aber oft fest, dass eine gute Sek
B-Schülerin (Realschülerin) genauso gute oder teils sogar bessere Chancen auf
eine Lehrstelle hat wie ein Schüler mit einem schlechten Sek A-Zeugnis. Zudem
sollte das Gewicht der Verhaltens- und Schnupperbewertungen nicht unterschätzt
werden!»
Und weiter gibt Roth zu bedenken, dass
sich auch aus einer Lehre heraus eine spannende Berufskarriere entwickeln kann
– mit einem Doktorat an einer Universität als Höhepunkt. Es müsse also nicht
zwingend direkt das Gymi sein. Wolle man später studieren, sei dies auch mit
einer Berufsmaturität – und gegebenenfalls einer Passerelle – möglich.
Ausschlaggebend
für den späteren Berufserfolg, das betonen beide Stellen, ist jedoch vor allem
die intrinsische Motivation der Kinder. Ein Gymi-Schüler, der ständig mit
Nachhilfestunden und erhobenem Zeigefinger zu Leistungen gepusht werden muss,
erkennt kaum das Zusammenspiel zwischen Eigenregie und Erfolg. Zudem folgt auf
das Gymi häufig ein anspruchsvolles, langjähriges Studium, das solche Kinder
ohne den elterlichen Anstoss kaum durchstehen können.
Charakterbildung statt Nachhilfestunden
Es scheint also höchste Zeit, dass die
Gesellschaft schulische Leistungen nicht mehr mit Lebensglück gleichsetzt.
Schliesslich sei erwiesen, sagt Margrit Stamm, dass Schüler mit herausragenden
Noten oft eine deutlich geringere Frustrationstoleranz und Resilienz aufwiesen
als jene, die schon in jungen Jahren auf Widerstand gestossen seien. Und gerade
Eigenschaften wie Widerstandsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen könnten im
späteren Leben über beruflichen Erfolg oder Misserfolg entscheiden.
Auch die Angst, Realschüler würden
schneller zu Drogen und Alkohol greifen, sei nichts als ein Vorurteil,
bestätigen sowohl der langjährige Berufsberater als auch die
Erziehungswissenschaftlerin. Vielerorts würden Realschule, Sek und Gymnasium
zusammengelegt, um diese vermeintliche Ghettoisierung zu verhindern. Und die
Erfahrung zeige deutlich, dass Jugendliche ganz unabhängig vom Schulniveau auf
die schiefe Bahn geraten könnten.
Fazit:
Liebe Gesellschaft, liebe Eltern, helft,
diese Klischees endlich aus dem Weg zu räumen. Verzichtet auf Begriffe wie
Idiotenschule, stell Eure eigene Eitelkeit zurück und beginnt damit, Euren
Kindern eventuell verlorenes Selbstvertrauen zurückzugeben. Erklärt, dass
zukünftige Arbeitgeber weitaus mehr Interesse am Wesen und Charakter ihrer Angestellten
zeigen als am Schulzeugnis der 6. Klasse. Ermutigt Eure Sprösslinge in ihren
Stärken, auch wenn diese nicht schulischer Natur sind, und gebt ihnen mit, dass
sie in ihrem Leben alles erreichen können, wenn sie aus eigenem Antrieb dazu
bereit sind.
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