Buchbesprechung "Für mein Kind nur das
Beste" (Allan Guggenbühl), Zeit-Fragen, 29. 3., von Marita Koch
«Das Anpassungssyndrom»
Guggenbühl beschäftigt
sich mit dem «Anpassungssyndrom» von seinen natürlichen und notwendigen Formen
bis hin zu seinen problematischen Seiten, auch bei Erwachsenen. Anpassung, so
führt er aus, ist im Prinzip lebensnotwendig. Empathie ist die Fähigkeit, das
Gegenüber einfühlend zu verstehen. Das Kind lernt seine Bezugspersonen zu
verstehen, zu erkennen, was die Eltern von ihm erwarten. Es handelt zunächst
nicht auf Grund von sachlichen Überlegungen und rationaler Einsicht, sondern es
passt sich den Erwartungen der Eltern an, weil es sie liebt, weil es von ihnen
lernt, wie man leben kann, weil es mit ihnen in Harmonie sein möchte. So wird
es ein konstruktives Mitglied der Familie, der Gemeinschaft.
Guggenbühl führt aus,
dass Kinder manchmal auch Strategien entwickeln, wie sie die Eltern
beeinflussen können, um gewisse Ziele wie z. B. Aufmerksamkeit oder Anerkennung
zu erreichen. Sie wissen, was diese gerne hören, also reden sie ihnen «nach der
Zunge, um sie zu vereinnahmen».1 «Die Kehrseite der Empathie ist
Täuschung», meint Guggenbühl. «Geschickte Kinder merken intuitiv, welche Worte
man einsetzt, wie man auftreten muss, um sich gegenüber den Erwachsenen
durchzusetzen.»2 Viele Eltern, so schreibt Guggenbühl, würden die
Täuschungsmanöver ihrer Kinder nicht bemerken, sondern ihnen alles abnehmen.
Doch gibt es in Familien ein Korrektiv: der Streit, meint Guggenbühl. Dabei
komme vieles auf den Tisch, was sonst nicht ausgesprochen wird, «die Masken
werden abgelegt».3 In der Familie seien solche Streitigkeiten nicht
gefährlich. Weil Eltern und Kinder eng miteinander verbunden sind, finde man
sich wieder.
Problematischer ist das
in der Schule. Hier drohen Verwarnungen, Einträge ins Zeugnis, Timeout oder
eine Diagnose mit der Aufforderung, eine Therapie zu besuchen. An dieser Stelle
geht Guggenbühl nicht auf den Umgang der Schule mit solchen Problemen ein,
benennt nur kurz die üblichen Massnahmen.
Problematische Seiten des Anpassungssyndroms
Selbstverständlich
brauchen wir auch als Erwachsene noch Empathie, um Gemeinschaften harmonisch zu
gestalten. Problematisch wird es aber, wenn wir auch dann nicht aus dem
Anpassungsmodus finden, wenn wir als Mitgestalter gefordert sind, Sachprobleme
zu lösen, sei es auf der Arbeitsstelle, in der Gemeinde, im Verein, im Staat.
Wenn wir nicht fähig sind, uns eigenständig und mutig, nach rationalen
Erwägungen in die vielfältigen Lebensräume unseres Alltags einzubringen. Wenn
wir um der Harmonie willen oder um nicht anzuecken, keinen Streit zu
provozieren, nur nach dem Mund reden oder schweigen. Guggenbühl beschreibt
plastisch die Situation an vielen Arbeitsstellen: «Gleichheit wird vorgespielt,
ein betont jovialer Umgangston gepflegt und die Hierarchien werden flach
gehalten, der Chef ist mit allen Mitarbeitenden per Du, stösst beim Apéro auf
die Festtage an und unterhält sich bestens mit ihnen über scheinbar Privates,
die Kinder, Ferien und Hobbies. Niemand weiss jedoch, wie Entscheidungen
gefällt und die eigenen Leistungen beurteilt werden.
Wenn nicht klar ist, wer
wo die Macht innehat, kann eine forcierte Anpassung die Folge sein. Man fügt
sich der Betriebskultur aus Angst, einen Fehltritt zu machen und die eigene
Position zu gefährden. Sorgfältig tastet man ab, welche Themen en vogue sind
und wie man mit möglichen Entscheidungsträgern umgehen muss. Inhaber hoher
Positionen realisieren oft nicht, dass sich ihre Untergebenen maskieren und sie
selber in einer Blase leben. Die Angestellten lachen herzlich bei ihren Witzen,
loben ihre Ideen und geben sich betont cool. Effektiv sind sie jedoch auf der
Hut. Was sie wirklich von der Arbeit, der Firma oder ihren Chefs denken, wagen
sie nicht mitzuteilen.»4
Wem gehen da nicht viele
Situationen durch den Kopf? Ein Beispiel: Die Situation in vielen Lehrerzimmern
vor der Abstimmung zum Lehrplan 21 war schneidend: Man hat schnell gemerkt:
Kritik war nicht erwünscht und sogar ausdrücklich untersagt. Sich in einer
solchen Situation in Gegensatz zu setzen, brauchte zum Teil Heldenmut und war
auch vielleicht nicht immer sinnvoll. Doch die Folge: Man lässt diskussions-
und kritiklos eine endlose Folge von «Informationsveranstaltungen» und
Fortbildungen über sich ergehen. Wenn der Anpassungsmodus herrscht, ist
«Scheinheiligkeit Usus und Vorsicht geboten».5 Abgesehen davon, dass
solche Abläufe einer Gemeinschaft von erwachsenen Fachleuten unwürdig sind und
alle Beteiligten schwächt, kann so auch nicht die dringend notwendige
Sachdiskussion zustande kommen. «Die Schulleitung erfährt nicht, dass die
Mitarbeiter einer Reform kritisch gegenüberstehen.»6
Selbstverständlich sind solche Abläufe nicht nur Folge eines ängstlichen
«Anpassungsmodus» der Mitarbeitenden, sondern vielfach fordern Vorgesetze oder
auch «die herrschende Meinung» Unterwerfung. «Je höher die Bildungsstätte,
desto mehr sind nur politisch korrekte Meinungen erlaubt: Wer die Ehrlichkeit
der #Metoo-Bewegung infrage stellt, die Ursachen des Klimawandels hinterfragt,
von Schülern statt SuS spricht, von Pennern redet, das Wort Studenten statt
Studierende gebraucht, der macht sich verdächtig.»7
Achtung: Tätschelfalle!
Ein manchmal schwer zu
durchschauender und noch schwerer zu durchbrechender Ausdruck des
Anpassungsmodus sind Schmeicheleien. «Dominiert der Anpassungsmodus in einer
Gruppe, dann droht das Wohlfühlgespräch zur Norm zu werden. An Sitzungen,
Pausen, jedoch auch während der Arbeit reduziert sich der Inhalt der
Kommunikation auf Lob und gegenseitige Bestätigungen, wie gut man es macht und
wie nett man ist. Im Extremfall entsteht eine Tätschelkultur, die für
Aussenstehende unerträglich wird. Das Lob wird als Strategie eingesetzt, um
persönliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. […] Das Lob dient als
Nebelpetarde, um mögliche Kontroversen zu verhindern. Vorgespielte Begeisterung
und positives Feedback neutralisieren Konfliktpunkte. […] Alle sind sorgfältig
darauf bedacht, den Mainstream nicht zu verlassen.»8 Ich möchte hier
gern noch die Bewunderung hinzufügen. Manchmal werden in einem Kollegium, einer
Firma, einem Verein, eben einer beliebigen Gruppe von Menschen einer oder
einige übermässig bewundert. Das führt dazu, dass man von den Bewunderten alles
erwartet, jedes Wort ist richtig, jede Beurteilung oder Einschätzung ist
sakrosankt. Ein solcher Anpassungsmodus ist der Tod jeder sachbezogenen Auseinandersetzung,
der Entwicklung neuer Ideen, er verhindert, dass wichtige kritische Aspekte zur
Kenntnis genommen und diskutiert werden. »Ist jemand im Anpassungsmodus, dann
hat sich sein Denkhorizont verengt. Autonome Denkleistungen und ungewöhnliche
Schlussfolgerungen sind nicht mehr möglich.»9
Wir können die
problematischen, ja gefährlichen Folgen des Anpassungsmodus nicht hoch genug
einschätzen. Diskussionslos hingenommene Reformen in Schulen und Universitäten10
führen zu einer Bildungskatastrophe, deren Ausmasse wir noch nicht absehen.
Gemeinden verschulden sich oft mit Prestigebauten, vorzugsweise Turnhallen,
weil zu wenige sich getrauen, diese Projekte zu hinterfragen. In der Wirtschaft
führt der Anpassungsmodus zu Missmanagement, wie jenes, welches das Grounding
der stolzen Swissair verursachte oder zu 300 Millionen Franken Schaden führte
infolge der Misswirtschaft von Pierin Vincenz bei der Raiffeisen-Bank. Viele
Verantwortliche haben in vorauseilendem Gehorsam alles gestützt, was er wollte.11
Wenn wir weiterdenken, sehen wir, dass der Anpassungsmodus auch an Kriegen
nicht unbeteiligt ist. Deshalb stellt sich dringend die Frage: Wie kommen wir
da raus? Und was stellt sich als Alternative? Ist es der Streit, wie Guggenbühl
ihn als Lösung für Familien vorschlägt? Oder wie könnte eine konstruktive
Auseinandersetzung in einer Zivilgesellschaft aussehen, bei der man sich auch
finden kann? Die Schweiz hat da eigentlich gute Ansätze entwickelt.
«Ich habe gesprochen»
In der
Gemeindeversammlung hat jeder das Wort, der sprechen möchte. Er äussert sich
zur Sache, ohne auf die Person zu zielen und ohne Diffamierung von anderen. Man
spricht so, dass man sich nach erfolgter Debatte und Abstimmung noch in die
Augen sehen kann und den Gegner achtet, auch wenn man ganz anderer Meinung ist
als er. Könnten wir hier nicht wieder anknüpfen und von da aus neues
Bürgerbewusstsein auf allen Ebenen schaffen? Beeindruckend finde ich in diesem
Zusammenhang die Gelbwesten, wie Diana Johnstone sie in dieser Ausgabe
beschreibt: Sie lassen sich nicht mit billigen Ködern abspeisen, fallen nicht
auf fragwürdige «Kommunikationsangebote» herein, bestehen auf Initiative und
Referendum. Sie haben offensichtlich keinen Führer, der ihnen sagt, was sie zu
denken haben, und kein Evangelium, dem sie folgen. Beeindruckend die
Besonnenheit: Wenn man Johnstone folgt, wenden sie keine Gewalt an, bleiben
aber beharrlich in ihrem Anliegen und ihrer Präsenz. Sie wollen das, was uns
Bürgern im 21. Jahrhundert zusteht: Sie wollen ihr Leben und ihr Land selbst
bestimmen.
Für die Pädagogik ist
auch zu überlegen: Wie werden aus Kindern und Jugendlichen Bürger, die nicht
infolge eines problematischen Anpassungsmodus alles mitmachen? Sicher gehört
dazu, dass wir sie ernst nehmen und mit ihnen, vor allem mit den Jugendlichen,
ernsthaft diskutieren. Es darf nicht sein, dass wir sie bereits an manipulative
Kommunikationsstrategien gewöhnen. Guggenbühl meint z. B.: «Gefahr droht
paradoxerweise bei Settings, welche die Verantwortung des Lernprozesses an die
Kinder und Jugendlichen delegieren. […] Aus der Sicht des Kindes handelt es
sich hier um einen macchiavellistischen Schachzug. Sie [die Kinder und
Jugendlichen] wissen genau, dass es die Erwachsenen sind, die das Sagen haben,
über richtig und falsch entscheiden und ihre Leistungen beurteilen. […] Daher
schalten viele Kinder und Jugendliche auf Anpassungsmodus und verzichten auf
kritische Äusserungen. […] Man erledigt die Aufgabe, ohne sich vertieft mit dem
Inhalt auseinanderzusetzen, sondern repliziert die Erwartungen, die man
annimmt.»12
Das ist ziemlich genau
dasselbe, wenn Erwachsenen gesagt wird: «Eure Meinung ist uns wichtig»13
und in Wirklichkeit jedem klar ist, dass es gefährlich ist, Widerspruch zu
äussern.
Die Aufgabe bleibt: Was heisst ernst nehmen von Kindern und Jugendlichen?
Die Aufgabe bleibt: Was heisst ernst nehmen von Kindern und Jugendlichen?
1
Guggenbühl, Alain. Für mein Kind nur das Beste. 2018, S. 89
2 ebd. S. 89
3 ebd. S. 91
4 ebd. S. 93f.
5 ebd. S. 94
6 ebd. S. 94
7 ebd. S. 96
8 ebd. S. 99f.
9 ebd. S. 100
10 Es gab und gibt natürlich immer wieder aufrechte, klar denkende Bürger, die sich den Mund nicht verbieten lassen und zum Beispiel in Initiativkomittees tätig werden.
11 Charlotte Jaquemart, Wirtschaftsredakteurin SRF, kommt in einer Untersuchung zu folgender Einschätzung: Vernichtend ist der Bericht Gehrig auch für den ehemaligen Verwaltungsratspräsidenten Johannes Rüegg-Stürm: Ohne dass der St. Galler Professor und Spezialist für Corporate Governance namentlich erwähnt ist, wird klar, dass der Verwaltungsrat unter ihm Pierin Vincenz zu keinem Moment überwacht hat. Auch hat es der Verwaltungsrat verpasst, die Bank mit organisatorischen Massnahmen und entsprechenden Richtlinien für all die Zukäufe fit zu machen. Mitschuldig am teuren Raiffeisen-Debakel sind aber auch all die Ja-Sager in der Geschäftsleitung – inklusive Ex-CEO Patrik Gisel – die es allesamt nicht geschafft haben, Pierin Vincenz zu widersprechen. In vorauseilendem Gehorsam taten die Mitarbeiter das, von dem sie wussten, dass Vincenz es wollte. In: Raiffeisen-Untersuchung. Ein vernichtendes Fazit. 22.1.2019
12 ebd. S. 97
13 Guggenbühl, Allan. In: Einspruch 2, 2019, S. 47
2 ebd. S. 89
3 ebd. S. 91
4 ebd. S. 93f.
5 ebd. S. 94
6 ebd. S. 94
7 ebd. S. 96
8 ebd. S. 99f.
9 ebd. S. 100
10 Es gab und gibt natürlich immer wieder aufrechte, klar denkende Bürger, die sich den Mund nicht verbieten lassen und zum Beispiel in Initiativkomittees tätig werden.
11 Charlotte Jaquemart, Wirtschaftsredakteurin SRF, kommt in einer Untersuchung zu folgender Einschätzung: Vernichtend ist der Bericht Gehrig auch für den ehemaligen Verwaltungsratspräsidenten Johannes Rüegg-Stürm: Ohne dass der St. Galler Professor und Spezialist für Corporate Governance namentlich erwähnt ist, wird klar, dass der Verwaltungsrat unter ihm Pierin Vincenz zu keinem Moment überwacht hat. Auch hat es der Verwaltungsrat verpasst, die Bank mit organisatorischen Massnahmen und entsprechenden Richtlinien für all die Zukäufe fit zu machen. Mitschuldig am teuren Raiffeisen-Debakel sind aber auch all die Ja-Sager in der Geschäftsleitung – inklusive Ex-CEO Patrik Gisel – die es allesamt nicht geschafft haben, Pierin Vincenz zu widersprechen. In vorauseilendem Gehorsam taten die Mitarbeiter das, von dem sie wussten, dass Vincenz es wollte. In: Raiffeisen-Untersuchung. Ein vernichtendes Fazit. 22.1.2019
12 ebd. S. 97
13 Guggenbühl, Allan. In: Einspruch 2, 2019, S. 47
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