Der
Jugendpsychologe Allan Guggenbühl kritisiert, dass selbst in den Ferien
Nachhilfe angeboten wird. Und macht das Schulsystem dafür verantwortlich.
"Die Ferien sollten Ferien bleiben", Schweiz am Wochenende, 30.3. von Leif Simonsen
Die
Nachhilfe ist auch auf Grundschulstufe eine grosse Industrie geworden. Warum?
Allan Guggenbühl: Es gibt verschiedene Gründe. Verbreitet ist die Überzeugung,
dass Kinder so früh wie möglich selbstständig Lernen sollen. Es wird dann
bereits von Grundstufenschülern verlangt, dass sie selbsttätig lernen und bei
Unklarheiten ihre Kollegen fragen sollen. In diesem Alter sind Kinder jedoch
meist überfordert. Sie wenden sich dann mit ihren Fragen an die Eltern, und
diese organisieren Nachhilfe.
In der
modernen Pädagogik wird das «selbstständige Lernen» grossgeschrieben.
Kritisieren Sie das?
Selbstständigkeit ist natürlich wichtig. Das Problem ist,
dass die Förderung der Selbstständigkeit nicht an eine Methode delegiert werden
kann. Wenn man ihnen Arbeitsblätter gibt mit Anleitungen, was sie tun sollen,
dann machen sie oft Blödsinn, reden über Anderes oder widmen sich oberflächlich
den Inhalten. Selbstständigkeit in
einem kontrollierten Rahmen zu fördern, wo die Kinder sich anpassen und
gehorchen müssen, ist widersinnig.
Das
klingt konservativ.
Ich kritisiere ja nicht die Eigenständigkeit an sich. Aber
wenn, dann sollen die Kinder wirklich in ihrer Selbstständigkeit gefördert
werden. Ich halte nichts von Pseudoübungen. Die Schüler sollen völlig frei
sein, einem Eigeninteresse nachgehen. Dass Kinder und Jugendliche selbstständig
sein können, sieht man bei ihren Freizeitaktivitäten, zum Beispiel bei der
Organisation von Pfadilagern.
Die
«Schweiz am Wochenende» hat mit Schulleitern von der Primarschule und der Sek
gesprochen, die kaum etwas über die Nachhilfeindustrie wussten. Sie glaubten
nicht, dass ein grosser Teil der Schüler in den Nachhilfeunterricht gehe.
Das
überrascht nicht, es gibt eine grosse Dunkelziffer. Ich habe mal auf der
Sekundarstufe erlebt, dass sich alle Eltern an einem Elternabend der Schule
gegen Nachhilfe ausgesprochen haben. In Tat und Wahrheit hat ein grosser Teil
ihre eigenen Kinder in den Nachhilfeunterricht geschickt. Vor der Lehrperson
wollten die Eltern es jedoch nicht zugeben.
Warum?
Wenn die Lehrperson weiss, dass ein Schüler einen Nachhilfeunterricht besucht,
dann könnte dies die Beurteilung beeinflussen. Wenn man den Lehrer im Glauben
lässt, dass ein Schüler wegen dem Unterricht des Lehrers sich in den Leistungen
verbessert hat, dann gibt ihm das ein gutes Gefühl. Und dem Schüler eine
bessere Note.
Einige
Institute bieten gar für die Ferien Nachhilfe an. Was halten Sie davon?
Ich
sehe das kritisch. Die Ferien sollten Ferien bleiben. Kinder sollen auch die
Möglichkeit haben, nichts zu tun, selbstgewählten Tätigkeiten und der Muse
nachzugehen. Zerstreuung ist ein wichtiger Wert, der verlorengegangen ist. Er
erweitert die Imaginationskraft. Ich habe mehrere Schulen in China besucht, da
geht das Ganze in eine gegensätzliche Richtung. Hier läuft alles auf
Konzentration hinaus, die Schüler werden auf Leistungen getrimmt. Einige
Schulleiter haben sich mir gegenüber beklagt, dass ihre Schüler abgelöscht
wirken, keine eigenen Ideen entwickeln können. Sie haben schlicht keine Interessen,
machen nichts aus Eigenantrieb.
Wer ist
heute ehrgeiziger, Schüler oder Eltern?
Viele Schüler sind sehr ehrgeizig, aber
nicht unbedingt, was den schulischen Stoff angeht. Viele haben andere
Ambitionen, sie wollen Influencer auf Youtube oder Instagram werden. Das
beginnt schon auf Primarschulstufe. Verständlicherweise
hegen die Eltern meistens andere Ziele für ihre Kinder, sie möchten sie an das
Gymnasium schicken.
Und
greifen für die guten Noten ihrer Kinder tief in die Tasche, um
Nachhilfeunterricht zu finanzieren. Arme können sich das nicht leisten. Ist das
Schulsystem nur scheinbar sozial durchlässig?
Die finanziellen Möglichkeiten
der Eltern haben einen Einfluss. Kinder von Eltern, die keine Nachhilfe
bezahlen können, sind benachteiligt. Ob die Eltern Nachhilfeunterricht
organisieren, hängt jedoch auch vom Wert ab, den man der Bildung gibt. Es gibt
arme Eltern, die investieren sehr viel Geld in Nachhilfeunterricht und
wohlhabendere Eltern, die finden das nicht nötig.
Was
müsste sich ändern? Müsste man wieder zurück zum Frontalunterricht, damit man
die schwächeren Schüler besser an die Hand nehmen kann?
Beim Frontalunterricht
werden die schwächeren Kinder nicht besser gefördert. Es baucht jedoch in der
Schule beides, Phasen des Frontalunterrichts und Einzelarbeit. Die beste
Förderung geschieht jedoch durch die Lehrer, die sich für ihre Schüler
engagieren, sich Zeit nehmen, zu ihnen eine Beziehung aufbauen und immer wieder
bereit sind, ihnen den Stoff zu erklären und Aufgaben zu geben.
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