13. Januar 2019

Komplexität des Menschen kann nicht durch IQ-Tests abgebildet werden


Wenn Nassim Nicholas Taleb vom Leder zieht, kracht es – wie eben gerade: Auf Twitter feuerte er in einem Paper auf Medium.com Salve um Salve auf die psychometrische Intelligenzforschung ab. Ein pseudowissenschaftlicher Schwindel sei der Intelligenzquotient, IQ-Messungen seien lediglich für einige willkürlich isolierte mentale Fähigkeiten, und erst noch nur im künstlichen Testumfeld, aussagefähig.
Ist der Intelligenztest ein pseudowissenschaftlicher Schwindel? NZZ, 12.1. von Nassim Taleb


In der realen Welt taugen IQ-Zahlen wenig, schreibt Taleb. Bestenfalls erhielten Intelligenztests begrenzte Gültigkeit, wenn man IQ als «Funktionärs-Quotient» oder «Verkaufsperson-Quotient» verstehe. Weswegen diese noch am relativ erfolgreichsten zur Rekrutierung von Angestellten im Militär oder bei grossen Unternehmen eingesetzt würden.
An der Statistik-Front machte Taleb geltend, dass die Aussagekraft von IQ-Zahlen sinkt, sobald deren Wert steigt; dass es keinen Zusammenhang zwischen höheren IQ und Einkommen gebe; und dass der IQ-Test ein stumpfes, zirkuläres Messwerkzeug darstelle, das unvorhergesehene Ereignisse am Ende des Wahrscheinlichkeitsspektrums unbeachtet lasse (Talebs «fat tails», die sein Buch «Black Swan» zum Bestseller machten).

IQ-Zahlen entstünden ohne Rücksicht auf unerwartete Paradigmenwechsel. Und deshalb seien sie unter anderen Rahmenbedingungen oder in der Zukunft ziemlich wirkungslos. Ursprünglich (im 19. Jahrhundert) als Test für Lerndefizienz entwickelt, sei der IQ ein Werkzeug für die Selektion von Prüfungsteilnehmern, bürokratischen «Papiertigern», beliebt bei Eugenikern und Rassisten sowie «IYI» (Intellectuals Yet Idiots).

Der IYI-Vorwurf zielte ins Herz von akademischen Intelligenz-Intellektuellen. Namentlich erwähnte Taleb Steven Pinker, dem er Unwissen über die statistischen Begriffe Varianz und Korrelation unterstellte, sowie «Quacksalber» Charles Murray, einen streitbaren Verfechter einer Gausskurvenverteilung von Intelligenz, mit der er Ethnien und Rassen vergleicht.
Einige der Angegriffenen schluckten den Köder. Murray und Neuropsychologe Sam Harris twitterten alsbald ad hominem über den Genie-Komplex des egomanischen, arroganten Taleb. Jordan Peterson und andere Adlaten des Intellectual Dark Web meldeten sich kurz zu Wort, zogen sich aber schleunigst zurück, sobald ihnen eine weitere geharnischte Tirade von Taleb entgegenschlug. Hier war kein Blumentopf zu gewinnen.

Wohlgemerkt, Taleb nahm kein Blatt vor den Mund, unterlegte seine Thesen mit reichlich probabilistischem und statistischem Anschauungsmaterial und liess Verfechter von Kategorien wie nationaler, ethnischer, geschlechtlicher oder historischer Intelligenz alt aussehen.

Unter dem wissenschaftstheoretischen Strich wiederholte Taleb ein Poppersches Mantra: Der Wert von Intelligenztests ist davon abhängig, wie man den Messgegenstand definiert. Die hierbei verwendete Definition von Intelligenz ist zu sehr reduziert auf Geltungsbereiche, die einem komplexen Phänomen wie dem menschlichen Intellekt in der Lebenswelt unmöglich gerecht werden.

Abgesehen von einem Punktsieg erreichte Taleb mit seinen Ausfällen auf Twitter etwas Aussergewöhnliches: Indem er die IQ-Diskussion nicht in gängige Stellvertreter-Streitigkeiten über akademische Political Correctness, Rede- und Meinungsfreiheit verpackte, sprach Taleb einen komplexen Gegenstand direkt und sachlich an. Das Resultat war ein so derbes wie packendes und lehrreiches Social-Media-Seminar. Das dürfte ruhig öfter passieren.


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