2. Dezember 2018

Hoffnungslose Fälle


In einer Zeit, da aufgeweckte, freche oder faule Kinder, insbesondere Buben, recht bald als toxisch angesehen und mit Ritalin ruhiggestellt werden, bis sie als lebende Leichen im Klassenzimmer vor sich hin dämmern – in solchen finsteren Zeiten ist es vielleicht angezeigt, sich wieder einmal mit den Karrieren erfolgreicher Menschen auseinanderzusetzen. Es ist kein Klischee: Sehr oft, viel öfter, als man sich das als Pädagoge wohl eingestehen möchte, galten solche Leute in ihrer Jugend als hoffnungslose Fälle. Hätte es damals, vor fünfzig oder hundert Jahren, jene Heerscharen von Sozialarbeitern, Logopäden, Psychiatern, Seelenmechanikern und Reitlehrern, die sich auch mit Rechenschwäche befassen, schon gegeben, wie wir sie heute für unentbehrlich halten: Manch ein grandioser Schriftsteller, manch ein Staatsmann oder Unternehmer wäre im Orkus der Untherapierbarkeit versunken, lange bevor er sein Talent beweisen konnte.
Auf zwei Beispiele bin ich kürzlich gestossen, als ich die wunderbare Doppelbiografie über Winston Churchill und George Orwell las, die der Amerikaner Thomas E. Ricks kürzlich vorgelegt hat. Churchill war der wohl bedeutendste Premierminister der britischen Geschichte – Orwell, der unter anderem den Bestseller «1984» verfasst hat, zählt zu den grössten Schriftstellern der angelsächsischen Welt.
Die Rache der Versager, Sonntagszeitung, 2.12. von Markus Somm


Die beiden kannten sich kaum. Der eine, Churchill, war viel älter als der andere, und auch das Temperament und das Aussehen unterschieden sich deutlich. Churchill litt zwar unter Depressionen. Dennoch strotzte der kleine, dicke Mann (1,67 m) vor Unternehmenslust und Machtgier, während der sehr gross gewachsene (1,88 m), schlaksige Orwell zeitlebens kränkelte und auch viel zu früh starb. Was beide verband: Sie waren Aussenseiter im eigenen Milieu. Orwell wuchs in einer Familie von Kolonialbeamten auf und schrieb trotzdem eines der härtesten Bücher über das British Empire, was man ihm sehr übelnahm.
Er war ein Verstossener, der bald zum Sozialisten wurde. Churchill stammte zwar aus einer der vornehmsten Adelsfamilien Englands, doch schon der Vater galt als allzu schillernd – er starb an Syphilis –, während sich die Mutter einen Namen gemacht hatte als treuloseste Dame der Londoner ­Society. Sie soll, und Historiker halten das für plausibel, bis zu 200 Affären unterhalten haben. Dreimal hat sie geheiratet. Winston, der selber zum Exzentrischen neigte, half das wenig. Im Establishment traute man ihm nicht über den Weg, auch wenn man ihn oft in die Regierung berief, um ihn bald wieder in Schande zu entlassen. Bis 1940, bis man ihn aus Verzweiflung zum Premierminister machte, um den Krieg gegen Hitler zu gewinnen, galt Churchill als bekanntester Versager der britischen Politik.

Weil Churchill und Orwell Aussenseiter waren, rea­gierten sie allergisch, wann immer die Freiheit des Individuums gefährdet schien. Das bestimmte ihre Karriere. Dafür besassen sie ein feines Gespür. Gelernt hatten sie es in fürchterlichen Schulen, wo man alles tat, was heute der Pädagogik widerspräche. Sadismus und Pedanterie. Aus Angst hatte Orwell sein Bett zu nässen begonnen, wofür man ihn drakonisch bestrafte. Der Direktor vollzog das persönlich, indem er Orwell mit einer Rute verprügelte und im Rhythmus der Schläge die Worte sprach: «You dir-ty lit-tle boy». Früh merkte Orwell, dass die reichen Buben nie so behandelt wurden. Auch das vergass er nie, selbst nachdem er sich zum grossen Kritiker des Sozialismus gewandelt hatte.

Churchill war ein reicher Bub, doch erging es ihm nicht besser. Faul, desinteressiert, dumm, wie man meinte, wurde er durch eines der besten Internate geschleppt. Dann sollte er auf die Militärakademie, und zwar zur Kavallerie, die in England – einer Seemacht – kaum Prestige besass. Die unbegabtesten Söhne der Aristokratie wurden hier versorgt, also auch Churchill, der zweimal durch die Aufnahmeprüfung fiel, bis man ihn beim dritten Mal wohl aus Mitleid aufnahm. Zu diesem Zeitpunkt hatte sein Vater längst resigniert. Er schrieb dem Sohn: «Du wirst ein reiner Taugenichts werden, einer jener Hunderten von Schulversagern, und Du wirst degenerieren in eine schäbige, unglückliche und nutzlose Existenz. Und Du wirst dafür ganz allein selber verantwortlich sein.» Wenige Monate später starb der Vater. Vom späteren Erfolg seines Sohnes erfuhr er nie.


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