In einer Zeit, da aufgeweckte, freche oder faule Kinder, insbesondere
Buben, recht bald als toxisch angesehen und mit Ritalin ruhiggestellt werden,
bis sie als lebende Leichen im Klassenzimmer vor sich hin dämmern – in solchen
finsteren Zeiten ist es vielleicht angezeigt, sich wieder einmal mit den
Karrieren erfolgreicher Menschen auseinanderzusetzen. Es ist kein Klischee:
Sehr oft, viel öfter, als man sich das als Pädagoge wohl eingestehen möchte,
galten solche Leute in ihrer Jugend als hoffnungslose Fälle. Hätte es damals,
vor fünfzig oder hundert Jahren, jene Heerscharen von Sozialarbeitern,
Logopäden, Psychiatern, Seelenmechanikern und Reitlehrern, die sich auch mit
Rechenschwäche befassen, schon gegeben, wie wir sie heute für unentbehrlich
halten: Manch ein grandioser Schriftsteller, manch ein Staatsmann oder
Unternehmer wäre im Orkus der Untherapierbarkeit versunken, lange bevor er sein
Talent beweisen konnte.
Auf zwei Beispiele bin ich kürzlich gestossen, als ich die wunderbare
Doppelbiografie über Winston Churchill und George Orwell las, die der
Amerikaner Thomas E. Ricks kürzlich vorgelegt hat. Churchill war der wohl
bedeutendste Premierminister der britischen Geschichte – Orwell, der unter
anderem den Bestseller «1984» verfasst hat, zählt zu den grössten
Schriftstellern der angelsächsischen Welt.
Die Rache der Versager, Sonntagszeitung, 2.12. von Markus Somm
Die beiden kannten sich kaum. Der eine, Churchill, war viel älter als
der andere, und auch das Temperament und das Aussehen unterschieden sich
deutlich. Churchill litt zwar unter Depressionen. Dennoch strotzte der kleine,
dicke Mann (1,67 m) vor Unternehmenslust und Machtgier, während der sehr gross
gewachsene (1,88 m), schlaksige Orwell zeitlebens kränkelte und auch viel zu
früh starb. Was beide verband: Sie waren Aussenseiter im eigenen Milieu. Orwell
wuchs in einer Familie von Kolonialbeamten auf und schrieb trotzdem eines der
härtesten Bücher über das British Empire, was man ihm sehr übelnahm.
Er war ein Verstossener, der bald zum Sozialisten wurde. Churchill
stammte zwar aus einer der vornehmsten Adelsfamilien Englands, doch schon der
Vater galt als allzu schillernd – er starb an Syphilis –, während sich die
Mutter einen Namen gemacht hatte als treuloseste Dame der Londoner Society.
Sie soll, und Historiker halten das für plausibel, bis zu 200 Affären
unterhalten haben. Dreimal hat sie geheiratet. Winston, der selber zum
Exzentrischen neigte, half das wenig. Im Establishment traute man ihm nicht
über den Weg, auch wenn man ihn oft in die Regierung berief, um ihn bald wieder
in Schande zu entlassen. Bis 1940, bis man ihn aus Verzweiflung zum
Premierminister machte, um den Krieg gegen Hitler zu gewinnen, galt Churchill
als bekanntester Versager der britischen Politik.
Weil Churchill und Orwell Aussenseiter waren, reagierten sie
allergisch, wann immer die Freiheit des Individuums gefährdet schien. Das
bestimmte ihre Karriere. Dafür besassen sie ein feines Gespür. Gelernt hatten
sie es in fürchterlichen Schulen, wo man alles tat, was heute der Pädagogik
widerspräche. Sadismus und Pedanterie. Aus Angst hatte Orwell sein Bett zu
nässen begonnen, wofür man ihn drakonisch bestrafte. Der Direktor vollzog das
persönlich, indem er Orwell mit einer Rute verprügelte und im Rhythmus der
Schläge die Worte sprach: «You dir-ty lit-tle boy». Früh merkte Orwell, dass
die reichen Buben nie so behandelt wurden. Auch das vergass er nie, selbst
nachdem er sich zum grossen Kritiker des Sozialismus gewandelt hatte.
Churchill war ein reicher Bub, doch erging es ihm nicht besser. Faul,
desinteressiert, dumm, wie man meinte, wurde er durch eines der besten
Internate geschleppt. Dann sollte er auf die Militärakademie, und zwar zur
Kavallerie, die in England – einer Seemacht – kaum Prestige besass. Die
unbegabtesten Söhne der Aristokratie wurden hier versorgt, also auch Churchill,
der zweimal durch die Aufnahmeprüfung fiel, bis man ihn beim dritten Mal wohl
aus Mitleid aufnahm. Zu diesem Zeitpunkt hatte sein Vater längst resigniert. Er
schrieb dem Sohn: «Du wirst ein reiner Taugenichts werden, einer jener
Hunderten von Schulversagern, und Du wirst degenerieren in eine schäbige,
unglückliche und nutzlose Existenz. Und Du wirst dafür ganz allein selber
verantwortlich sein.» Wenige Monate später starb der Vater. Vom späteren Erfolg
seines Sohnes erfuhr er nie.
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