11. November 2018

Schreiben nach Gehör: eine Analyse


Die Methode Schreiben nach Gehör steht momentan medial und politisch im Kreuzfeuer der Kritik. Dennoch hat sie weiterhin ihre Anhänger und wird oft mit folgenden Argumenten verteidigt[1]:

1. Rechtschreibung beruht auf Konvention. Wer Wörter anders schreibt, verstösst nicht gegen die Sprache, sondern wählt eine eigene Schreibvariante, die nicht schlechter als die konventionelle sein muss. Solange verstanden wird, was gemeint ist, spielt die Orthografie keine Rolle.

2. Viel wichtiger als die Rechtschreibung ist die Kompetenz, Texte angemessen formulieren und eine Sache logisch gut darstellen zu können. Die Kreativität soll nicht durch Konzentration auf Fehlervermeidung gebremst und erstickt werden. Orthografie ist deshalb geringer zu gewichten als die inhaltlichen Aspekte.

3. Kinder übernehmen im Laufe der Zeit automatisch die korrekte Schreibweise der Wörter, wenn sie das frühe Stadium des Ausprobierens überwunden haben. Die fehlerhafte Schreibung gehört zur ersten Phase des Lernvorgangs.
Schreiben nach Gehör: Ist die Kritik berechtigt? Felix Schmutz, 8.11.



Ad 1: Rechtschreibung als Konvention

Es trifft zu, dass es sich bei der Rechtschreibung um eine Konvention handelt. Eine vom Staat beauftragte Instanz regelt die Schreibweise nach gewissen Prinzipien und normiert sie. Dies wird pädagogisch als autoritäre Einflussnahme auf die Kinderseele gedeutet. Dem Kind wird durch Rechtschreibung Zwang angetan. Eine Betrachtungsweise, die einen Rückgriff auf Rousseaus Gedanken darstellt, dass der zivilisatorische Zwang (hier die Regeln der Rechtschreibung) die ursprünglich freie Natur des Menschen (hier die Kreativität des Schreibens und ungezwungenen Kommunizierens) unterdrückt. «Schreiben nach Gehör» bedeutet, so gesehen, Emanzipation von den Zwängen der Zivilisation, «Rückkehr zur Natur».

Solche Konventionen und gesellschaftlichen Regelungen gibt es jedoch in vielen Lebensbereichen. Auch im Verkehr regeln Gesetz und Verordnungen, wie sich die Teilnehmer im Kreisverkehr, beim Parkieren, gegenüber Fussgängern, etc. verhalten sollen. Davon abweichen heisst, sich und andere u.U. grossen Gefahren aussetzen. Wer Konventionen generell verdächtigt, verkennt, dass diese dem gesellschaftlichen Bedürfnis entsprechen, das Zusammenleben zu erleichtern. Niemandem würde einfallen, Kinder dem Strassenverkehr zu überlassen, ohne ihnen die nötigen Verhaltensregeln einzuschärfen, in der Meinung, sie könnten sich dort kreativ behaupten. 

Konventionen, Normierungen haben ihren Sinn darin, Klarheit und Sicherheit zu schaffen, für einen reibungslosen Betrieb zu sorgen. Das gilt auch für die Rechtschreibung: Das Lesen wird erleichtert, da der Wiedererkennungseffekt beim Anblick des Schriftbildes schneller erfolgt. Durch das Einhalten der orthografischen Normen wird die Konzentration schneller auf den Inhalt gelenkt. Gerade eine korrekte Schreibweise bewirkt das, was die Methode Schreiben nach Gehör anstrebt, nämlich sachzentriertes, kreatives Schreiben, das bei Lesenden keine Hürden aufbaut, sondern die Kommunikation erleichtert. Umgekehrt wird aufgehalten, wer zuerst Varat als Fahrrad, schdull als Stuhl oder Tsöicknis als Zeugnis identifizieren muss.

Die Rechtschreiberegeln unterliegen trotz ihrer Schwierigkeiten für Lernende systematischen Prinzipien. Die Entsprechung Laut – Schriftzeichen folgt nicht reiner Willkür, sondern gewissen Gesetzmässigkeiten. Wer sich diese Kenntnisse nicht aneignet, leistet nicht Gesellschaftskritik, sondern verringert gerade seine Möglichkeit, Gesellschaftskritik zu üben, indem er sich eines Mittels dazu unnötigerweise beraubt und so von andern weniger gut verstanden wird. Mangelnde Rechtschreibekompetenzen werden als Defizite gewertet und können Chancen schmälern.

Konvention ist im Übrigen nicht nur die Rechtschreibung. Sprache ist generell eine konventionelle Zuordnung von Lautzeichen und Formen zu Bedeutungen in einer Sprachgemeinschaft. Die «babylonische Sprachverwirrung» entstand dadurch, dass jeder Mensch plötzlich ein eigenes Zeichensystem verwendete, das von keinem andern verstanden wurde. Kreativität und Kommunikation benötigen das allgemein zugängliche Medium der Sprachgemeinschaft, um wirksam zu werden, und nicht dessen Verweigerung.

Ad 2: Rechtschreibung ist weniger wichtig

Das Argument nimmt eine Bewertung vor, die zunächst plausibel klingt: Natürlich scheinen Kreativität und Formulierungskompetenz auf den ersten Blick höher gewichtet werden zu müssen als die Rechtschreibung. Zudem muss ein erheblicher Aufwand geleistet werden, um die Tücken der Orthografie zu meistern, Zeit, die für Inhaltliches und Kreatives besser verwendet werden könnte.

Allerdings ist der Vergleich nicht statthaft, denn es handelt sich um zwei Grössen, die einander nicht so gegenübergestellt werden können wie das Muster: «Die Kuh ist schwerer als die Katze». Die Form, zu der auch die Orthografie zählt, kann vom Inhalt nicht losgelöst werden. Inhalt und Form bilden eine Einheit, was bei Werken der bildenden Kunst sofort einleuchten dürfte. Farbgebung, Bildaufbau, Perspektive, Proportionen eines Gemäldes sind die formalen Mittel, denen das Werk seinen Inhalt, seinen Sinn verdankt. Auch bei einem Text vermitteln die sprachlichen Mittel Inhalt und Sinn.

Das Tertium Comparationis zwischen Inhalt und Form kann nicht der bedeutungsmässige Prozentwert für die Kommunikation sein, wie mit dem Ausdruck «höher gewichten» angedeutet wird. Der Unterschied zwischen Rechtschreibung und Kreativität, bzw. Kommunikation, besteht in der Funktion, welche die beiden Faktoren ausüben. Verglichen werden nicht zwei unabhängige Grössen, vielmehr wird die formale Gestalt dem Inhalt ein- und derselben Sache, nämlich einer in Sprache gefassten Botschaft, gegenübergestellt. Eine Gewichtung ist freilich möglich innerhalb des Spektrums der formalen Mittel: Wortwahl, Stil, Grammatik, Orthografie.

Die Trennung von Form und Inhalt ist lediglich ein Hilfskonstrukt. Tatsächlich sind Form und Inhalt immer aufeinander bezogen, bedingen einander. Rechtschreibung ist neben Aufbau und Formulierung ein Mittel, das den Informationsgehalt transportiert, so wie das Blut den Sauerstoff an die Organe leitet. Das Blut ist nicht weniger wichtig als der Sauerstoff, es hat lediglich eine andere Funktion. Ohne Blut würde kein Sauerstoff transportiert, ohne strukturiert eingesetzte Laut- und Schriftzeichen keine Kommunikation ermöglicht. Wer das Transportmittel unterschätzt und vernachlässigt, muss Einbussen beim beförderten Gut in Kauf nehmen, also Abstriche beim Inhalt im Falle von Mängeln in Rechtschreibung, Grammatik und Stil.

Das Paradoxe liegt darin, dass gerade derjenige, dem an Inhalt und Kreativität liegt, auch der Form und der Schreibung seine Aufmerksamkeit schenken muss. Wer glaubt, junge Lernende mit dem Verzicht auf formales Training besonders gut zu fördern, erweist ihnen in Wirklichkeit einen Bärendienst, denn sie werden an der optimalen Entfaltung ihrer Kreativität und Kommunikationskompetenz gehindert, wenn ihnen die geeignete Form dafür nicht zur Verfügung steht.

Selbstverständlich gibt es Schreibende, die gerade mit den formalen Strukturen bewusst kreativ umgehen, um eine bestimmte künstlerische Aussage zu erreichen. Allerdings kann dies nur würdigen, wer die Konventionen kennt und die Abweichungen davon bemerkt.

Ad 3: Das Fehlerstadium wird automatisch überwunden

Der Weg zur korrekten Schreibweise führt tatsächlich über Stadien, in denen Fehler gemacht werden. Dies ist jedoch eine generelle Tendenz menschlichen Lernens. Sie ist auch im Sport, beim Musizieren, etc. hinlänglich bekannt und offenbar akzeptiert. Kenntnisse und Fähigkeiten sind nicht auf Anhieb verfügbar, sondern bilden sich allmählich heraus. Insbesondere verlangen sprachliche Techniken eine komplexe Hirnleistung und benötigen viel Übung und Erfahrung.

Verfehlt ist jedoch, wenn das Stadium der Falschschreibungen als Zustand zivilisatorischer Befreiung von Zwängen und als Kreativitätsauslöser idealisiert wird. Vielmehr gilt es, dieses Stadium durch Training zu überwinden, genauso wie beim Skifahren nicht die Phase des Umkippens und Stürzens kultiviert wird, sondern lediglich als Übergang zum sicheren Fahren am Anfang in Kauf genommen werden muss. Das Ziel bleibt stets, aus den anfänglichen Fehlern zu lernen, um weiterzukommen.  

Von selbst gehen die Fehler nämlich nicht weg. Wenn die korrigierende Rückmeldung ausbleibt, wirkt das wie ein Bestätigungssignal. Einen Grund, sich weiterzuentwickeln, gibt es nicht mehr. Die Überwindung von Fehlern in einer frühen Phase ist überhaupt nur möglich, wenn eine Motivation, ein Anstoss von aussen den nächsten Entwicklungsschritt einleitet. Ansonsten stabilisiert sich der erreichte Zustand: Fehler verfestigen sich, sind später nur noch mit grösster Mühe zu beseitigen, da die Betreffenden Eigen-Gewordenes über Bord werfen müssen.

Schlussbemerkung:

Die Methode Schreiben nach Gehör deutet Rechtschreibung als Unterordnung, als Kreativitätsverhinderung und die fehlerhaften Schreibungen als vorübergehendes Durchgangsstadium. Alle drei Zuschreibungen spielen auf richtige Phänomene an, interpretieren sie jedoch falsch. Daraus wird dann ein verheerender Schluss gezogen: der Verzicht auf unterrichtliche Massnahmen: freies Schreiben ohne formale Vorgaben, kein korrigierendes Feedback, kein intensives Training, Vertrauen auf einen sich selbst ergebenden Optimierungsprozess. Die Methode ist ein Beispiel dafür, wie sich Lehrende aus ihrer Unterrichtsverantwortung verabschieden, bzw. die Verantwortung den dazu noch nicht fähigen Lernenden zuschieben.


[1] Z.B. Hans Brügelmann, Varat Fahren. Schreiben lernen in der Grundschule, SWR 2 Kultur Wissen, Sendung: Sonntag, 02. April 2017,
https://www.swr.de//id=19044192/property=download/nid=660374/9lcorh/swr2-wissen-20170402.pdf


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