Manfred Spitzer hat viel
Prügel eingesteckt für die Behauptung, dass sich der Konsum digitaler Medien
nicht unbedingt günstig auf den Bildungsweg auswirke. Mittlerweile gibt es eine
stattliche Zahl von Studien, die Spitzers These stützen, und der Psychiatrieprofessor
der Universität Ulm muss nicht mehr als einsamer Prediger durchs Land ziehen.
Die deutsche Bildungspolitik, die das Thema Digitalisierung rauschhaft für sich
entdeckt hat, zeigt an diesen Erkenntnissen wenig Interesse. In ihren
Beraterstäben geben sich Industrielle und Informatiker die Klinke in die Hand,
assistiert von Pädagogen, die sich auf einen wirtschaftsnahen Begriff von
Bildung geeinigt haben.
Lernen im Chatroom, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10. von Thomas Thiel
Spitzer mochte auf der
zweiten Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz also noch so viele Fachpublikationen
an die Wand werfen. Eher als ein verantwortlicher Bildungspolitiker wird sich
wohl ein Kollege aus dem Gesundheitsressort dafür interessieren, wie stark der
übermäßige Konsum digitaler Medien, wie Spitzer darlegte, zu Übergewicht,
Schlafstörungen, Kurzsichtigkeit und anderen Malaisen beiträgt. Um nur einen
Punkt herauszugreifen: Dreißig Prozent der unter dreißigjährigen Deutschen, so
Spitzer, sind heute kurzsichtig. In der vordigitalen Generation lag der Wert
bei 1,5 Prozent. Woran das liegt, war für Spitzer klar: Das menschliche Auge
sei evolutionär darauf angelegt, sich so fortzuentwickeln, bis es die Dinge
scharf sieht. Wenn es permanent in kurzem Abstand auf winzige Monitore starre,
sei diese Entwicklung gestört. China hat den digitalen Medienkonsum für Kinder
deshalb per Gesetz beschränkt. „Auch wir müssen unsere Kinder schützen“, sagte
Spitzer. Er sei besorgt.
Die deutsche Bildungspolitik
plagen andere Sorgen. Sie will das Zeitfenster nutzen, um Schulen zu
digitalisieren, was für sie unter anderem heißt: die Klassenzimmer mit
Smartphones und Tablets auszustatten. Die Geräte sollen die Schüler selbst
mitbringen. Die Bildungsgerechtigkeit, sonst ein hohes Ideal der
Bildungspolitik, das für kontinuierliche Niveauabsenkung missbraucht wird, muss
da einmal zurückstehen. Nun wollen 86 Prozent der Eltern nach einer aktuellen
Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar Public ein Handyverbot an
Schulen. In Frankfurt war es zudem Konsens, dass die Vorzüge von Computern und
Tablets im Unterricht bisher von keiner einzigen Studie belegt werden.
Umgekehrt gibt es viele Publikationen, die zu einer skeptischen Einschätzung
gelangen. So kam die amerikanische Westpoint Academy zu dem Ergebnis, dass
Studenten ohne Laptop und Tablet um zwanzig Prozent bessere Leistungen
erzielen. Selbst die OECD, sonst ein fleißiger Bildungsmodernisierer, musste
einräumen, dass Schulen mit wachsenden Investitionen in ihre digitale
Infrastruktur schlechter wurden. Es ist wohl kein Zufall, dass Steve Jobs und
Bill Gates ihren Kindern ein Handyverbot erteilten.
Man muss das nicht als
Generalabsage an digitale Technik an Schulen verstehen. Aber die Frage wäre,
welchen Beitrag sie zu einem strukturierten Unterricht leisten kann. Der
Digitalpakt, den Bund und Länder seit Jahren vor sich herschieben, ist dagegen
von der Technik her gedacht. Sind die Geräte erst einmal da, wird sich ein
Zweck schon finden. Ob dann noch genügend Geld für die dringend benötigten
Lehrer vorhanden sein wird, lässt sich bezweifeln. Von den fünf Milliarden Euro
Anschubfinanzierung, rechnete Josef Kraus, der ehemalige Präsident des
Philologenverbands, vor, würde für die einzelne Schule nur ein fünfstelliger
Betrag bleiben. Das würde für Wartung und Erneuerung der Infrastruktur nicht
lange reichen.
In dem Ausblick, den Ralf
Lankau präsentierte, spielten Lehrer nur noch eine Nebenrolle. Der Offenburger
Medienpädagoge warf ein Bild an die Wand, auf dem Schüler an Computerterminals
in einem Großraumbüro isoliert ihr individuell auf sie abgestimmtes Lernpensum
abspulen. Keine Fiktion, das gibt es wirklich. Voraussetzung dafür ist die
Vermessung der Schüler durch sogenannte Learning-Analytics-Programme, die ihre
Leistungen und Persönlichkeitsmerkmale im Detail erfassen und sie in den
Verwertungskreislauf der Tech-Industrie einschleusen. Nach Lankau sind die
Agenten amerikanischer Softwarefirmen auch hierzulande unterwegs, um Lehrer als
Coaches solcher Programme auszubilden. Pädagogisch ist ihnen der Teppich
ausgerollt: Angesichts wachsender kultureller Vielfalt, heißt es in einer
Erläuterung des Digitalpakts auf der Website des Bundesbildungsministeriums,
müsse sich Bildung individualisieren.
Die Gesellschaft für Bildung
und Wissen, die den Kongress zum zweiten Mal organisierte, ist eine Art
gallisches Dorf, das den Bildungshumanismus gegen die breite Front von
Bertelsmännern, Kuschelpädagogen und Reformtechnokraten in der deutschen
Bildungspolitik verteidigt. Der Konferenztitel ist eine ironische Anspielung
auf deren Ziel, Fachwissen durch abstrakte Kompetenzen zu ersetzen. Rund 350
Zuhörer fanden sich im großen Medizinerhörsaal der Goethe-Universität ein.
„Reichen die Würstchen?“, fragte Josef Pfeilschifter, Dekan der Medizinischen
Fakultät, angesichts des unerwarteten Zustroms. Sie reichten. Es wäre sogar
noch eins dagewesen für einen Politiker, der das Smartphone im Unterricht
verteidigt. Er hätte auch ein Wort dazu sagen können, ob man wirklich glaubt,
dass Schüler darauf am liebsten Mathematikaufgaben lösen.
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