Bangen bis zum Schluss: Unzähligen Gemeinden in der Schweiz ist es erst kurz vor Schuljahresbeginn gelungen, alle Lehrerstellen zu besetzen. Doch der vermeintliche Erfolg auf der Zielgeraden ist trügerisch, denn vielerorts stehen jetzt nicht ausreichend qualifizierte Lehrkräfte in den Schulzimmern. Betroffen sind vor allem die schulischen Heilpädagogen: Nur 50 bis 60 Prozent der Lehrpersonen, die in dieser Funktion tätig sind, verfügen über eine entsprechende Ausbildung, wie Barbara Fäh bestätigt. Sie ist Rektorin der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HFH), die von 13 Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein getragen wird. Häufig sind es Lehrpersonen ohne Zusatzausbildung oder sogar berufsfremde Klassenassistenten, die diese Aufgaben übernehmen.
Problem erkannt - Lösung unbekannt, Tages Anzeiger, 18.8. von Raphaela Birrer
Dabei spielen die Heilpädagogen eine elementare Rolle im Schulalltag. Sie unterstützen lektionenweise verhaltensauffällige, behinderte und lernschwache Schüler. Diese werden heute nicht mehr in Sonder- und Kleinklassen unterrichtet, sondern wenn immer möglich in die Regelschule integriert. Zu dieser inklusiven Bildung sind die Kantone seit mehr als zehn Jahren gesetzlich verpflichtet. Mit dem Systemwechsel stieg der Bedarf an Heilpädagogen schlagartig - eine Nachfrage, die noch immer bei weitem nicht gedeckt ist.
«Hoffnungslose» Situation
Eine repräsentative Umfrage des Schulleiterverbands vom Mai verdeutlicht das Problem: Zwei Drittel der über tausend Teilnehmer mussten zu diesem Zeitpunkt noch mindestens eine Heilpädagogenstelle besetzen. 81 Prozent davon bezeichneten die Situation als schwierig oder gar als «hoffnungslos». Das ist umso bemerkenswerter, als die integrative Förderung gemäss 57 Prozent der Schulleiter eines der Top-3-Themen ist, die sie umtreiben – qualifiziertes Personal wäre für sie eine wichtige Voraussetzung zur Bewältigung dieser Herausforderung.
Der Mangel hat Folgen für den Unterricht. «Förderbedürftige Kinder erhalten nicht die Unterstützung, die sie brauchten. Und die Klassenlehrer werden bei der anspruchsvollen Aufgabe der integrativen Schulung nur ungenügend unterstützt – eine unhaltbare Situation», sagt Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Lehrerdachverbands LCH. Ebenso «verheerend» sei es, wenn statt Heilpädagogen Schulassistenten ohne pädagogische Ausbildung eingesetzt würden, wie dies in manchen Gemeinden geschehe.
Behördenvertreter beurteilen das gleich. «Es ist nicht gut, dass relativ viele Stellen mit nicht ausgebildeten Heilpädagogen besetzt werden müssen. Dadurch werden die Schüler nicht optimal gefördert», sagt etwa Charles Vincent, Leiter der Luzerner Dienststelle für Volksschulbildung. Und HFH-Rektorin Fäh warnt: «Wir sorgen uns, dass Kinder und Jugendliche nicht gemäss ihren Bedürfnissen gefördert werden und sich dies langfristig auf ihre Integration in die Gesellschaft auswirken wird.»
Doch warum gelingt es seit mehr als zehn Jahren nicht, ausreichend Heilpädagogen zu rekrutieren? Marion Völger, Leiterin des Zürcher Volksschulamts, führt das auf mehrere Entwicklungen zurück. Sie verweist auf die Demografie und die Pensionierungswelle in der Babyboomer-Generation der Lehrerschaft. Bei den Heilpädagogen komme eine jährlich stark steigende Sonderschulquote dazu. Das heisst: Seit der Integration von Sonderschülern in die Regelklasse wurden mehr Kinder bei Abklärungen für unterstützungsbedürftig befunden als vor dem Systemwechsel. Das habe zusätzlichen Bedarf an Heilpädagogen generiert. Aktuell stabilisiere sich diese Quote aber wieder, so Völger.
Tatsächlich verschärft gerade die steigende Schülerzahl das Problem. Gemäss dem neuen Bildungsbericht werden im Jahr 2025 rund 117 000 Kinder mehr die obligatorische Schule besuchen als 2015. Schweizweit wird ein Wachstum von 13 Prozent prognostiziert. Den Hochrechnungen zufolge werden in naher Zukunft rund 2000 zusätzliche Lehrpersonen benötigt.
Nadelöhr Ausbildung
Fakt ist aber auch, dass die Heilpädagogik-Ausbildung ein Nadelöhr ist. Einerseits schrecke ein Zweitstudium viele Lehrer ab, sagt Bernard Gertsch, Präsident des Schulleiterverbands. «Es muss sicher überlegt werden, ob die Ausbildung nicht bereits nach der Matura absolviert werden kann», sagt auch Charles Vincent. Andererseits werden die Studienplätze teils knapp gehalten: «Wir könnten mehr Personen ausbilden - die Plätze sind aber durch die Finanzierung der Kantone begrenzt», sagt Fäh. Jeder Trägerkanton entscheide jährlich, wie viele Heilpädagogen er an der HFH ausbilden wolle. Zürich etwa habe 2018 zusätzlich zu seinen 63 fixen Plätzen 95 eingekauft. Die dreijährige Masterausbildung kostet 42 500 Franken. Doch die Nachfrage übersteigt das Angebot bei weitem: Dieses Jahr konnte die HFH 20 Prozent der Anmeldungen nicht berücksichtigen.
Auch die Pädagogische Hochschule Bern, die keine Platzbeschränkung kennt, verzeichnete gemäss Sprecher Michael Gerber zuletzt mehr Anmeldungen: Für diesen Herbst haben sich 85 Heilpädagogik-Studierende eingeschrieben, 2017 waren es 65. Trotz der zu tiefen Zahlen sieht die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) keinen Handlungsbedarf. Sie verweist auf die Verantwortung der Kantone und auf die gesamtschweizerische Zunahme der Studierendenzahl von 1700 auf 2100 in den letzten sieben Jahren. EDK-Präsidentin Silvia Steiner sagte unlängst in der «NZZ am Sonntag», eine Erhöhung der Kontingente an der HFH sei teuer und würde die Nachfrage zu stark ankurbeln.
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