Im
Frühjahr 1972 übernahm ich eine Stellvertretung an der Primarschule
Rheinfelden. 39 Drittklässler, schön aufgereiht in 20 Zweierbänkli. Ich war
wohl kein guter Lehrer, ich hatte ja nichts vorzuweisen als eine Matur und ein
paar Studiensemester. Es herrschte Lehrermangel, wie heute, deshalb wurde so
ein Hobbylehrer überhaupt gebraucht. Aber neben mir unterrichteten richtige
Lehrerinnen und Lehrer, etliche hatten über 40 Kinder. Und sie schafften es,
einige sogar mühelos (wenigstens hatten sie in der Pause meistens gute Laune).
Heute gelten Klassen mit über 25 Kindern als übervoll. In kleineren Gemeinden
sind es oft kaum 15. Trotzdem reduzieren viele Lehrpersonen stressbedingt ihr
Pensum, andere laufen in ein Burnout. Dabei haben sich elektronische und
menschliche Unterrichtshilfen vervielfacht. Wir hatten noch ein Lesebuch, ein
Rechenbuch und Schnapsmatrizen. Und wir unterrichteten alle Fächer selber, es
gab an der Primarschule kaum Fachlehrer. «Es isch ämel au gange.»
Die Schule stösst an Grenzen, Nordwestschweiz, 17.8. von Hans Fahrländer
Zwischen 1972
und 2018 steht pädagogisch eine Riesenentwicklung. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt:
Man muss jedes Kind dort abholen, wo es steht. Individualisieren,
differenzieren statt pauschalisieren, Stärken fördern statt Defizite ahnden.
Man unterrichtet heute Kinder, nicht mehr Klassen. Und die «Kunden» der Schule
sind schwieriger geworden. Viele sind unkonzentriert, viele sprechen kaum
Deutsch, viele erfahren zu Hause kaum Förderung, viele brauchen
Sonderunterstützung. Lehrer sein ist ein Abnützungs- und und Organisationsjob
geworden. Sind für die «neue» Art des Lehrens und Lernens 25 Kinder pro Klasse
tatsächlich eine Obergrenze?
Grössere Klassen werden kommen
Doch zu Beginn des
Schuljahres 2018/19 mehren sich die Anzeichen, dass das System Schule an
Grenzen stösst. 2025 werden in der Schweiz über 100 000 Kinder mehr die
Volksschule besuchen als 2016. Der Lehrermangel ist zurück in den Schlagzeilen
(war er je weg?). Es steigt nicht nur die Zahl der Kinder, sondern auch die
Zahl der Teilzeit-Lehrer und der Pensionierungen. Können wir uns die «neue» Art
des Lehrens und Lernens überhaupt noch leisten? Vermutlich nur, wenn wir
grössere Klassen akzeptieren. Die Wissenschaft hat noch keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Klassengrösse und Lernerfolg gefunden. Aber wenn die
Perspektiven noch anstrengender erscheinen, wenden sich dann noch mehr junge
Leute vom schönen Beruf ab? Dreht sich da eine Negativspirale?
Besonders
alarmierend: Das heutige System fusst auf der Unterstützung der
Klassenlehrpersonen durch schulische Heilpädagoginnen. Es ist das Kernstück der
integrativen Schulung, die verlangt, dass schwächere Kinder nicht in
Sonderklassen aussortiert, sondern in der Regelklasse behalten werden. Doch
ausgerechnet von diesen «Unterstützerinnen» hat es viel zu wenige. Gemäss
Franziska Peterhans, der Zentralsekretärin des Lehrerdachverbandes LCH, verfügt
nur gerade jede zweite «Heilpädagogin» über eine entsprechende Fachausbildung.
Es werden zu wenige ausgebildet – und von den Ausgebildeten verlassen viele den
Beruf wieder.
Integrative Schulung in Gefahr
Die integrative Schulung steht
schon länger unter Beobachtung der Politik. Die einen fürchteten, sie sei zu
teuer, andere argwöhnten, sie diene nur den Ausländerkindern. Doch nun steigt
ein viel drohenderes Gespenst am Horizont auf: Kann das System bald nicht mehr
betrieben werden, weil das Personal dazu fehlt? Im Moment gilt offenbar noch
die Parole Durchwursteln. Dann nehmen wir halt eine ohne Fachausbildung. Wird
schon irgendwie gehen. Tatsächlich? Ist eine unsachgemässe Unterstützung von
lernbehinderten Kindern wirklich zu verantworten? Müssen wir etwas weniger
individualisieren, differenzieren, therapieren? Oder geraten dann wieder die
Schwächsten unter die Räder? Sind wir bald wieder bei den Hobbylehrern nur mit
Matur und einigen Studiensemestern angelangt? Eine ungemütliche Perspektive. Für
eine wirklich erhellende Kolumne enthält dieser Text etwas viele Fragezeichen.
Die Situation macht einen tatsächlich ratlos. Da hat man ein Schulsystem als
richtig erkannt – aber man kann es nicht am Leben erhalten, weil das
Fachpersonal fehlt. Nicht nur Schulleiter und Lehrerverbände sind gefordert,
sondern auch Bildungspolitiker. Durchwursteln geht bald nicht mehr. Entweder
wir finden genügend adäquat ausgebildete Lehrkräfte. Oder wir müssen die
Ansprüche ans System herunterfahren.
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