Der
Beginn der Berufslehre ist ein grosser Umbruch im Leben vieler Jugendlicher.
Die Leitende Jugendanwältin Barbara Altermatt plädiert für mehr Zeit und
weniger Druck. Jugendliche müssten zuerst genau wissen, was sie können und was
nicht.
In der Pubertät überfordert: "Für viele Jugendliche kommt die Lehre zu früh". Oltner Tagblatt, 17.8. von Lucien Fluri
In der Pubertät überfordert: "Für viele Jugendliche kommt die Lehre zu früh". Oltner Tagblatt, 17.8. von Lucien Fluri
Hunderte Solothurner Jugendliche haben ihre Lehre begonnen. Wie lange dauert es, bis
die Jugendanwaltschaft dies spürt
Altermatt:
Im Moment herrscht Aufbruchstimmung. Viele Jugendliche haben eine Stelle und
haben sich gefreut, mit der Lehre zu beginnen. Die erste Klippe kommt nach
drei Monaten, die zweite im Februar, wenn das erste Zeugnis von der
Gewerbeschule kommt. Es zeigt sich dann, dass es nicht nur Ansprüche des
Lehrbetriebs gibt, sondern dass man auch noch in der Schule Leistung erbringen
muss. Das ist nicht immer einfach.
Warum ist dieser Lehrbeginn so einschneidend?
Schwierig ist es für alle, auch für das familiäre Umfeld. Ohne Begleitung und
Unterstützung schafft man dies eigentlich nicht. Es ist schliesslich ein
spezieller Übergang: Mit 15 oder 16 bist Du in der vollen Ablösung von daheim.
Man ist mit vielem beschäftigt, unter anderem eine eigene Persönlichkeit zu
werden. Man schiebt weg, was von Erwachsenen kommt. Und was passiert nun? In
der Lehre musst Du Dich als erstes jensten Chefs unterordnen. Man muss sich
ganz stark auf Erwachsene einlassen, um eine gute Ausbildung hinzulegen. Im
Betrieb sind plötzlich alle ein wenig Chef – ausser ich. Da muss man sich
zuerst zurechtfinden.
Eine Lehre hat auch mit dem Selbstwertgefühl
zu tun.
Ganz sicher. Man muss sich zeigen und Bewerbungen schreiben. Wir haben immer wieder
Jugendliche, bei denen wir herausfinden, dass sie Bewerbungen geschrieben,
aber gar nicht abgeschickt haben. Man getraut sich nicht. Man hat Angst vor
dem Resultat, das es geben könnte. Es wartet ja niemand auf Dich.
Wo liegen Hürden?
Dass gewisse diesen Übergang nicht schaffen, hat durchaus seine Gründe. Die neun
Schuljahre steht man meist durch. Nachher ist Neuland. Es geht sehr schnell.
Viele Jugendliche waren sich nicht bewusst, was es heisst, in eine Lehre zu
gehen. Sie denken: Das kommt dann schon gut, ich habe ja eine Stelle. So ist
es leider nicht. Man muss sich selbst kennen lernen.
Ein Beispiel?
Eine Problemzone kann sein, dass man die völlig falsche Berufsvorstellung hatte. Es
gibt diejenigen, die sich quasi in einer Scheinwelt bewegt haben, die mit
etwas Glück oder ein paar guten Tagen zu einer Lehrstelle gekommen sind. Dann
aber merken sie, dass sie die Anforderungen gar nicht erfüllen können. Wenn
jemand ein schlechter, vielleicht knapp mittelmässiger Sek-B-Schüler und der
Zielberuf das KV ist, da muss man sich nicht wundern, wenn es Absagen hagelt.
Oder?
Oder man hatte den Kollegen, dem es gefällt. Oder man war sich nicht bewusst, dass
eine Ausbildung mit Kritik verbunden ist. Man wusste nicht, auf was man bei
der Lehrstellensuche achten muss. Denn nicht nur der Beruf muss stimmen. Auch
das Umfeld und die Menschen dort müssen einigermassen stimmen. Viele sind
eigentlich überfordert. Wenn sie schnuppern, sind sie 14 oder 15. Wer geht
schon mit extrem offenen Augen durchs Leben in dieser Phase?
Es ist früh.
Ich wage zu behaupten, dass es für einen grossen Teil zu früh ist. Zu früh, weil
die Lehre nach meinem Dafürhalten eine Doppelbelastung ist. Die Jugendlichen
müssen in der Schule und im Betrieb bestehen. Es ist wie wenn wir Erwachsene
neben unserem Job noch eine satte Weiterbildung machen.
Es bräuchte mehr Zeit?
Wohin zieht es die Leute heute? Den Mädchen rät man zur Fachangestellten Betreuung.
Eine 15-Jährige in der Betreuung, Guten Morgen! (klopft auf den Tisch). Das
ist ein «armer Cheib». Es wäre besser, wenn man einige in Teilbereichen zuerst
mitlaufen lassen würde. Vielen täte es besser, wenn man einen Praxisteil
vorausnehmen würde, bevor man in den Schulbereich geht, damit sie zuerst
einmal in einem Betrieb ankommen und nicht gleich von allen Eindrücken
überrollt werden.
Das würde länger dauern.
Man kann schon sagen, ein weiteres Jahr zieht ins Land. Aber es ist ein Jahr, in
dem man viele Erfahrungen machen kann. Den Dreisatz verliert man nicht in
einem Jahr. Manchmal kann auch ein Zwischenjahr hilfreicher sein, als auf
Biegen und Brechen irgendeine Lehrstelle zu finden, in der es einem nicht wohl
ist.
Was könnte die Schule anders machen bei der
Vorbereitung?
Gut ist wenn die Schule Zeit lässt für längere Schnuppereinsätze, wenn sie mehr
erlaubt als 2, 3 Tage. Wenn ich nur schön höre: 2 Tage Schnuppern und man
erhält eine Lehrstelle. Da muss man sich schon kennen. Oder es ist ein
Glücksfall, dass es klappt.
Und?
Selbstkompetenz
und Persönlichkeitsentwicklung sind mehr und mehr von Bedeutung, weil der
Beruf im Laufe des Lebens immer häufiger wechselt. Der Mensch aber bleibt. Die
menschlichen Kompetenzen gilt es deshalb zu fördern, etwa die
Selbsteinschätzung. Es gibt durchaus gute Ansätze in Schulen, wo
eigengesteuertes Lernen gefördert wird, wo die einzelnen Jugendlichen merken,
wo sie als Einzelpersonen stehen und nicht nur im Verband. Man kann schon
sagen: Solange ich besser bin als mein Kollege, bin ich gut. Aber mein Kollege
kommt halt nicht mit zur Lehrstelle. Wenn die Selbstkompetenz klappt, hat man
gute Chancen.
Es kommt auf die richtige Selbsteinschätzung
an?
Wer eine Lehrstelle sucht, steht vor Fragen wie: Was kann ich wirklich? Kann ich
durchhalten, wenn es schwierig ist? Kann ich eine langweilige Arbeit tun, wenn
der Chef dies sagt? Woher nehme ich die Motivation? Diejenigen Jugendlichen,
die wissen, was sie können, haben es viel besser als diejenigen, die noch
nicht begriffen haben, dass sie in der Entwicklung sind und noch nicht ganz
alles können.
Spüren Sie auch Veränderungen in der Lehre?
Die grosse Veränderung war, als man die Anlehre aufgehoben hat. An ihre Stelle kam
die Attestausbildung, die einen Zacken zugelegt hat. Für viele, die wirklich
wenige Fähigkeiten vorweisen können, ist die Attestausbildung bereits eine
grosse Herausforderung. Das andere ist, ob man will oder nicht: Die Ansprüche
in den Betrieben nehmen nicht ab. Es ist immer ein grosser Aufwand, Lernende
auszubilden. Der Betrieb muss laufen, möglichst effizient und gut. Dieser
Druck kommt auch bis zu den Lernenden. Sie müssen funktionieren wie andere
Mitarbeiter auch.
Es gibt zu wenig niederschwellige Angebote?
Ja, und das beschränkt sich nicht nur auf die Jugendlichen. Welche einfachen Jobs
gibt es grundsätzlich in der Arbeitswelt noch, mit denen man etwas verdienen
kann? Insofern ist es logisch, dass es auch Ausbildungsgänge, die ein
niederschwelliges Angebot hatten, nicht mehr gibt.
Wer kommt zu Ihnen: der Lehrabbrecher oder derjenige, der gar keine Lehrstelle findet?
Grundsätzlich kommt zu uns, wer ein Delikt begangen hat oder unter dringendem
Tatverdacht steht. Wir haben es mengenmässig häufiger mit Jugendlichen zu tun,
die Abbrüche haben als mit Jugendlichen, die den Einstieg nicht geschafft
haben. Es ist schwierig mit Abbrüchen. Sie verlieren das wenige an Selbstwert,
dass sie noch hatten auf einen Schlag. Alles wie: Ich bin jemand, ich habe
einen Job, ich gehöre dazu, der Stolz über das Arbeitsgewand, das eigene Geld.
Wenn man an den Bancomaten geht, kommt etwas raus: Alle diesen guten Gefühle
fallen dahin. Dann kommen die grossen Zweifel.
Dann...
Wenn dieser Status wegfällt: Da muss man einsehen: Es hat auch etwas mit mir zu
tun. Das dauert manchmal.
Zwischen Lehrabbruch und einem Delikt, das
zum Gang zur Jugendanwaltschaft führt, gibt es ja einen Zwischenschritt. Wo
liegt er? Sie haben mal gesagt: «Wenn sonst nichts geht, ein Delikt kann
jeder.»
Wie alle anderen gewöhnen sich Jugendliche auch relativ schnell an eine
neue Struktur. Sie umgeben sich mit Leuten, die auch nicht arbeiten. Frei ist
frei, da geniessen wir das Leben. Man kann ausschlafen. Man steht mittags auf,
gamt, schaut, was die Kollegen machen, geht in den Ausgang. Viele wollen sich
dann spüren oder wollen, dass etwas läuft. Das ist eine gefährliche
Geschichte. Wenn sie nichts zu tun haben, machen sie sonst etwas. Nicht
dazugehören, das Gefühl, zu dumm zu sein, das führt zu Frust und zum Willen,
den Selbstwert auf die Schnelle zu steigern. Dann braucht man jemanden, der
schwächer ist. Es sind nicht die intelligentesten Delikte, die geschehen.
Gibt es spezielle Delikte?
Es gibt keine typischen Delikte, aber man ist grundsätzlich bereit, Delikte zu
begehen, die einem das Gefühl geben, zu etwas in der Lage zu sein. Auch wenn
es nur für fünf Minuten ist. Dies können Vermögensdelikte, Diebstähle, oder
Sachbeschädigungen an Automaten sein.
Es gibt mehr Lehrstellen als Lernende.
Und es geht trotzdem nicht auf. Bei den geburtenstarken Jahrgängen hat man viele
Lehrstellen aus dem Boden gestampft. Jetzt hat man ein zu grosses Angebot für
die Anzahl Interessenten. Aber es löst das Problem nicht. Es muss passen und
die Entwicklung einer Person muss eben vorhanden sein.
Was können die Eltern beitragen?
Die Begleitung der Eltern ist ganz, ganz wichtig. Sie müssten ihr Kind am besten
kennen und müssten am meisten Interesse haben, dass das Kind etwas findet, das
ihm realistischerweise entspricht. Man kann als Eltern nicht einfach
feststellen: Unser Kind ist schnuppern gegangen, es war positiv. Eltern sollten
konkret nachfragen, mit dem Kind sprechen, wie es ihm gegangen ist, wo es
seine Fähigkeiten zeigen konnte, wo es ihm weniger gut gegangen ist.
Das geschieht nicht immer?
Da gibt es grosse Unterschiede. Vielleicht will man auch nicht immer genau
hinschauen, weil man froh ist, eine Lehrstelle zu haben. Das Suchen ist ja für
alle, auch für Eltern, ein grosser Aufwand. Aber die Eltern sollen die
Möglichkeiten des Kindes wirklich realistisch einschätzen und dies auch
kundtun. Nicht im Sinne von: Das schaffst du nicht. Aber: Wo hast Du deine
Fähigkeiten? Das fällt vielen Eltern schwer, oder sie üben Druck aus, dass ein
sauberer und gut bezahlter Beruf her muss. Weil: «Lernen kann man ja alles».
Aber viele Jugendliche wissen schon, dass sie nicht alles können.
Bei einem Abbruch?
Wenn es nicht klappt, sollte die Begleitung nicht aufhören. Die Abbrüche führen
häufig dazu, dass die ganze Familie überfordert ist. Das Bild stimmt nicht mehr.
Wenn man vorher keine Ahnung hatte, wie man das Kind stützen kann, ist es
nachher auch nicht einfach. Aber man sollte es nicht hinnehmen, dass das Kind
nichts mehr tut. Viele Eltern motivieren wir deshalb auch, das Daheim
unbequemer zu gestalten. Da habe ich manchmal schon den Eindruck: Ja, wenn der
Lehrbeginn im nächsten Sommer etwas weit entfernt liegt, ruht man als Familie
noch etwas aus, was sehr ungünstig ist. Denn es wissen alle: Jetzt suchen die
Neuen bereits.
Was kann der Lehrmeister tun?
Den Kontakt pflegen: Mit der Schule reden und mit den Eltern Gespräche führen,
sodass die Jungen merken: Es gibt um mich herum ein Netz, da kann ich keine
Einzelteile gegeneinander ausspielen. Eltern, die auch schon mal mit dem
Lehrmeister geredet haben, kaufen es ihrem Kind nicht sofort ab, wenn es sagt:
Der Lehrmeister ist «ein Löu». Jugendlicher, Familie, Schule und Lehrbetrieb:
Diese vier müssen lückenlos miteinander kommunizieren.
Sie müssen als Jugendanwältin einerseits
strafen.
Das machen wir auch.
Gleichzeitig hat die Sozialarbeit grosses
Gewicht bei der Jugendanwaltschaft.
Das sind zwei sich ergänzende Themen. Wir haben Jugendanwälte und
Sozialarbeiterinnen. Strafschiene und Sozialarbeit laufen parallel. Die Strafe
ist in vielen Fällen der Weckruf, dass jetzt andere Zeiten anbrechen. Dann
muss man vom Fleck kommen. Ich kann nichts, ich bin nichts: Diese
Perspektivlosigkeit kommt nicht gut. Eine Tagesstruktur, eine Ausbildung, ein
Job: Das ist Prävention Nummer 1. Wenn man sie so weit hat, dass sie dies können,
ist es nicht mehr so gefährlich. Das Problem ist, sie dorthin zu bringen. Man
muss Probleme suchen. Wenn man dranbleibt, sich nicht zufriedengibt mit einer
Antwort, finden sie bald einmal keine Ausreden mehr. Manchmal ist es für
Jugendliche auch einfacher, bei uns die Karten auf den Tisch zu legen. Es kann
schwieriger und mit Ängsten verbunden sein, dies innerhalb der Familie zu tun.
Wie gehen Sie vor?
In einer ersten Phase geht es immer und die Delinquenz: Was war? Dass man weiss, wo die Person steht. Wo liegen Deine Fähigkeiten und Schwierigkeiten? Wenn man dies mal hat und die Jugendlichen auf das Thema einsteigen, den Panzer ablegen, dann kann man sie mit gutem Gewissen losschicken. Man muss zuerst den Knüppel lösen. Wir haben es zu 95 Prozent mit Jugendlichen zu tun, die eigentlich wollen. Wenn man sie mal konfrontiert hat oder die Wahrheit auf den Tisch gebracht hat, sind sie durchaus bereit, etwas zu beweisen. Sie machen es. Die Frage ist nur, wie schnell.
In einer ersten Phase geht es immer und die Delinquenz: Was war? Dass man weiss, wo die Person steht. Wo liegen Deine Fähigkeiten und Schwierigkeiten? Wenn man dies mal hat und die Jugendlichen auf das Thema einsteigen, den Panzer ablegen, dann kann man sie mit gutem Gewissen losschicken. Man muss zuerst den Knüppel lösen. Wir haben es zu 95 Prozent mit Jugendlichen zu tun, die eigentlich wollen. Wenn man sie mal konfrontiert hat oder die Wahrheit auf den Tisch gebracht hat, sind sie durchaus bereit, etwas zu beweisen. Sie machen es. Die Frage ist nur, wie schnell.
Kindergärtnerinnen müssen Windeln wechseln, die Berufslehre kommt zu früh, Luzern erteilt Sondergenehmigungen, weil die Lehrlinge nach Gesetz noch gar nicht arbeiten dürften... Es soll nicht besserwisserisch klingen: Genau auf diese Punkte wurde bei den Harmos-Abstimmungen hingewiesen. Man wollte nichts davon wissen.
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