Wir stecken mitten in einem
Bildungswandel. Die «Digitalisierung» ist dabei omnipräsent. Alle wollen für
unsere Jugendlichen die beste Schule. Doch statt am gemeinsamen Strick zu
ziehen, ziehen alle in eine andere Richtung. Am Schluss müsste eigentlich die
Frage lauten: Wie sieht denn die gute Schule von Morgen wirklich aus und wie
erreichen wir dieses Ziel?
Schule von Morgen – Eine Frage des «Wie»!, 10.4. von
Thomas Baer
In jüngster Zeit, wenn immer
über die Modernisierung der Schule gesprochen oder geschrieben oder über den
Lehrplan 21 debattiert wurde, stellten es die Medien gerne als «Kampf» dar. Ein
«Kampf» zwischen den Reformern und Wirtschaftsverbänden, welche die Schule
gleich morgen radikal umgekrempelt sähen und den Kritikern, die sich
berechtigte Sorgen machen, da Digitalisierung auf der ganzen Bandbreite auch
nicht das Allerheilsmittel einer guten Bildung sein kann! Doch die Kritiker
wurden nur zu gern in die Ecke der «Ewiggestrigen» gestellt. Immer wieder
wurden ihre Aussagen verdreht oder bewusst missverstanden. Wenn Eltern
frappante Wissenslücken ihrer Sprösslinge feststellen, wenn sie die mangelnde
Kontrolle kritisieren, wenn sie die fehlende Unterstützung durch die Lehrer,
pardon Coaches, anprangern, dann sind dies berechtigte und nicht aus der Luft
gegriffene Argumente!
Wir wissen aber, dass in der
Regel nur positiv über die Schule berichtet wird oder berichtet werden darf.
Oft tönt es dann nach einem Systemwechsel so, man sei sich Fehlern bewusst, es
sei ja logisch, dass nicht alles auf Anhieb funktionieren könne. Doch wenn ein
«Schulexperiment» über mehrere Jahre dauert und noch immer keine nennenswerten
Verbesserungen für die Schüler erfolgt sind, muss man sich schon die Frage
erlauben, ob die Schule dann in eine richtige Richtung läuft.
Wenn mir ein Schüler des 10.
Schuljahrs nach ein paar wenigen Wochen sagt, es sei die beste Entscheidung
gewesen, noch ein Schuljahr anzuhängen, jetzt habe er endlich wieder einmal
richtige Lehrer, die den Stoff vermitteln würden, stimmt eine solche Aussage
schon nachdenklich. Solche Stimmen sind keine Seltenheit und zwar oft von guten
Schülern! Sekundarschüler, die ihre Aufnahmeprüfung ans Kurzzeitgymnasium
schaffen wollen, sind fachlich und stofflich an SOL-Schulen oft derart im Hintertreffen,
dass zuerst der gesamte Prüfungsstoff erarbeitet werden muss. Interessant ist
dabei auch die jüngst gelesene Kritik, Sekundarschüler hätten kaum mehr eine
Chance an den Gymnasien. Statt sich einmal die Frage zu stellen, ob nicht das
Bildungsniveau der Sekundarschule stark gesunken ist, was die Anforderungen
anbelangt, überlegt man sich lieber, die Aufnahmeprüfungen zu vereinfachen, indem
man etwa die Französischprüfung streicht. Kann dies das Ziel sein? Sicher
nicht: Die Sekundarschule müsste «ihre Hausaufgaben besser machen»!
Kommen wir zu einem letzten
Beispiel aus der Praxis: Ein Schreinerstift, den ich seit Jahren begleite,
wurde auch «digital» beschult und hätte ohne meine Unterstützung wohl grösste
Probleme im Berufsleben gehabt, hätte er ohne die externe Unterstützung überhaupt
eine Lehrstelle bekommen! Heute meistert er die Berufsschule mit Bravur. Pläne
werden aber noch immer mit Bleistift und Papier angefertigt. Das iPad ist also
in weiter Ferne und die vermeintliche «Vorbereitung aufs Berufsleben» hätte
realitätsferner nicht sein können. Mathematik wird noch immer auf Papier gelöst
und mit dem Kopf verstanden, sicher aber nicht auf einem elektronischen
Spielzeug.
Was
wollen wir?
Wenn über die «Schule von
Morgen» geredet wird, so hat Jeder und Jede eine Meinung dazu. Schliesslich
gingen alle einmal selber zur Schule und haben ja eine Ahnung davon. Wirklich
alle? Glaubt man dem Wirtschaftsdachverband, so vertritt er primär seine
Interessen, weit ab von Fragen nach der Pädagogik und Didaktik. Redet man mit
flammenden Lehrplan-21-Befürwortern, so sind diese begeistert, möglichst viel
Arbeit an die Kinder zu delegieren. Sie nennen es dann Selbstkompetenz-Erwerb.
Unsere Bildungstechnokraten indessen sind, geblendet von den hervorragenden finnischen
PISA-Resultaten, auf einen Zug der Reform aufgesprungen, ohne dabei zu merken,
dass die guten Ergebnisse der Skandinavier noch eine Spätfolge eines einst
traditionellen Unterrichts waren! Jetzt ist es natürlich zu spät, eine
Kehrtwende vorzunehmen und noch weniger einzugestehen, dass man auf ein
falsches Pferd gesetzt hat.
Solange viel zu viele
Interessen, Meinungen und Visionen einer «Schule von Morgen» im Raum stehen, so
schnell wird es eine wirklich «gute Schule» nicht geben. Wie heisst es so schön:
Viele Köche verderben den Brei. In der Schule haben wir diesen Brei seit
Jahrzehnten! Es wird an allen Ecken und Enden experimentiert und versucht, notabene
alles auf Kosten unserer Schüler. Wer definiert denn eigentlich, was eine gute
Schule ausmacht? Haben wir die Schule nicht längst digitalisiert? Unsere
Jungen, unsere Gesellschaft sind ja weiss Gott nicht stehen geblieben und
beherrschen elektronische Medien durch deren täglichen Gebrauch ohnehin. Für
den Lernenden macht es aber einen Unterschied, ob er eine Fremdsprache im
Klassenverband durch aktive und physische Kommunikation oder bloss am iPad
virtuell lernt, indem er ein paar Sprachübungen hört und Wörtchen eintippt.
Gerade im Sprachenerwerb ist ein gesamtheitlicher Unterricht unabdingbar. Eine
Sprache lernt man nicht (nur) virtuell! Das Sprachlabor lässt grüssen!
Auch der soziale Aspekt ist in
der Schule wichtig, vielleicht sogar wichtiger denn je! Ein Lehrer – ich
spreche bewusst nicht von Coach – sollte Vorbildfunktion haben, die Schüler
motivieren, anleiten, fördern und fordern, ihnen Feedbacks geben, korrigieren
und kontrollieren. Natürlich bedeutet dies einen Mehraufwand, eine Arbeit, die
sich allerdings auch im Digitalzeitalter noch lohnt. Ein guter Lehrer soll
Vertrauensperson sein und die Schüler ernst nehmen, und zwar als Menschen und
nicht als «virtuelle Wesen».
Dass die heutige
Schulphilosophie in eine verkehrte Richtung läuft, zeigt sich weiter auch am
Umstand, dass das Lernen nach dem «Lustprinzip» gewiss nicht die richtige
Vorbereitung auf das Berufsleben sein kann. Wo und in welchem Betrieb kann ein
Jugendlicher wählen, was er gerne arbeiten möchte? Wenn der Chef sagt, «dies
und das müsse bis dann erledigt sein», kann sich der Lehrling wohl kaum
ausnehmen, das zu tun, worauf er gerade Lust hat. Wird hier nicht an so mancher
Schule einfach eine «pseudo-heile Welt» vorgegaukelt? Kommt hinzu, dass sich
die Schüler oft «zu tiefe» Lernziele setzen, weil sie ja möglichst rasch zu
einem Erfolgserlebnis kommen wollen. Ein Lehrer, der seine Schüler wirklich
kennt, kann sehr individuell fördern und fordern, nicht aber ein Lerncoach, der
im «Grossraumbüro» – genannt Office – nicht einmal alle Sprösslinge persönlich kennt.
Einem 13- bis 16-Jährigen ist es dann nicht zu verübeln, wenn er genau diese
Schwächen des Systems ausnutzt, sprich, wenn er feststellt, dass seine Arbeiten
nicht einmal bewertet werden und er keine oder magere Feedbacks bekommt.
Alles
mit (Augen)-mass!
Wie oft habe ich erlebt, dass
Lernen dann fruchtbar ist, wenn eine gute Beziehung zur Klasse besteht. Dann
ist auch das individuelle Fördern, das es schon seit Jahrzehnten gibt und keine
«Erfindung der Neuzeit» ist, produktiv und nachhaltig. Die Schnelllebigkeit
unserer Zeit können wir nicht aufhalten, gewisse Entwicklungen auch nicht. Aber
es ist immer eine Frage, wie wir Lehrer damit umgehen. Sind wir antiquiert,
wenn wir nicht jede Entwicklung ohne Reflexion mitmachen? Sind wir
altertümlich, wenn nicht immer nur das iPad, der Computer oder ein Beamer
unseren Unterricht dominieren? Nein! Es ist doch schlicht und einfach eine
Frage des Masses. Wo macht es wann Sinn, ein elektronisches Medium einzusetzen?
Beim Wörtchen-Lernen unterwegs kann ein Programm wie Quizlet sicher nützlich
sein. Dennoch müssen die Wörter auch von Hand geschrieben und vor allem gelernt
werden. Auch das Lernen von Grammatik passiert nicht am Computer genauso wenig
wie das Büffeln von mathematischen Formeln. Was ist denn so schlecht, wenn wir
etwas lernen? Wollen wir denn unser Wissen gänzlich den elektronischen Medien
überlassen oder es gar auslagern? Noch nie hat Lernen jemandem geschadet. Doch
heute könnte man mit Blick auf den neuen Lehrplan 21 meinen, dass Wissenserwerb
grundlegend schlecht sei, denn nicht umsonst erinnert uns dieser mit dem
überstrapazierten Begriff «Kompetenzerwerb» permanent daran, dass unsere
Jugendlichen «nur noch» kompetent sein sollten. Das Wissen kann man ja überall
und jederzeit woanders nachschauen. Wie aber «Kompetent sein» ohne Wissen
funktionieren soll, müsste mir zuerst einmal jemand erklären. Ist es denn
wirklich so verkehrt, wenn jemand Wissender einem «Unwissenden» etwas
beibringt?
Die Schule sollte sich endlich
wieder verstärkt mit ihren wesentlichen Dingen beschäftigen. Nicht alles ist
Gold, was glänzt, und genauso ist es mit der «Verdigitalisierung» unserer
Schule. Wenn einem Wirtschaftsdachverband vorschwebt, dass dereinst einmal ein
Grossteil des Unterrichts nur noch elektronisch funktionieren sollte, dann
möchte ich als Pädagoge wissen, wie er sich das denn konkret vorstellt, ohne
dass die soziale Komponente, die Beziehung zu den Lernenden und der
Wissenserwerb verloren gehen.
Wir Pädagogen sollen wieder
kritischer werden, mehr reflektieren und gewisse Entwicklungen hinterfragen.
Oft fehlt den Lehrpersonen der Mut, Farbe zu bekennen und auch einmal Nein zu
sagen. Lieber schweigt man und versteckt sich hinter der Mainstream-Meinung.
Doch Schule ist viel mehr als ein Einheitsbrei. Schule sollte und müsste farbig
sein; das wollen alle. Ich meine damit die Vielfalt und Methodenfreiheit. Nicht
alles, was unsere gute Schule einst auszeichnete, ist per se schlecht. Eine
gute Schule zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie Bewährtes pflegt und
Neues nicht verteufelt, aber dort integriert, wo es Sinn macht, optimiert, aber
auch kritisch hinterfragt. Dies sollte unser Ziel sein! Uns aber einfach dem
«Diktat» von zum Teil praxisfernen Bildungstechnokraten zu fügen wäre gewiss
der verkehrte Ansatz. Schliesslich sind es wir Lehrerinnen und Lehrer, die
täglich an der Basis unsere Arbeit erledigen und nur eines wollen: Die beste
Schule!
Thomas Baer ist Primarlehrer & Nachhilfelehrer
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