Die Schweizer Wirtschaft will, dass in den Schulen das
individualisierte Lernen gefördert wird. In Niederhasli ist das längst Tatsache
– und das Beispiel zeigt, wie steinig der Weg in die digitale Zukunft ist.
Der Kampf um die Schule von morgen, St. Galler Tagblatt, 9.4. von Dominic Wirth
«Und jetzt alle einloggen», sagt Lehrer Davide Carls, und schon
flitzen Dutzende Kinderhände über iPad-Bildschirme. Kurz darauf erscheint die
erste Frage auf dem grossen Bildschirm, der in diesem Schulzimmer der Zukunft
als Wandtafel dient. Ein Quiz zum Warmwerden, so beginnt Carls seine
Deutschstunde an diesem Tag. Seine Schüler antworten mit einem Wisch über den
Touchscreen. Später trainieren sie am iPad ihr Leseverständnis. Carls nutzt
sein Gerät, um ihnen über die Schulter zu schauen, für jeden Schüler erscheint
ein Balkendiagramm auf dem iPad des Lehrers: Grün für richtig, rot für falsch,
eine Prozentzahl für den Lernfortschritt.
Im Trakt C der Sekundarschule Seehalde, der «Lernhaus Flow»
heisst, dreht sich alles um das iPad. Das ist im ersten Stock der Schule im
Zürcher Dorf Niederhasli so, im Zimmer von Lehrer Carls. Und auch eine Etage
höher, wo gerade ein Schar Kinder im Office sitzt. Hier lernen die Schüler
selbstorganisiert. Sie entscheiden, was sie mit ihrer Zeit machen; vom einen
iPad leuchtet eine Landkarte, vom nächsten ein Dreieck.
Vom Lehrer nur noch Inputs
Von aussen sieht das Schulhaus Seehalde aus wie viele andere:
ein- und zweistöckige Gebäude mit flachen Dächern, davor ein grosser grauer
Pausenplatz mit Tischtennistischen, daneben ein roter Platz und eine Wiese, auf
der Fussballtore stehen. Doch die Seehalde, die dort liegt, wo Niederhasli
beginnt, ist vieles. Aber eine normale Schule ist sie nicht. Denn sie geht seit
Jahren bei einer grossen Frage voran: Wie umgehen mit der Digitalisierung in
der Schule?
Für manche ist das Zürcher Schulhaus ein Ort der Zukunft, ein
Vorreiter, an dem sich andere Schulen im Land orientieren sollen. Pädagogische
Hochschulen schicken ihre Studenten hierher, und als Economiesuisse kürzlich an
einer Pressekonferenz darlegte, wie die digitale Zukunft an den Schulen
aussehen soll, spielte der Wirtschaftsdachverband ein Video aus Niederhasli
vor. Das individualisierte Lernen ist für ihn die Zukunft, und er setzt sich
dafür ein, dass die Schulen dieses Modell forcieren. Doch die Geschichte des
Schulhauses Seehalde zeigt, dass dieser Weg ein steiniger werden kann. In
Niederhasli hat er zu Widerstand geführt, zu Streit gar. Bald wird diese
Geschichte um ein weiteres Kapitel reicher: Am 15. April, wenn die Schulpflege
neu gewählt wird. Es steht dann nichts weniger als die Philosophie der Schule
auf dem Spiel. Und die Geschichte von Niederhasli ist eine, die sich an vielen
Schulen wiederholen könnte, wenn sie tun, was die Wirtschaft fordert – und
vermehrt auf das individualisierte Lernen setzen.
Marco Stühlinger sitzt in einer der flachen Seehalde-Bauten an
einem Tisch, vor ihm ein Laptop, hinter dem Fenster das Zürcher Unterland, am
Himmel ständig Flugzeuge, die den nahen Flughafen Kloten anvisieren. Der Leiter
Bildung der Schule gehört zu jenen, die mit aller Kraft hinter dem stehen, was
in Niederhasli passiert. Er ist Mitte 30, trägt ein grünes Hemd und einen
Fünftagebart; wenn Schüler ihn etwas fragen und er gerade keine Zeit hat,
schlägt er vor, man könne ja später noch chatten.
Für Besucher hat
Stühlinger eine Präsentation vorbereitet, die all das, was in Niederhasli seit
2013 so viel zu reden gibt, auf ein paar Folien zusammenfasst. Begriffe wie
Office, Homebase oder selbstorganisiertes Lernen (SOL) schwirren dann durch den
Raum, und schnell wird klar: Viel ist hier von der alten Volksschule nicht
übrig geblieben. Statt Jahrgangsklassen sitzen in so genannten Homebases je
fünf Schüler aus der siebten, achten und neunten Klasse; etwa ein Drittel der
Unterrichtszeit der 13- bis 16-Jährigen spielt sich im Office ab, wo sie
selbstorganisiert lernen; statt Frontalunterricht gibt es nur noch vereinzelte
Input-Lektionen; zentrales Arbeitsinstrument ist das iPad. Mit ihm greifen die
Schüler etwa auf digitale Lehrmittel zu, nutzen Lernseiten im Internet oder
eine App für den Französisch-Wortschatz.
«Was wir hier machen, ist zeitgemäss und bereitet unsere Schüler
für die Zukunft vor», sagt Stühlinger während seiner Präsentation irgendwann.
Wenn er an seine eigene Schulzeit denkt und daran, wie er sie in Erinnerung
hat, dann kommt er bald einmal auf das «Bulimie-Lernen» zu sprechen. Er meint
das Auswendiglernen von Stoff, um ihn nach der Prüfung sogleich wieder zu
vergessen. So etwas wollen sie an der Seehalde unbedingt vermeiden, und ihr
Zauberwort heisst selbstorganisiertes Lernen. Die Schüler entscheiden selber,
wie sie sich einteilen, was sie wann tun, um am Schluss den Stoff zu
beherrschen, der auch in der Seehalde mit Prüfungen abgefragt wird. Bei Fragen
steht ein Lerncoach bereit. «Unser Modell rüstet die Schüler besser für die
moderne Arbeitswelt, weil sie selbständiger werden, zuverlässiger,
initiativer», sagt Stühlinger.
Widerstand mit allen Mitteln
Niederhasli ist ein Ort mit vielen Einfamilienhäusern, aber ohne
Gesicht; dem grossen Zürich nah und doch fern. Nah, weil das 9000-Seelen-Dorf
zum Agglomerationsbrei gehört, der sich um die Stadt ausbreitet. Fern, weil
hier im Gegensatz zum rot-grünen Zürich rechtskonservative Werte dominieren.
Bei den letzten Parlamentswahlen kam die SVP auf beinahe 50 Prozent der
Stimmen. Dass ausgerechnet in diesem Ort jene Schule steht, die landesweit als
ein digitaler Vorreiter gilt, liegt an Gregory Turkawka, dem ehemaligen Leiter.
Er hat die Seehalde zwar im letzten Jahr verlassen, doch in Niederhasli ist er
bis heute präsent geblieben – und zwar bei Marco Stühlinger, der mit ihm
gearbeitet hat, genauso wie bei jenen, die seine Ideen seit jeher bekämpfen.
Das Haus von Suzanne Weigelt steht in Sichtweite des
Seehalde-Schulhauses. Weigelt war dort einst selbst Lehrerin, doch als
Schulleiter Turkawka die digitale Wende ausrief, kündigte sie nach elf Jahren.
Seither gehört sie zum Kreis jener, die sich in einer Interessengemeinschaft
zusammengeschlossen haben – und an dem, was in der Seehalde passiert, kein
gutes Haar lassen. Zusammen mit Mitstreiterin Nicole Fuchs sitzt sie jetzt in
ihrem Wohnzimmer, auf einer Holzkommode steht Osterschmuck. «Die Schüler an der
Seehalde werden überfordert und sich selbst überlassen, sie sind schlicht zu
jung, um so viel selbstorganisiert zu erlernen», sagt Weigelt. Sie spricht von
«riesigen Stofflücken», mangelnder Kontrolle der Schüler durch die Lehrer und
verweist darauf, dass viel weniger Sekschüler den Sprung an Kanti oder BMS
schaffen als im kantonalen Durchschnitt. Die Schulleitung erwidert, die
kantonale Stellwerk-Tests zeigten, dass die schwächeren Schüler sich seit dem
Systemwechsel verbessert hätten – und die guten gleich gut geblieben seien.
Die Gegner haben in den vergangenen Jahren einiges versucht, um
den digitalen Wandel in Niederhasli aufzuhalten. Sie haben – erfolglos – eine
Aufsichtsbeschwerde beim Zürcher Volksschulamt eingereicht, 2015 mit Plakaten
wie «SOS=SOL» auf dem Pausenplatz demonstriert und über Budgetkürzungen Druck
auf die Schule ausgeübt. Und sie haben auch etwas erreicht: Etwa, dass im
zweiten Sekundarschulhaus der Schulgemeinde im benachbarten Niederglatt wegen
der Proteste ein Marschhalt ausgerufen wurde; der Systemwechsel, der eigentlich
auch dort angedacht war, ist auf Eis gelegt.
Die neuen iPads sind schon bestellt
Doch das genügt den Gegnern nicht, und schon bald steht für sie
so etwas wie die letzte Schlacht an: Bei den Sekundarschulpflege-Wahlen am 15.
April kandidieren vier IG-Vertreter für die sieben Sitze; Nicole Fuchs will
neue Präsidentin werden. Und sie macht klar: Wenn sie gewählt wird, will sie
einiges verändern an der Seehalde. «Ich will eine engere Betreuung der Schüler,
mehr Kontrolle, das Klassenlehrer-Modell wieder stärken. Und das iPad würde
nicht als einziges Lehrmittel zum Einsatz kommen», sagt Fuchs, die selber einen
Sohn hat, der bald in die Seehalde kommt – und einen, der die Schule schon
besucht hat. Als im Kanton Zürich kürzlich darüber abstimmt wurde, ob der
Lehrplan vors Volk soll, haben Fuchs wie auch Weigelt Ja gestimmt; wenn man die
beiden fragt, ob sie sich gegen jede Veränderung im Klassenzimmer sträubten,
wehren sie sich. «Auch wir wollen den digitalen Wandel, aber massvoll», sagt
Weigelt.
Es könnte sich also bald einiges ändern an der Seehalde. Marco
Stühlinger glaubt nicht, dass die IG-Vertreter am 15. April eine Mehrheit
erringen werden. Doch auch für ihn ist klar: Mehr Veränderung verträgt seine
Schule derzeit nicht. Er selber denkt zwar schon an die nächsten Schritte; das
pädagogische Konzept der Gamifizierung etwa, bei dem sich die Schüler in höhere
Levels vorarbeiten und diese halten müssen. Aber in Niederhasli will er sich
jetzt darauf konzentrieren, das System zu optimieren: «Wir haben einen Marathon
hinter uns, nun müssen wir zur Ruhe kommen.» Den eingeschlagenen Weg aber will
Stühlinger weitergehen, und auch die iPads bleiben. Bereits sind neue bestellt,
sie werden im Sommer geliefert.
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