Kürzlich
stellte der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse seine Vision für eine Schuleder Zukunft vor. Kernpunkte darin sind die Stärkung der digitalen Technologie
und ein individualisierter Unterricht in Deutsch und Mathematik. Im Folgenden
sollen einzelne Punkte herausgehoben und zur Diskussion gestellt werden.
Untaugliche Vorschläge zur Digitalisierung an den Schulen, 1.3. von Urs Kalberer
Die
Konstante der wirtschaftlichen Entwicklung sei der Wandel: „Morgen wird schon
wieder alles anders sein.“ Dies gilt als Rechtfertigung für ein digitales
Aufrüstungs-Programm, das die Schüler und Lehrer fit für den Wandel machen
soll. Doch was soll diese Fokussierung auf den Wandel gerade zum jetzigen
Zeitpunkt? Wir stecken ja nicht am Anfang der Digitalisierung – die läuft ja
schon seit Jahrzehnten. In der Schule wird entsprechend schon lange Informatik
unterrichtet und bereits die Vorgänger des Lehrplans 21 verlangten, dass
digitale Geräte in unterschiedlichen Fächern angewendet werden. Da werden also
jede Menge offener Türen eingerannt. Wenn sich das berufliche Umfeld als Folge
der technologischen Entwicklung verändert, muss sich dann auch die Volksschule
verändern? Deren Ziel ist ja die Bildung im umfassenden Sinn mit
Langzeitwirkung. Wäre diese Anpassungsleistung nicht die vordringliche Aufgabe
der Berufsschule? Muss wirklich jeder Schüler programmieren lernen, wie es unser
Wirtschaftsdachverband mit Nachdruck fordert? Das wäre, wie wenn jeder
Automobilist die Funktionsweise eines Motors verstehen müsste, um Auto fahren
zu können.
Zukunft war schon immer unvorhersehbar
Die
Wirtschaftsvertreter zitieren eine Aussage, wonach die Mehrzahl der jetzigen
Kindergärtler in Berufen arbeiten wird, die es heute noch gar nicht gebe. Dies
scheint massiv übertrieben. In der Schweiz gibt es momentan mehr als 180
Berufslehren (EFZ-Berufe). Davon ist die grosse Mehrheit auch in Zukunft
unabdingbar. So werden wir weiterhin Köche, Coiffeure, Bankangestellte, Maurer,
Metzger, Verkäufer, Lehrer, Gärtner, Schreiner, Pfleger und auch Informatiker
benötigen. Es mag sein, dass sich diese Berufe durch den wachsenden Einfluss
der Digitalisierung verändern, doch verschwinden werden sie nicht. Es ist auch
nicht einzusehen, weshalb die Zukunft gerade jetzt und heute so unvorhersehbar
zu sein scheint. Zukunft war schon immer so – nie konnten die Menschen wissen,
was in 10 oder 20 Jahren sein würde. Es ist eine platte Übertreibung, so zu
tun, als ob das heute anders sei und daraus überrissene Forderungen an die
Schule zu stellen.
Gewiss,
die Digitalisierung breitet sich in alle Lebensbereiche aus, alle Berufe sind
davon betroffen. Die Frage lautet jedoch: Ist eine massive Ausdehnung der
Anwendungen von digitalen Geräten an der Volksschule die passenden Antwort auf
diese Herausforderung? Gerade hier hält uns die Forschung interessante
Erkenntnisse bereit: Eine taiwanesische Metastudie verglich 110 Wirksamkeits-Studien
von mobilen Geräten im Unterricht (Smartphone, Tablet, Laptop) zwischen 1993
und 2013, und konnte bloss eine moderate Wirkung nachweisen. Tom Vander Ark,
der frühere Direktor der ICT-affinen Bill-und- Melinda-Gates-Stiftung, meint,
es sei sehr schwierig mit überzeugenden Daten aufzuwarten. Die OECD kommt zum
Schluss, dass sich in Ländern, die stark in Computertechnologie an Schulen
investiert hatten, „keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistung in
Lesen, Mathematik oder Wissenschaft“ zeigen würden. Manche Studien weisen gar
einen negativen Lerneffekt bei starker zeitlicher Inanspruchnahme von Computern
nach. Angesichts der höchst unsicheren Datenlage scheint die offensive
Strategie von Economiesuisse einige Risiken zu bergen. Wäre es deshalb nicht
gewinnbringender, vorsichtiger zu sein? Oder in den Worten des
Kulturpublizisten Konrad Liessmann: „Je mehr ich über den klassischen Weg
gelernt habe, umso besser kann ich digitale Geräte nutzen“.
Individualisierter Unterricht in Schulsprache
und Mathematik
Economiesuisse
schlägt vor, die beiden Fächer Deutsch und Mathematik künftig in
altersdurchmischten Lerngruppen auf individueller Basis zu unterrichten. Damit
könne jeder Schüler bei seinem Lernstand abgeholt und optimal gefördert werden.
Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler John Hattie stellt in seiner
bekannten Vergleichsstudie fest, dass gerade der Klassenunterricht eine hohe
Wirkung erzielt im Vergleich zu individualisiertem, altersdurchmischtem und
selbstorganisiertem Lernen. Das Lernen ist ein sozialer Prozess – gerade die
Auseinandersetzung innerhalb einer Lerngruppe führt zu einem vertieften
Verständnis, weil vermehrt Fragen, Kritik und gemeinsames Arbeiten möglich ist.
Demgegenüber krankt der individualisierte Unterricht an einer problematischen
Isolierung – jeder Schüler hat sein eigenes computergesteuertes Programm.
Gleichzeitig garantiert der Einsatz von digitalen Geräten wie oben erwähnt noch
keine besseren Schülerleistungen. Es ist eine Illusion zu glauben, der Lehrer
könnte den Lernstand jedes Schülers exakt bestimmen und den Unterricht planen,
ohne dass die stärksten Schüler demotiviert oder die schwächsten abgehängt
werden. Eine doppelte Überforderung ist die Folge: Der Schüler ist überfordert
mit der relativen Freiheit des individualisierten Unterrichts, aber auch die
Lehrer sind überfordert, weil sie die Kontrolle über den Lernstand der
einzelnen Schüler verlieren.
Ein
letzter Kritikpunkt betrifft die angepriesene Kooperation zwischen privaten
Unternehmen und den Schulen. So sollen vermehrt ausserschulische Hilfskräfte
oder Experten ins Klassenzimmer geholt werden. Economiesuisse versteht sich
damit als Türöffner für private Unternehmen, die in die Schule drängen. Wollen
wir das? Dabei stellen sich weitere Fragen: Was können Private besser als die
öffentliche Schule? Wer entscheidet, ob eine Firma Zugang zur örtlichen Schule
erhält?
Zusammenfassend
lässt sich sagen, dass die Vorschläge seitens der Wirtschaft wenig mit einer
kritischen Analyse des Forschungsstandes zu tun haben. Zu oft werden Allgemeinplätze
wie „lebenslanges Lernen“, „kontinuierlicher Wandel“ oder „Zukunftschancen“
unreflektiert mit der Schulwirklichkeit vermischt. Zu wenig Beachtung wird
insbesondere der grundsätzlichen Differenz zwischen Bildung (Volksschule) und
Ausbildung (Berufsschule) beigemessen. Damit wird eine sinnvolle Partnerschaft
zwischen Schule und Wirtschaft unnötig strapaziert.
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