Denken sei ein Abkömmling des Tuns. Darin besteht Einigkeit. Umstritten
ist die Rolle der Lehrperson. Soll sie aktiv anleiten oder lediglich „coachen“?
Ein Plädoyer für schülerorientiertes Lenken.
Alle Bildung kommt aus dem Tun, Journal21.ch, 23.2. von Carl Bossard
„Warum war Wolfgang Amadeus Mozart ein Genie?“, fragt der amerikanische
Physik-Nobelpreisträger Carl Wiemann rhetorisch. Der Hochschullehrer antwortet
gleich selber: „Niemand werde als Genie geboren. […] Genial sei vor allem sein
Vater Leopold gewesen, ein mittelmässiger Geiger, aber ausgezeichneter
Musikpädagoge, der eines der ersten Bücher zur Musikerziehung für die Violine
schrieb.“ (1) Und dieser väterliche Lehrmeister liess seinen Sohn Wolferl schon
komponieren, als er ein kleiner Junge war – und schaute ihm dauernd über die
Schulter, um jeden kleinsten Fehler zu korrigieren.
Absolute Fehlertoleranz heute
Kleinste Fehler verbessern und damit das Ganze optimieren! So Leopold
Mozarts Methode. Welcher Unterschied zu Dogmatiken von heute, zum Beispiel zu
Jürgen Reichens Alphabetisierungspraxis „Schreiben nach Gehör“,
wissenschaftlich „Lesen durch Schreiben“ genannt. Die Kinder schreiben, wie sie
die Wörtlein vom Klang her hören – lautgetreu. Auf die Orthografie müssen sie
keine Rücksicht nehmen.
Die Freude am freien Fabulieren steht als oberstes didaktisches Prinzip.
Dabei sollen die Kinder nicht gestört werden. Niemand darf eingreifen.
Wortschatz und Grammatik werden nicht beachtet. Fehlerhafte Formen gehören
dazu. Sie würden sich später selber korrigieren und das Korrekte käme
automatisch, so Reichens Annahme. Auch das Lesen soll sich dann von alleine
ergeben. Der Pädagoge Reichen forderte darum absolute Fehlertoleranz. Jedes
Intervenieren und Korrigieren zerstöre die kindliche Kreativität.
Mythen im Bildungsdiskurs
Das Zauberwort ist eindeutig: Die Schüler arbeiten „aktiv“ und
„selbstreguliert“. Sie können sich die Schriftsprache selber erarbeiten,
ähnlich wie Kleinkinder das Laufen und Sprechen erlernen. Reichens Credo war
unzähligen Pädagogen und Hochschul-Didaktikern heilig. Empirische Belege für
eine Evidenz dieser Praxis lagen allerdings nicht vor; der Glaube genügte.
Wissenschaftlich überprüft wurde diese angeblich „geniale“ Methode des
Sprachenlernens erst nach Jahren. Sie müsste, so der emeritierte Zürcher
Hochschullehrer Jürgen Oelkers, schon lange verboten werden. Nirgends halten
sich Meinungen und Mythen so beharrlich wie im Bildungsdiskurs, auch wenn sie
längst als überholt gelten.
Genial ist nicht immer genial
Genial war, so der Nobel-Preisträger Wiemann, Leopold Mozart; als genial
galt auch Jürgen Reichen. Beide förderten das „aktive Lernen“. Doch worin liegt
der Unterschied? Für Wiemann bedeutet „aktives Lernen“: Lernende machen lassen,
korrigieren, weitermachen lassen, wieder korrigieren, eine Art autodidaktisches
Erfahren, aber unter Anleitung eines Lehrers – quasi nach dem Vorbild von Papa
Mozart.
Unter Anleitung eines Lehrers, sagt Wiemann, nicht durch Rückzug der
Lehrerin aus dem Lernprozess (2) – darin zeigt sich die Nuance! „Ohne intensive
Lehrersteuerung ist hohe Lernwirksamkeit nicht zu erzielen; einmal ganz
abgesehen von den Schwierigkeiten, die schwächere Schüler mit der
Selbstständigkeit haben“, schreibt die Lernforscherin der ETH Zürich, Professor
Elsbeth Stern. (3) Für viele Kinder sind offene und freie Lernformen eher
Risiko als Chance.
Lerncoach? Nein: Lehrer! – Der Praxistest
Wem das zu akademisch klingt, für den kommt hier der Praxistest: An der
berüchtigten Johannesskola im südschwedischen Malmö gab es vor einigen Jahren
eine verschriene Problemklasse. Im neunten Schuljahr erhielt diese Klasse acht
neue Lehrer – dies im Rahmen eines Dokumentarfilm-Experiments. Das Format
stiess zwar auf heftigen Widerstand; die Lehrergewerkschaften liefen Sturm.
Aber es lockte jede Woche magnetisch die Zuschauer vor die Bildschirme.
Für das weitere Fortkommen ist in Schweden die neunte Klasse sehr
wichtig. Hier entscheidet sich, ob die Jugendlichen an eine weiterführende
Schule übertreten können. Die acht neuen Fachlehrer wurden aus dem ganzen Land
rekrutiert; es waren Pädagogen, die Preise gewonnen oder sich sonst als
versiert erwiesen hatten. Ganz Schweden konnte Woche für Woche live beobachten,
wie aus demotivierten Versagern Höchstleistungsschüler wurden: Fast alle
erreichten eine weiterführende Schule; bei den nationalen Vergleichstests
belegte die Klasse in Mathematik den ersten Rang.
Der Erfolg des aktiv angeleiteten Lernens
Man kann das Geheimnis dieses Erfolgs mit einem gesteuerten Unterricht
und aktiv angeleitetem Lernen erklären. Die Lehrer deuteten den fulminanten
Fortschritt ganz einfach: Entscheidend für ihr Wirken seien Respekt und
Anspruch, Autorität und Zuneigung gewesen, Liebe zu ihrem Fach und Zuneigung zu
den Schülern. Es waren Lehrpersonen, die Ansprüche setzten und steuern wollten.
Vor Jahren schon schrieb der Gründungsrektor des Max-Planck-Instituts
für psychologische Forschung in München, Franz E. Weinert: „Nicht die äusseren
Schulstrukturen sind letztlich entscheidend, sondern die Lehrperson und vor
allem jene Lehrerinnen und Lehrer, die ein hohes Mass an themen- und
sachbezogener Schüleraktivität mit einem hohen Mass an schülerorientierter
Lehrersteuerung verbinden können.“ In Malmö war es so.
Direkte Instruktion, aber kein Revival des Frontalunterrichts
Auch der renommierte Bildungsforscher John Hattie kommt zu einem
gleichen Ergebnis. Die „direkte Instruktion“ hat bei ihm einen hohen Wirkwert.
(4) Leider wird der englische Ausdruck „Instructional Design“ mit dem verpönten
Wort „Frontalunterricht“ übersetzt und so mit der alten Paukerschule wie in
Thomas Manns „Buddenbrooks“ oder in Friedrich Torbergs Roman „Der Schüler
Gerber“ konnotiert. Und schon ist die autoritäre Schule kreiert.
Doch Hattie meint nicht das alte Feindbild. Bei ihm führt der Lehrer wie
ein Regisseur auf didaktisch geschickte Weise durch den Unterricht. Die
Lehrerin legt dabei hohen Wert auf die Eigenaktivität der Schülerinnen und
Schüler. Grundlage ist eine weitere wichtige Wirkgrösse: die Klarheit der
Lehrperson. Sie vermittelt Orientierung und schafft so einen Lerneffekt.
Selbst Amadeus brauchte Instruktion
Wenn man Hatties Studien, dem amerikanischen Nobelpreisträger Wiemann
und dem schwedischen Experiment für einen kurzen Moment Vertrauen schenkt, dann
kommt man aus dem Wundern eigentlich nicht mehr heraus – dem Wundern, dass dem
selbstregulierten und eigenverantwortlichen Lernen ohne Lehrer heute immer noch
so viel Gewicht beigemessen wird. Alle drei kennen vor allem eine Botschaft:
Gutes und aktives Lernen braucht Inspiration und Instruktion, Lenkung und
Feedback. Das galt selbst für ein Ausnahmetalent wie Amadeus.
(1) Hilmar Schmundt: Wie (fast) jeder zum Genie werden kann. In: Spiegel
Online, 12.2.2018.
(2) Vgl. Roland Reichenbach: Ethik der Bildung und Erziehung. Essays zur
Pädagogischen Ethik. Verlag Ferdinand Schönigh, Paderborn 2018, S. 204f.
(3) Michael Felten, Elsbeth Stern: Lernwirksam unterrichten. Im
Schulalltag von der Lernforschung profitieren. Cornelsen, Berlin 2014, S.
6.
(4) John Hattie, Klaus Zierer. Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“
für die Unterrichtspraxis. Schneider Verlag, Baltmannsweiler 2017, 2. Aufl., S.
91f.
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