Seit der Harmonisierung der
Volksschule gehen Kinder früher in den Kindergarten. Doch jetzt wird publik:
Die Zahl der später eingeschulten Kinder hat markant zugenommen. Woran liegt
das?
Lieber noch ein Jahr länger daheim: Immer mehr Kinder werden später eingeschult, Solothurner Zeitung, 14.2. von Sven Altermatt
Die Kinder am Strassenrand
weinten bittere Tränen. Kein Wunder, wurden sie doch, so die
unmissverständliche Botschaft, vom bösen Staat unsanft ihren Eltern entrissen.
Und das nur, weil die Kantone ihre Volksschulen vereinheitlichen wollten. Vor
bald acht Jahren sorgte ein Plakat der SVP im Kanton Solothurn für Aufsehen.
Unschuldige Kinder, die um ihr Leben heulten. Das sass. Im Kampf gegen die
Schulharmonisierung, gegen das sogenannte Harmos-Konkordat, warnte die
Volkspartei vor einem «Schulzwang für Vierjährige».
Das Plakat wurde zum
Sinnbild eines emotionalen Abstimmungskampfes. Eigentlich ging es um die
wegweisende Frage, ob sich Solothurn den Kantonen mit einheitlichem Schulsystem
anschliessen sollte. Doch gestritten wurde zeitweise vor allem über das
Eintrittsalter in den Kindergarten. Genau darum dreht sich nun erneut eine
Debatte, die Politiker, Lehrer und Eltern gleichermassen beschäftigt.
Rückblende: Als 2010 über
58 Prozent der Solothurner Stimmbürger für Harmos stimmten, befürworteten sie
damit ebenso, dass der zweijährige Kindergarten zu einem Teil der
obligatorischen Volksschule wird. 2012 kamen die ersten Kinder in den zuvor
fakultativen Kindergarten; sie wurden «eingeschult», wie das fortan eben hiess.
Dass die Wogen nach der
Abstimmung nicht mehr allzu hoch gingen, dürfte vor allem daran liegen: Eltern
können ihr Kind ein Jahr später in den Kindergarten schicken – ohne dafür
bestimmte Gründe oder ein Gutachten vorlegen zu müssen.
Fachleute sprechen von
einer ausnahmsweise Rückstellung des Kindergarteneintritts. «Wir gehen davon
aus, dass nicht sehr viele Eltern von diesem Recht Gebrauch machen werden»,
sagte Klaus Fischer, der damalige Bildungsdirektor, im Frühjahr 2012 zu dieser
Zeitung.
Der CVP-Magistrat sollte
sich täuschen: Seit das neue System gilt, hat der Anteil der später
eingeschulten Kinder markant zugenommen, wie Zahlen des Solothurner
Volksschulamts zeigen. Die oberste Schulbehörde des Kantons hat diese gegenüber
dieser Zeitung erstmals offengelegt. Wurden im Schuljahr 2012/2013 noch rund 2
Prozent der Kinder später eingeschult, sind es im laufenden Schuljahr bereits
10,6 Prozent. Anders ausgedrückt: Jedes zehnte Kind im Kanton Solothurn wird
ein Jahr später in den Kindergarten geschickt als eigentlich vorgesehen.
Schulpflichtige sind jünger
Wie lässt sich das
erklären? Die genauen Gründe für eine spätere Einschulung würden statistisch
nicht erfasst, heisst es beim Volksschulamt dazu. «Wir können nicht mit
Sicherheit sagen, ob die Eltern oder andere Instanzen entschieden haben.» Zu
Letzteren zählt etwa der schulpsychologische Dienst, der die Schulfähigkeit
eines Kindes beurteilt.
Unabhängig davon bestätigt
Amtschef Andreas Walter jedoch: «Eine spätere Einschulung betrifft vorwiegend
Kinder, die gegenüber dem alten System früher eingeschult werden.» Damit wird
eine weitere Folge der Schulharmonisierung spürbar, die neue Stichtagsregelung:
Massgebend war bis zum Schuljahr 2012/2013 der 30. April. Alle Kinder, die bis
dahin ihren vierten Geburtstag gefeiert hatten, durften Mitte August ihre
Kindergartentasche packen. Dann änderte sich das Regime schrittweise, bis der
Stichtag schliesslich 2014/2015 auf den bis heute geltenden 31. Juli fiel.
Die Zeitspanne bis zur
Einschulung in der dritten Augustwoche ist somit kürzer geworden. Das hat
Konsequenzen: Die schulpflichtigen Kinder sind noch jünger als zuvor. Dabei,
und das wissen Bildungsexperten so gut wie Eltern, machen ein paar Monate bei
Kindergärtlern ohnehin schon viel aus. Die jüngsten sind vier Jahre und ein
paar Wochen alt, die ältesten fünf Jahre und ein paar Wochen.
Zwölf Monate Vorsprung, die
ein Leben prägen können. Der vermeintlich kleine Altersunterschied fällt,
relativ betrachtet, stark ins Gewicht. «Das macht sich in unserem Alltag klar
bemerkbar und verlangt eine Anpassung des Unterrichtes», sagt Doris Engeler.
Die Oltnerin sitzt in der Geschäftsleitung des Solothurner Lehrerverbandes
(LSO) und präsidiert die kantonale Gruppe der Kindergarten-Lehrpersonen.
Fragwürdige Rückstellungen
Die Heterogenität ist
grösser geworden, beobachtet Engeler. Sie betont allerdings: Nicht zwingend
seien es die jüngsten Kinder, für die der Eintritt in den Kindergarten die
grösste Herausforderung darstelle. Unter dem Titel «Rückstellung beim
Kindergarteneintritt» hat der LSO eigens einen runden Tisch durchgeführt; das
Thema bewegt die Solothurner Lehrerschaft. Nicht wenige klagen über eine
grössere Belastung im Unterricht.
Müssten demnach sogar noch
mehr Kinder später eingeschult werden? Oder widerspiegeln die vielen
Rückstellungen letztlich nur eine Art Gegenbewegung übervorsichtiger Eltern?
Sind sie eine Reaktion auf die zahlreichen Reformen im Bildungssystem? Einer,
der sich politisch mit solchen Fragen auseinandersetzt, ist Michael Ochsenbein.
Der Lehrer und Präsident der CVP-Fraktion im Kantonsrat kritisiert in einem
parlamentarischen Vorstoss, bisweilen würden Kinder aus «nicht
nachvollziehbaren Gründen» später eingeschult.
Im Unterricht sei das
zuweilen nachteilig, warnt Ochsenbein. «So können zum Beispiel überalterte
Kinder häufig im kleinen Kindergarten schon lesen und schreiben, sie langweilen
sich und überspringen in der Folge eine Klasse.» Auch Doris Engeler kennt diese
Seite der Medaille. «Es kann sich negativ auswirken, wenn ein Kind schulreif ist,
aufgrund von Bedenken der Eltern aber zu spät eingeschult wird», sagt die
oberste Kindergärtnerin des Kantons.
Gemeinden vor Problemen
Probleme bereitet die hohe
Zahl an Rückstellungen nicht zuletzt den Schulträgern, den Gemeinden also. Denn
um die Pensen der Kindergärtnerinnen festzulegen und die Stundenpläne zu
schreiben, müssen sie frühzeitig wissen, wie viele Kinder eingeschult werden.
Doch wegen möglicher Rückstellungen herrscht lange Unsicherheit, was die Grösse
einer Kindergarten-Klasse angeht. Landauf und landab sind entsprechende Klagen
zu hören.
Als Gemeindepräsident von
Luterbach steht Michael Ochsenbein selbst einem Schulträger vor. Heute stünden
Eltern vor einem «Alles oder nichts»-Entscheid bei der Einschulung, bemängelt
er. Vor einem Entscheid wohlgemerkt, den sie teilweise kurz nach dem dritten
Geburtstag ihres Schützlings fällen müssten. Ochsenbein weiss: «Kinder erleben
in diesem Alter eine enorme Entwicklung, sodass wenige Monate später die
Einschätzungen der Eltern ganz anders aussehen können.»
Geht es nach ihm, ist der
«Alles oder nichts»-Entscheid bald Geschichte. In einem Auftrag fordert der
CVP-Kantonsrat einen weichen Einstieg in den Kindergarten. Sollte sich nach
einer Probephase herausstellen, dass ein Kind dem Chindsgi-Alltag noch nicht
gewachsen ist, könnten die Eltern es wieder dispensieren. Ebenso schlägt
Ochsenbein einen Eintritt mit angepasstem Stundenplan vor. Demzufolge könnten
die Kinder ihr Pensum langsam steigern, zu Beginn müssten sie noch nicht das
ganze Programm mitmachen. Bevor Ochsenbeins Auftrag in den Kantonsrat kommt,
muss der Regierungsrat dazu Position beziehen.
Eltern besser abholen
Die Lehrerschaft arbeitet
ebenfalls an einer Stellungnahme zu dem Vorstoss. Nach Sicht von Doris Engeler
sollte ein weicher Einstieg in den Kindergarten nicht institutionalisiert
werden. «Schon heute ist ein sanfter Start unkompliziert möglich», sagt die
LSO-Vertreterin. So sei es in der Praxis üblich, den Unterricht an die
Bedürfnisse eines Kindes anzupassen. Die Unterrichtszeiten könnten
beispielsweise reduziert und dann langsam wieder ausgedehnt werden.
Darüber hinaus verweist
Engeler auf das Volksschulgesetz. Gemäss diesem entscheiden zwar die Eltern, ob
sie ihr Kind ausnahmsweise später in den Kindergarten schicken wollen. Doch dafür
müssen sie zumindest Rücksprache mit der Schulleitung nehmen.
Genau hier will die
Kindergärtnerin ansetzen. «Man muss in solchen Eltern-Gesprächen klar
aufzeigen, welche Chancen und Möglichkeiten der Kindergarten bietet», erklärt
sie. Das werde heute nicht überall gleich konsequent gemacht. Ergänzend kann es
laut Engeler hilfreich sein, mit seinem Sprössling dem Kindergarten bereits vor
der Anmeldung einen Schnupperbesuch abzustatten. «Im Gespräch können
Unsicherheiten besprochen und Fragen geklärt werden.» Das sei nach Rücksprache
überall möglich, ja sogar erwünscht.
Der Eintritt in den
Kindergarten ist ein grosser Schritt – aus der Geborgenheit der Familie in eine
neue, aufregende Welt. Letztlich sei es nun mal so, sagt Doris Engeler, dass
sowohl Kinder als auch Eltern verständlicherweise eine gewisse Angst vor dem
Unbekannten hätten. «Schliesslich beginnt für alle ein neuer Lebensabschnitt.»
Umso mehr müsse man signalisieren: Wir schaffen das.
Der Hauptgrund für die markante Zunahme später eingeschulter Kinder ist in der Verstaatlichung des Kindergartens zu suchen und der ständigen Verschiebung des obligatorischen Eintrittsalters auf immer jüngere Kinder. Vor der Verstaatlichung wurden die Kinder dann aufgenommen, wenn sie die nötige Reife in ihrer Entwicklung hatten. Dass man heute nur noch auf das Alter schaut, hat dazu geführt, dass Kinder mit Windeln, die weinen, kaum Deutsch sprechen, aufs WC begleitet und intensiv betreut werden müssen in den Kindergarten geschickt werden. Die Hilferufe deswegen überlasteter Kindergärtnerinnen und die Forderung nach Verstärkung sind die Folge davon, dass die Entwicklung der Kinder nicht mehr berücksichtigt wird. Werden Kinder zu früh in den Kindergarten geschickt, landen sie oft in der Logopädie oder Psychomotoriktherapie. Mit der Verschulung bzw. Abschaffung des Kindergartens mit dem Lehrplan 21 dürfte sich die Situation noch massiv verschlimmern, weil dann im 1. Zyklus vier Jahrgänge „altersgemischt“ auf Leistung getrimmt werden sollen.
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