In
welche Richtung soll sich das Schulsystem entwickeln? Im Rahmen unseres
50-Jahr-Jubiläums sind wir dieser Frage in einem Gespräch mit ETH-Professorin
Elsbeth Stern nachgegangen. Die Psychologin zeigt mit pointierten Aussagen auf,
wo sie Verbesserungspotenzial ortet.
"Lehrpersonen sollten sehr intelligent sein", Klett Rundgang 04/2017 von Yvonne Bugmann
www.klett.ch/files/rundgang/Rundgang_04-2017.pdf
www.klett.ch/files/rundgang/Rundgang_04-2017.pdf
Frau
Stern, wie sieht die ideale Schule aus?
Elsbeth
Stern: Die ideale Schule fördert die Kinder entsprechend ihren Ausgangsvoraussetzungen.
Die kognitiven Unterschiede werden zur Kenntnis genommen, ebenso die
unterschiedlichen Stärken. Ziel der Schule ist, dass die Kinder nach Ende der
obligatorischen Schulzeit an der Gesellschaft teilhaben können. Dafür müssen
sie Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschen. Gleichzeitig muss die Schule früh
erkennen, wenn ein Kind spezielle Förderung braucht, um das zu erreichen.
Welche
Rolle spielt dabei die Lehrperson?
Sie ist
der entscheidende Faktor. Lehrerinnen und Lehrer sollten sehr intelligent sein.
Sie müssen hinter den Inhalten stehen, die an der Schule unterrichtet werden,
und diese auch beherrschen. Gleichzeitig nehmen sie zur Kenntnis, dass sich
Menschen unterscheiden. Viele Lehrpersonen erfüllen diese Voraussetzungen
schon, aber eben nicht alle. Das müsste man über die Ausbildung steuern und die
Lehrpersonen aussortieren, die sich aus den falschen Motiven für den Lehrberuf
entscheiden, etwa weil sich der Beruf mit Familie vereinbaren lässt.
Müssen
denn Lehrpersonen nicht auch sozial kompetent sein?
Wenn
jemand die sozialen Kompetenzen betont, ist das ein Anzeichen für einen
schlechten Lehrer. Wichtiger sind die kognitiven Kompetenzen, die sozialen
laufen nebenher. An einem Vortrag hat mich mal ein Amerikaner gefragt: «Wie
kann es sein, dass ein intelligenter Mensch Lehrer werden will?» In Amerika
wird die Schule nicht als Ort für die Förderung der Kinder gesehen, von der
Schule wird nichts erwartet. In der Schweiz ist das zum Glück anders, und
wirklich inkompetente Lehrpersonen bestehen die Prüfung schon gar nicht.
Ist
unsere Schule grundsätzlich gut?
Gewisse
Tendenzen in der Primarschule sehe ich mit Bedenken, etwa die Lernlandschaften,
Wochenpläne oder Referate, welche oft die Mütter vorbereiten. In der idealen
Schule findet der Unterricht in der Schule statt und die Hilfe der Eltern ist
unnötig. Ich befürworte Ganztagsschulen, in denen die Kinder die Möglichkeit
haben, selbst zu lernen, wo sie aber auch je nach Bedarf gefördert werden.
Dafür braucht es mehr Personal. Das müssen nicht zwingend Lehrpersonen sein. Es
können auch Rentner oder Studentinnen zum Beispiel mit einem Kind Lesen üben.
Die Lehrperson behält aber die Übersicht und weiss, welches Kind gerade was
benötigt.
Sie
plädieren für einen flexiblen Schuleintritt. Wie genau funktioniert das?
Alle
Kinder sollten mit vier oder fünf Jahren in eine Institution gehen, wo sie
zuerst viel spielen, aber gleichzeitig Angebote erhalten, etwa zu lesen oder zu
singen. Das Kind kann das machen, worauf es gerade Lust hat, und lernt fast wie
nebenbei Lesen und Schreiben. In Holland funktioniert das bestens. Im Alter von
sechs Jahren werden auch die schwächeren Kinder zum Lesenlernen ermutigt. So
wie bei uns heute unterrichtet wird, langweilt sich ein Kind, das schon vor der
1. Klasse Lesen und Schreiben kann. Gut wäre, wenn Primarlehrpersonen in den
Kindergarten gehen und ihre zukünftigen Schülerinnen und Schüler beobachten und
kennen lernen. Dabei finden sie heraus, was die Kinder bereits können und was
die Kindergartenlehrerin noch mit ihnen üben sollte. Und zwar auf eine
spielerische Art. In der idealen Vorschule wird die meiste Zeit gespielt, mal
frei, mal angeleitet.
Der
Zugang zum Gymnasium hängt stark von der sozialen Schicht ab. Zudem sagen Sie,
dass ein Drittel der Schülerinnen und Schüler an der Kanti dort eigentlich
nicht hingehört, weil sie nicht intelligent genug sind. Wie lässt sich das
ändern?
Ich
würde diese Zahl heute sogar noch erhöhen. Bei einer Maturitätsquote von 20
Prozent, wie wir sie hier in der Schweiz haben, müssten eigentlich die
intelligentesten 20 Prozent aufs Gymnasium gehen. Wer aber von zuhause nicht
gefördert wird, schafft es nicht dorthin, obwohl er intelligent genug wäre.
Deshalb ist es wichtig, dass Kinder viel Zeit in der Schule verbringen und dort
gefördert werden. So sieht man, wer wirklich intelligent ist. Es braucht zudem
anspruchsvolle Leistungstests, welche die Intelligenz abbilden, damit nur die
Jugendlichen ans Gymnasium kommen, die tatsächlich dort hingehören. Wenn ungenügend
intelligente Personen die Matura machen und dann einen anspruchsvollen Beruf
wählen, sind sie dort vielleicht überfordert.
Welchen
Einfluss hat die Digitalisierung auf die Schule?
Es
stellt sich die Frage, wie man sie einsetzt. Eine schlechte Lehrerin wird durch
die Digitalisierung nicht besser. Der Computer ist ein Werkzeug, das man nutzen
sollte. Gewisse Sachen gehören allerdings zu unserem Kulturgut, etwa die
Handschrift. Deshalb ist es wichtig, diese zu erhalten. Gleichzeitig müssen die
Kinder aber auch tippen lernen. Die Digitalisierung kann die Kommunikation
zwischen Schülern und Lehrern verbessern. Wir haben eine Plattform entwickelt,
wo die Lernenden schreiben können, was sie vom Unterricht verstanden haben.
Dieses Feedback ist wertvoll für Lehrpersonen. Obwohl man heute vieles googeln
kann, braucht man doch zuerst mal ein grundlegendes Verständnis von der
Materie. Man muss zum Beispiel eine Sprache mündlich wie schriftlich gleich gut
beherrschen. Wörter lassen sich zwar nachschlagen, aber wenn mir der Wortschatz
fehlt, kann ich mich nicht spontan mit jemandem unterhalten. Es ist also
zentral, dass trotz Computer wichtige Fähigkeiten nicht verloren gehen.
Wird
sich der Fächerkatalog in Zukunft ändern?
Ich
plädiere dafür, nicht zu viel an Äusserlichkeiten zu ändern, sondern darauf zu
achten, dass die Fächer sinnvoll gefüllt werden. Einer guten Lehrperson ist der
Lehrplan ziemlich egal. Dieser gibt einfach Anregungen und den Rahmen vor und
sorgt dafür, dass das Gesetz eingehalten und im Matheunterricht beispielsweise
nicht getöpfert wird. Ein Lehrer wird nicht besser durch den Lehrplan; wer sich
sklavisch daran hält, ist zum Scheitern verurteilt.
Was
halten Sie vom dualen Bildungssystem der Schweiz?
Das ist
eine gute Sache. Wir haben nicht zu wenige Akademiker, wie die OECD immer
wieder sagt. Für sehr viele Berufe gibt es einen sehr guten Ausbildungsweg. Das
zeigt sich auch an der tiefen Jugendarbeitslosigkeit. Menschen haben
unterschiedliche Stärken und unterschiedliche geistige Voraussetzungen. Mit
einer guten Berufsbildung können Jugendliche sehr kompetent werden.
Wo
orten Sie die grössten Baustellen im heutigen Schulsystem?
Ich
sehe drei Baustellen: erstens den schon erwähnten Zugang zum Gymnasium. Hier
müssen Intelligenz und geistige Fähigkeiten zählen und nicht die soziale
Schicht. Zweitens ist der Mathematik- und Physikunterricht am Gymnasium nicht
gut genug. Viele Lehrpersonen vertreten überspitzt formuliert die Vorstellung,
dass intelligente Schülerinnen und Schüler den Stoff schon verstehen, egal wie
schlecht sie selbst unterrichten.
Und
drittens?
Es
besteht eine grosse Diskrepanz zwischen der Ausbildung von Kantilehrern und der
Ausbildung von Primar- und Seklehrern. Auch Primarlehrerinnen und -lehrer sowie
Kindergarten-Lehrpersonen sollten ein Fach Entwicklungspsychologie haben.
Hintergrundwissen ist wichtig, um zu verstehen, warum Kinder unterschiedlich
lernen. Meiner Meinung nach sollten alle angehenden Lehrpersonen die
Universität statt die pädagogische Hochschule besuchen. Eine Professur an einer
PH hat nun mal nicht das gleiche Prestige wie eine Professur an der Universität
und bietet noch nicht immer die gleiche Qualitätskontrolle. Es bräuchte mehr
Lehrerbildungsinstitute an den Universitäten, so wie sie für das gymnasiale
Lehramt existieren. Auch an einer Uni ist eine praxisnahe Ausbildung möglich.
Gemeinsam besuchte Vorlesungen würden zudem den Austausch zwischen den Primar-,
Sek- und Gymnasiallehrpersonen fördern.
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