26. November 2017

Lehrpersonen an der Universität ausbilden

In welche Richtung soll sich das Schulsystem entwickeln? Im Rahmen unseres 50-Jahr-Jubiläums sind wir dieser Frage in einem Gespräch mit ETH-Professorin Elsbeth Stern nachgegangen. Die Psychologin zeigt mit pointierten Aussagen auf, wo sie Verbesserungspotenzial ortet.
"Lehrpersonen sollten sehr intelligent sein", Klett Rundgang 04/2017 von Yvonne Bugmann
www.klett.ch/files/rundgang/Rundgang_04-2017.pdf

Frau Stern, wie sieht die ideale Schule aus?
Elsbeth Stern: Die ideale Schule fördert die Kinder entsprechend ihren Ausgangsvoraussetzungen. Die kognitiven Unterschiede werden zur Kenntnis genommen, ebenso die unterschiedlichen Stärken. Ziel der Schule ist, dass die Kinder nach Ende der obligatorischen Schulzeit an der Gesellschaft teilhaben können. Dafür müssen sie Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschen. Gleichzeitig muss die Schule früh erkennen, wenn ein Kind spezielle Förderung braucht, um das zu erreichen.

Welche Rolle spielt dabei die Lehrperson?
Sie ist der entscheidende Faktor. Lehrerinnen und Lehrer sollten sehr intelligent sein. Sie müssen hinter den Inhalten stehen, die an der Schule unterrichtet werden, und diese auch beherrschen. Gleichzeitig nehmen sie zur Kenntnis, dass sich Menschen unterscheiden. Viele Lehrpersonen erfüllen diese Voraussetzungen schon, aber eben nicht alle. Das müsste man über die Ausbildung steuern und die Lehrpersonen aussortieren, die sich aus den falschen Motiven für den Lehrberuf entscheiden, etwa weil sich der Beruf mit Familie vereinbaren lässt.

Müssen denn Lehrpersonen nicht auch sozial kompetent sein?
Wenn jemand die sozialen Kompetenzen betont, ist das ein Anzeichen für einen schlechten Lehrer. Wichtiger sind die kognitiven Kompetenzen, die sozialen laufen nebenher. An einem Vortrag hat mich mal ein Amerikaner gefragt: «Wie kann es sein, dass ein intelligenter Mensch Lehrer werden will?» In Amerika wird die Schule nicht als Ort für die Förderung der Kinder gesehen, von der Schule wird nichts erwartet. In der Schweiz ist das zum Glück anders, und wirklich inkompetente Lehrpersonen bestehen die Prüfung schon gar nicht.

Ist unsere Schule grundsätzlich gut?
Gewisse Tendenzen in der Primarschule sehe ich mit Bedenken, etwa die Lernlandschaften, Wochenpläne oder Referate, welche oft die Mütter vorbereiten. In der idealen Schule findet der Unterricht in der Schule statt und die Hilfe der Eltern ist unnötig. Ich befürworte Ganztagsschulen, in denen die Kinder die Möglichkeit haben, selbst zu lernen, wo sie aber auch je nach Bedarf gefördert werden. Dafür braucht es mehr Personal. Das müssen nicht zwingend Lehrpersonen sein. Es können auch Rentner oder Studentinnen zum Beispiel mit einem Kind Lesen üben. Die Lehrperson behält aber die Übersicht und weiss, welches Kind gerade was benötigt.

Sie plädieren für einen flexiblen Schuleintritt. Wie genau funktioniert das?
Alle Kinder sollten mit vier oder fünf Jahren in eine Institution gehen, wo sie zuerst viel spielen, aber gleichzeitig Angebote erhalten, etwa zu lesen oder zu singen. Das Kind kann das machen, worauf es gerade Lust hat, und lernt fast wie nebenbei Lesen und Schreiben. In Holland funktioniert das bestens. Im Alter von sechs Jahren werden auch die schwächeren Kinder zum Lesenlernen ermutigt. So wie bei uns heute unterrichtet wird, langweilt sich ein Kind, das schon vor der 1. Klasse Lesen und Schreiben kann. Gut wäre, wenn Primarlehrpersonen in den Kindergarten gehen und ihre zukünftigen Schülerinnen und Schüler beobachten und kennen lernen. Dabei finden sie heraus, was die Kinder bereits können und was die Kindergartenlehrerin noch mit ihnen üben sollte. Und zwar auf eine spielerische Art. In der idealen Vorschule wird die meiste Zeit gespielt, mal frei, mal angeleitet.

Der Zugang zum Gymnasium hängt stark von der sozialen Schicht ab. Zudem sagen Sie, dass ein Drittel der Schülerinnen und Schüler an der Kanti dort eigentlich nicht hingehört, weil sie nicht intelligent genug sind. Wie lässt sich das ändern?
Ich würde diese Zahl heute sogar noch erhöhen. Bei einer Maturitätsquote von 20 Prozent, wie wir sie hier in der Schweiz haben, müssten eigentlich die intelligentesten 20 Prozent aufs Gymnasium gehen. Wer aber von zuhause nicht gefördert wird, schafft es nicht dorthin, obwohl er intelligent genug wäre. Deshalb ist es wichtig, dass Kinder viel Zeit in der Schule verbringen und dort gefördert werden. So sieht man, wer wirklich intelligent ist. Es braucht zudem anspruchsvolle Leistungstests, welche die Intelligenz abbilden, damit nur die Jugendlichen ans Gymnasium kommen, die tatsächlich dort hingehören. Wenn ungenügend intelligente Personen die Matura machen und dann einen anspruchsvollen Beruf wählen, sind sie dort vielleicht überfordert.

Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Schule?
Es stellt sich die Frage, wie man sie einsetzt. Eine schlechte Lehrerin wird durch die Digitalisierung nicht besser. Der Computer ist ein Werkzeug, das man nutzen sollte. Gewisse Sachen gehören allerdings zu unserem Kulturgut, etwa die Handschrift. Deshalb ist es wichtig, diese zu erhalten. Gleichzeitig müssen die Kinder aber auch tippen lernen. Die Digitalisierung kann die Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern verbessern. Wir haben eine Plattform entwickelt, wo die Lernenden schreiben können, was sie vom Unterricht verstanden haben. Dieses Feedback ist wertvoll für Lehrpersonen. Obwohl man heute vieles googeln kann, braucht man doch zuerst mal ein grundlegendes Verständnis von der Materie. Man muss zum Beispiel eine Sprache mündlich wie schriftlich gleich gut beherrschen. Wörter lassen sich zwar nachschlagen, aber wenn mir der Wortschatz fehlt, kann ich mich nicht spontan mit jemandem unterhalten. Es ist also zentral, dass trotz Computer wichtige Fähigkeiten nicht verloren gehen.

Wird sich der Fächerkatalog in Zukunft ändern?
Ich plädiere dafür, nicht zu viel an Äusserlichkeiten zu ändern, sondern darauf zu achten, dass die Fächer sinnvoll gefüllt werden. Einer guten Lehrperson ist der Lehrplan ziemlich egal. Dieser gibt einfach Anregungen und den Rahmen vor und sorgt dafür, dass das Gesetz eingehalten und im Matheunterricht beispielsweise nicht getöpfert wird. Ein Lehrer wird nicht besser durch den Lehrplan; wer sich sklavisch daran hält, ist zum Scheitern verurteilt.

Was halten Sie vom dualen Bildungssystem der Schweiz?
Das ist eine gute Sache. Wir haben nicht zu wenige Akademiker, wie die OECD immer wieder sagt. Für sehr viele Berufe gibt es einen sehr guten Ausbildungsweg. Das zeigt sich auch an der tiefen Jugendarbeitslosigkeit. Menschen haben unterschiedliche Stärken und unterschiedliche geistige Voraussetzungen. Mit einer guten Berufsbildung können Jugendliche sehr kompetent werden.

Wo orten Sie die grössten Baustellen im heutigen Schulsystem?
Ich sehe drei Baustellen: erstens den schon erwähnten Zugang zum Gymnasium. Hier müssen Intelligenz und geistige Fähigkeiten zählen und nicht die soziale Schicht. Zweitens ist der Mathematik- und Physikunterricht am Gymnasium nicht gut genug. Viele Lehrpersonen vertreten überspitzt formuliert die Vorstellung, dass intelligente Schülerinnen und Schüler den Stoff schon verstehen, egal wie schlecht sie selbst unterrichten.

Und drittens?
Es besteht eine grosse Diskrepanz zwischen der Ausbildung von Kantilehrern und der Ausbildung von Primar- und Seklehrern. Auch Primarlehrerinnen und -lehrer sowie Kindergarten-Lehrpersonen sollten ein Fach Entwicklungspsychologie haben. Hintergrundwissen ist wichtig, um zu verstehen, warum Kinder unterschiedlich lernen. Meiner Meinung nach sollten alle angehenden Lehrpersonen die Universität statt die pädagogische Hochschule besuchen. Eine Professur an einer PH hat nun mal nicht das gleiche Prestige wie eine Professur an der Universität und bietet noch nicht immer die gleiche Qualitätskontrolle. Es bräuchte mehr Lehrerbildungsinstitute an den Universitäten, so wie sie für das gymnasiale Lehramt existieren. Auch an einer Uni ist eine praxisnahe Ausbildung möglich. Gemeinsam besuchte Vorlesungen würden zudem den Austausch zwischen den Primar-, Sek- und Gymnasiallehrpersonen fördern.


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