Die
spezielle Förderung soll in Solothurn definitiv eingeführt werden — ganz ohne
Anpassungen geht das nicht. Wo liegen die Knackpunkte? Wie steht die Politik
dazu? Und wer würde am liebsten zurückbuchstabieren?
"Schule für alle": Wird die spezielle Förderung fester Bestandteil der Volksschule oder bleibt das Projekt eine Vision? Solothurner Zeitung, 13.10. von Sven Altermatt
Das bedeutet zuerst einmal nichts anderes, als dass betroffene Kinder
üblicherweise in den normalen Schulklassen unterrichtet und von Heilpädagogen
speziell betreut werden. Am Ende jedoch geht es um eine gesellschaftspolitische
Vision: um die «Schule für alle».
Lediglich
20 von 1450 Schulklassen im Kanton werden laut offiziellen Angaben noch nicht
nach diesem System geführt. Was als Schulversuch begann, soll nächstes Jahr zum
Normalfall werden. Mit Anpassungen freilich, die teilweise tiefer greifen als
ursprünglich erwartet.
Zustimmendes Echo, aber es gibt noch Bedenken
Der
Regierungsrat hat die Rahmenbedingungen der speziellen Förderung für die Dauer
des Schulversuches festgelegt. 2018 wird der Beschluss auslaufen. Die
Eckpfeiler für die spezielle Förderung im Regelbetrieb sollen darum im
Volksschulgesetz präzisiert werden.
Im
Sommer hat der Solothurner Bildungsdirektor Remo Ankli (FDP) einen
entsprechenden Entwurf vorgelegt, gemeinsam mit Vertretern der Lehrerschaft,
Schulleitungen und Einwohnergemeinden. Grosso modo seien die Erfahrungen gut,
sagte Ankli, «die spezielle Förderung hat sich eingespielt und die Abläufe
haben sich bewährt».
Diese Einschätzung bestätigt sich nun in der
Vernehmlassung weitgehend. Der definitiven Einführung der integrativen Schule
stehen die Kantonalparteien mehrheitlich positiv gegenüber. Allerdings sorgen
einige Vorschläge oder Entwicklungen für Kritik, vereinzelt werden
grundsätzliche Einwände vorgebracht. Und wenn sich der Kantonsrat in den
nächsten Monaten mit der speziellen Förderung befassen wird, dürften auch
finanzielle Aspekte noch Anlass zu Diskussionen bieten.
Kern des Gesetzesentwurfs der Regierung ist
einerseits eine schärfere Abgrenzung zwischen den Massnahmen; zwischen der
speziellen Förderung in der Regelschule, dem Hoheitsgebiet der Gemeinden also,
und den kantonalen Angeboten der Sonderpädagogik.
Anderseits geht es darum, den organisatorischen
Gestaltungsspielraum der Gemeinden gesetzlich zu verankern und zu stärken. So
können sogenannte «temporäre separative Gefässe» geschaffen werden, etwa
Unterricht für einzelne Schüler in von ihrer Klasse getrennten Gruppen. Als
Musterbeispiel dafür gelten «Schulinseln». Bildungsstrategen preisen sie als
niederschwellige und unkomplizierte Alternative. Schulinseln sind separate
Zimmer, in denen Kinder befristet von Heilpädagogen oder Lehrern betreut
werden. Ziel ist es, dass die Schüler möglichst rasch in die geregelten
Strukturen zurückkehren können.
Streit um den Nutzen zusätzlicher Lektionen
Die Unterstützung der speziellen Förderung durch
den Kanton basiert auf einem Lektionenpool, die Mittelzuteilung erfolgt
kollektiv. Ergo: Jede Schule kann aus einem gewissen Angebot an Lektionen
selbst bestimmen, was für sie am zielführendsten ist. Die Bandbreite für die
schulische Heilpädagogik im Kindergarten und an der Primarschule soll um eine
Lektion erhöht werden, von derzeit 20 bis 27 Lektionen pro 100 Schüler auf 20
bis 28 Lektionen. Für den Kanton entstehen dadurch Mehrkosten von rund 300 000
Franken.
SVP und FDP finden diese Aufstockung zu teuer. Man
sehe «aus Kostengründen» keinen Grund für den Ausbau der Mittelzuteilung,
halten die Freisinnigen in ihrer Vernehmlassungsantwort fest. Und die SVP warnt
gar von «Mehrkosten ohne einen effektiven Mehrwert». Derweil halten die anderen
Parteien den Ausbau des Lektionenpools für vertretbar. Dieser sei nötig und
gewährleiste eine flexible Handhabung, betont etwa die SP.
Zuletzt wurde der verfügbare Pool zu gut 92 Prozent
ausgeschöpft, die Quote ist bisher stets angestiegen. Vor diesem Hintergrund
begrüsse man eine Aufstockung, heisst es bei der CVP. «Wichtig ist aus unserer Sicht
aber auch, dass der Lektionenpool den Gegebenheiten einer Gemeinde angepasst
werden kann.»
Abgrenzung zwischen Kanton und Gemeinden
Dass schärfere Abgrenzungen für Klarheit sorgen
sollen, stösst auf Anklang. Die Regelschulen der Gemeinden sind demnach für die
ordentlichen Angebote der speziellen Förderung zuständig. Hinzu kommen
kantonale Angebote der Sonderpädagogik, zu denen künftig neben den
Vorbereitungsklassen unter anderem die regionalen Kleinklassen gehören sollen.
Zudem wird der Unterricht für hospitalisierte Schüler erstmals auf eine
gesetzliche Grundlage gestellt.
Mit der vorgesehenen Abgrenzung werde eine bessere
Zuteilung der Schüler möglich, hofft die SP. «Der Regelbetrieb wird entlastet.»
Die Christdemokraten loben ebenfalls, dass diesbezüglich endlich Klarheit
geschaffen werde, während die FDP vorsichtshalber betont haben will, dass die
Regelschulen und deren Eigenheiten «weiterhin in die Hoheit der Gemeinden
fällt».
Bei den Grünen ist die neue Grenzziehung an sich
zwar unbestritten. Sie verfolgen jedoch mit Skepsis, «dass aktuell fast die
ganze Aufmerksamkeit den kantonal getragenen Spezialangeboten gilt». Denn man
zweifle an der Notwendigkeit dieser Klassen.
Unbestritten sei aber, dass es zumindest sogenannte
«Time-outs» brauche, damit verhaltensauffällige Kinder den Schulbetrieb nicht
zum Erliegen bringen. Völlig anders tönt das bei der SVP, die weiterhin
grundsätzliche Bedenken gegenüber der integrativen Schule hegt. Unter dem
Strich entpuppe sich das Ganze als «wenig zielführend». Die Partei will am
liebsten zurück auf Feld eins und vermisst das alte System mit
Einführungsklassen und klassischen Kleinklassen.
Kleinklasse – heikler Begriff und heikles Thema
Tatsächlich ist es allein schon der Begriff
«Kleinklasse», der noch immer Verwirrung stiftet. Das hat unterdessen auch der
Regierungsrat eingeräumt. Für besonders schwierige Fälle sind in den
vergangenen Jahren die regionalen Kleinklassen eingerichtet worden. An fünf
Standorten im Kanton werden betroffene Schüler während drei bis neun Monaten
individuell gefördert – damit sie im Idealfall wieder in ihre angestammte
Klasse zurückzukehren können.
Regelmässig werden die regionalen Kleinklassen mit
den fixen, sich im Abbau befindenden Kleinklassen der Gemeinden verwechselt.
Eine unbefriedigende Situation. Zumal ein Hauptziel der integrativen Förderung
darin besteht, dass schwächere Schüler nicht stigmatisiert werden.
Deshalb werden entsprechende Klassen nun unter dem
Sammelbegriff «Spezialangebote Verhalten» geführt. «Mit der Umbenennung soll es
keine Missverständnisse mehr mit den bisherigen altrechtlichen Kleinklassen
geben», hofft das Bildungsdepartement. Genau das bezweifeln die
Sozialdemokraten wiederum. Die Mehrzahl der Betroffenen werde wohl psychische
Besonderheiten aufweisen, «welchen der Begriff nicht wirklich gerecht wird».
Ähnliche Bedenken äusserte zuvor schon der
Solothurner Lehrerverband. Solche Fragen der Terminologie sind letztlich
nebensächlich, dürften politisch aber noch zu reden geben.
Schüler-Zuweisung gegen den Willen den Eltern
Auf inhaltlicher Ebene waren die regionalen
Kleinklassen zuletzt weniger umstritten als auch schon, obwohl deren zeitweise
tiefe Auslastung für Schlagzeilen sorgte. Es zeige sich, so der aktuelle Tenor,
dass ein Bedarf nach regionalen Kleinklassen bestehe. Probleme bereitet das
lange und aufwendige Zuweisungsverfahren. Die Regierung will dieses weiter
vereinfachen, nachdem bereits 2016 erste Beschleunigungen durchgesetzt werden
konnten.
Der Schulpsychologische Dienst wird demnach die
Funktion des «Fallbegleiters» übernehmen. Vor allem aber soll die Zuweisung in
ein «Spezialangebot Verhalten» künftig gegen den Willen der Eltern erfolgen
können.
Ein heikler Plan. Die Regierung spricht vom
«äussersten Mittel», und die Parteien sind sich grundsätzlich einig, dass sich
ein solches wohl nicht verhindern lässt. Die CVP nutzt vorsichtshalber den
Begriff «Härtefälle», die SVP schreibt von «begründeten Einzelfällen».
Man müsse die Grenze, wann dieses Mittel zum Tragen
kommt, sehr vorsichtig ziehen. Mit einer liberalen Grundhaltung seien
Zuweisungen gegen den Willen der Eltern nur schwer vereinbar, konstatiert
schliesslich die FDP. «Wir anerkennen jedoch die Notwendigkeit, als Ultima
Ratio zum Schutz der anderen Schüler sowie der Lehrpersonen schnell handeln zu
müssen.»
Plötzlich soll der Kanton doch alles bezahlen
Wenn die Bedingungen für die spezielle Förderung im
Volksschulgesetz präzisiert werden, dann kommt das auch einer grossen
Umverteilungsübung gleich. An den Gesamtkosten der Sonderpädagogik von jährlich
80 Millionen Franken beteiligen sich heute die Gemeinden über Schulgelder mit
rund 20 Millionen. An sich bestünde seit Jahren eine gesetzliche Verpflichtung,
dass die Gemeinden dafür einen Lastenausgleich unter sich einrichten. Ein
solcher ist aber nie zustande gekommen.
Eine Arbeitsgruppe von Kanton und Gemeinden
arbeitete während zweier Jahre an Lösungen, um den unbefriedigenden Zustand zu
klären. Am Ende folgte der Regierungsrat ihrem Antrag, auf den Lastenausgleich
zu verzichten und die Finanzierung im Bereich Sonderpädagogik zu entflechten.
Mit anderen Worten: Fortan soll der Kanton allein die Kosten tragen. Immerhin
plant die Regierung eine Gesamtbetrachtung, um die Aufgabenteilung zwischen
Kanton und Gemeinden zu kompensieren.
Ob das gelingt, ist fraglich. Gegenüber dieser
Zeitung warnte Thomas Blum, Chef des Einwohnergemeindeverbandes, bereits
frühzeitig: «Die Reform darf nicht an einer Umverteilungsdiskussion scheitern.»
Damit formulierte er eine Ansicht, die breite Zustimmung erfährt.
Die Budgetierung in den Gemeinden werde dank der
Entflechtung vereinfacht, hofft die SP. Bei der CVP ist man «klar» damit
einverstanden, dass der Kanton mittelfristig die Gesamtkosten der Sonderschulen
und Schulheime übernimmt. Und die FDP kann sich eine Kompensation vorstellen,
indem die Schülerpauschalen neu berechnet werden. Allerdings müsse analysiert
werden, ob die Gemeinden durch die Übernahme der einstigen Logopädie-Lektionen
«nicht schon heute einen Grossteil der im Raum stehenden 20 Millionen Franken
übernommen haben».
Widerstand formiert sich in den Reihen der Grünen.
Die Partei ist dezidiert gegen die alleinige Finanzierung durch den Kanton.
«Die Wohngemeinden sollen sich vielmehr mit jenem Betrag pro Jahr beteiligen,
der den Durchschnittskosten pro Schulkind in der Regelklasse entspricht.» Wenn
nur der Kanton zahle, entstehe für die Gemeinden ein Anreiz zur Separation, so
die Befürchtung der Grünen: Es würde für sie finanziell vorteilhaft, schwierige
Fälle an eine Sonderschule oder ein Spezialangebot abzuschieben.
Wie lassen sich «Abschiebe-Effekte» verhindern? Die
Arbeitsgruppe lieferte in ihrem Abschlussbericht zumindest erste Ansätze dafür.
Eine der Ideen: Bei Anordnungen der Kinderschutzbehörde könnten die Kosten für
die Schule ebenfalls von der Sozialhilfe der Gemeinden bezahlt werden, nicht
nur jene für Fremdplatzierungen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen