Natürlich steht vor jeder Klasse eine Lehrperson – manchmal leider eine,
die unfähig ist. Wie Behörden den Lehrermangel schönreden.
Im August, eine Woche vor Beginn des neuen Schuljahres, verschickte die Stadt Zürich eine Medienmitteilung. Alle Klassenlehrerstellen seien besetzt. Gesucht würden nur noch einzelne Fachlehrer und Heilpädagogen.
Wieso überhaupt eine Medienmitteilung, die verkündet, was eigentlich völlig selbstverständlich ist? Dass jede Klasse eine Lehrperson hat?
Und der Frust wächst weiter, Beobachter, 9.10. von Susanne Loacker
Der Hintergrund ist wohl im Vorjahr zu suchen. Damals gab es zu wenig
Kindergärtnerinnen – und Medien kritisierten, dass die Stadt Zürich mit einer
«Schnellbleiche» für Quereinsteiger darauf reagierte. Dieses Mal hat die Stadt
wohl darum etwas «überkommuniziert».
Der «qualitative Lehrermangel»
Zwei Frauen schütteln da den Kopf: Marion Heidelberger, Vizepräsidentin
des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer LCH, und
Zentralsekretärin Franziska Peterhans. «Natürlich», sagt Marion Heidelberger,
«ist bei Beginn des Schuljahres vor jeder Klasse eine Lehrperson gestanden. Die
Frage ist bloss: Was für eine?»
Die Zeiten, in denen sich Schulen ihre Lehrpersonen aussuchen konnten,
sind vorbei. «Heute muss eine Schulleitung oft jene Person anstellen, die noch
am ehesten für die entsprechende Schulstufe ausgebildet ist», sagt Franziska
Peterhans. Inzwischen gebe es sehr viel stufen- und fachfremde Lehrpersonen, im
Moment sind es 20 bis 30 Prozent.
Franziska Peterhans,
Lehrerverband
«Wenn zum Beispiel für eine Klasse kein Oberstufenlehrer zu finden ist,
bedienen sich die Anstellungsbehörden bei den Primarlehrern. Oder man sucht
einen Lehrer, findet aber keinen, der die entsprechende Ausbildung in allen
Fächern hat. Also stellt man einen an, der von fünf Fächern, die er
unterrichten soll, nur in dreien entsprechend ausgebildet ist.» Das sei
dramatisch, weil das stufenspezifische Wissen fehle.
«Wir sprechen deshalb von qualitativem Lehrermangel», sagt Franziska
Peterhans. «Es ist schon nicht so, dass man in ein Schulzimmer käme, und es ist
kein Lehrer da. Aber möglicherweise eben einer, der nicht entsprechend
ausgebildet ist.»
Verbesserung in Sicht? Ganz im
Gegenteil...
Daran ändern auch Pressemitteilungen nichts. «Die Situation ist seit
Jahren die gleiche, und sie wird sich in den kommenden Jahren noch massiv
verschlimmern», sagt Franziska Peterhans. Es kommen drei Probleme zusammen, die
sich gegenseitig potenzieren: Die Lehrer-Generation der Babyboomer kommt ins
Pensionsalter, die Schülerzahlen steigen, und die Attraktivität des Berufs
nimmt ab.
An den ersten beiden Entwicklungen lässt sich nichts ändern. Und man ist
auf dem besten Weg dazu, auch die dritte zu verschlampen. «In der
Privatwirtschaft wäre die Situation klar», sagt Peterhans. «Wenn es zu wenig
Leute hat, steigen die Löhne. Das wäre toll, aber an den öffentlich-rechtlichen
Schulen gelten andere Gesetze.»
Konkret: Die Lehrerlöhne sind in den letzten Jahren kaum gestiegen.
Einzelne Kantone wie das reiche Zug können es sich zwar leisten, mit weit
überdurchschnittlichen Salären gute Lehrpersonen aus den Nachbarkantonen
anzulocken. Aber in anderen Kantonen, im Aargau zum Beispiel, ist der Reallohn
zwischen 1993 und 2016 um 10,3 Prozent gesunken (Einsteigerlohn, Basis II,
Mittelstufe/Gymnasium).
Marion Heidelberger,
Lehrerverband
«Wenn man heute im Aargau Gymi- oder Seklehrer ist, hat man faktisch
weniger in der Tasche als 1993. Das geht doch nicht», sagt Franziska Peterhans.
Doch es gelinge nicht, Druck auf die Politik aufzubauen. «Viele Randkantone
holen Lehrkräfte aus dem Nachbarland. Die pendeln und sind darum mit ihren
Schweizer Löhnen hochzufrieden. Im Aargau arbeiten viele Deutsche, St. Gallen
hat Inserate in Vorarlberger Zeitungen geschaltet.»
Als wären die seit Jahren stagnierenden Löhne nicht schlimm genug:
Lehrpersonen müssen auch immer mehr leisten für ihr Geld. «Ich habe aufgehört,
die Stunden zu zählen, die ich in Jahrgangsteams, Fachgruppen, Besprechungen
zubringe», sagt Marion Heidelberger, die seit vielen Jahren als Primarlehrerin
arbeitet. «Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nur noch nebenher
unterrichte.»
Zudem: Immer mehr Kinder leben bei nur einem Elternteil, können
wegen ihres Migrationshintergrunds noch nicht gut Deutsch oder sind
verhaltensauffällig – und brauchen eine spezielle Betreuung.
Teilzeitjobs werden zum Problem
Die Arbeit als Lehrer hat unzählige Vorteile. Da sind die 13 Wochen
unterrichtsfreier Zeit, die zumindest von aussen sehr luxuriös aussehen. Und
der Job eignet sich hervorragend für kleine Pensen und Wiedereinsteigerinnen.
«Wir hören sehr oft: Ich werde mal Lehrerin, dann möchte ich Familie, und dann
kann ich ja noch einen Tag in der Woche arbeiten», erzählt Marion
Heidelberger. Und wenn der Nachwuchs Ferien hat, hat man selber auch frei.
Bloss werden die vielen Teilzeit-Lehrkräfte zunehmend zum Problem für
jene, die ein volles Pensum stemmen. Sporttag organisieren? Am Schulfest dabei
sein? Notenkonvent leiten? Prüfungsaufsicht machen? «Das verteilt sich auf
immer weniger Schultern», sagt Marion Heidelberger. «Ich habe volles
Verständnis, wenn man mit einem kleinen Pensum und Kindern nicht an seinen
freien Tagen in die Schule kommen möchte – ich habe auch Kinder. Aber die
Folgen dieser Aufsplittung sind ungut. Und sie tragen weiter zur Frustration
von engagierten, erfahrenen Lehrpersonen bei.» Ein Teufelskreis.
Es mangelt an Heilpädagoginnen
Ein zusätzliches Problem für die Lehrpersonen ist: Seit 2002 müssen sie
Kinder mit besonderen Bedürfnissen, die früher in Kleinklassen betreut wurden,
in Regelklassen integrieren. Das verlangt neue, zusätzliche Kompetenzen – oder
mehr Personal, im Idealfall schulische Heilpädagogen. Doch ausgerechnet bei
ihnen herrscht der grösste Mangel. Zwei von drei Schulleitungen geben an, es
sei «schwierig bis unmöglich», geeignete Heilpädagoginnen und -pädagogen zu
finden, zeigt eine Umfrage, die dem Dachverband LCH vorliegt.
Deshalb, sagt Primarlehrerin Marion Heidelberger, hätten Schulen
damit angefangen, fehlende Heilpädagoginnen durch sogenannte Klassenassistenzen
zu ersetzen. Das sind Personen, die für einen bescheidenen Lohn einfache
Arbeiten im Schulzimmer übernehmen, um die Lehrpersonen zu entlasten –
korrigieren, Fotokopien von Schulmaterial machen.
«Das ist grundsätzlich eine gute Sache», sagt Heidelberger. «Aber wenn
diese Assistenzen schulische Heilpädagogen ersetzen sollen, ist das ein Affront
den Kindern gegenüber. Weil sie dann nicht die Unterstützung erhalten, die sie
brauchen und auf die sie Anrecht haben.
Ausserdem ist es eine Zumutung für die jeweilige Lehrperson: Ich muss
dann jemanden zusätzlich betreuen und coachen. Das ist dann viel mehr Be- als
Entlastung.» Und der Frust wächst weiter.
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