Die
heute zwölfjährige Selina wurde jahrelang von ihren Mitschülern gemobbt. Jetzt
hofft das Mädchen auf einen Neuanfang
Der tägliche Gang zur eigenen Hinrichtung, Basler Zeitung, 10.10. von
Nina Jecker
«Hoffentlich bekommst du Krebs» – es ist kurz vor den Sommerferien, als Selina
nach Schulschluss einen Zettel mit dieser Aufschrift in ihrer Jacke findet. Die
Zwölfjährige tut so, als wäre nichts, und steckt das Papier zurück in die
Tasche. Daheim in ihrem Zimmer holt sie ihn wieder hervor und dann kommen auch
die Tränen. Bis das Handy piepst. «Na, tust du uns den Gefallen und hast
endlich einen Tumor?», haken ihre Mitschüler via Whatsapp nach. Selina sitzt am
Boden und schluchzt. Bis sie keine Tränen mehr hat.
Es
ist nicht die erste böse Botschaft an das zierliche blonde Mädchen. Selina ist
ein Mobbingopfer. Jeder Gang in die Schule ist für sie wie ein Gang zur eigenen
Hinrichtung. Hinter jedem Piepsen ihres Smartphones könnten neuer Spott,
Beleidigungen und Drohungen stecken. Ihr Facebook-Profil hat Selina längst
gelöscht. Niemand wollte etwas Nettes darauf posten, niemand hat etwas von dem
Mädchen geliked. Stattdessen kamen Beleidigungen und Drohungen. «Opfer»,
«Zumutung», «hässliche Sau». Wenige Monate nach dem Vorfall mit dem Zettel
sitzt Selina neben ihrer Mutter auf dem Sofa in einer Altbauwohnung im Gundeli.
Selinas Mutter hat sich bei der BaZ gemeldet
– im Auftrag ihrer Tochter. Die Eltern möchten, dass der Familienname nicht
genannt und kein Foto gezeigt wird. Sie fürchten, dass das zu neuem Mobbing
führen könnte. Doch Selina will ihre Geschichte erzählen. Möchte aufmerksam
machen auf die seelischen und körperlichen Qualen, die sie seit Jahren
erleidet.
Prügel,
Einsamkeit und Urin
«Ich
war nie sehr beliebt und so richtig schüchtern», beginnt sie. «Aber zu Beginn
der Schule liessen mich die anderen immer mitspielen oder immerhin einfach in
Ruhe. Ich fühlte mich wohl in der Klasse.» Doch dann kam ein neues Mädchen in
die Klasse. «Die hatte es von Anfang an auf mich abgesehen.» Warum, das weiss
Selina bis heute nicht. «Sie sagt, ich sei halt voll peinlich.» Schnell
schaffte es die Neue, die Klasse gegen Selina aufzuhetzen. Der einen guten
Freundin, die sie zu diesem Zeitpunkt hatte, wurde der Umgang mit der
Ausgestossenen verboten. Sonst käme sie selber dran. Das Mädchen gehorchte und
Selina ging von da an alleine zur Schule. Ass alleine ihr Znüni. «Berührte mich
ein Mitschüler aus Versehen, riefen alle laut ‹igitt!›, spuckten aus und rieten
demjenigen, sich zu desinfizieren.» Ein Mädchen brachte dafür
Desinfektionsmittel von zu Hause mit. «Damit wischten sie auch Gegenstände ab,
die ich in der Hand gehabt hatte, oder Stühle, auf denen ich sass.»
Die
Lehrerin und Selinas Eltern ahnten da noch nichts von dem Mobbing. Das Mädchen
gab sich alle Mühe, das Ganze geheim zu halten. «Um nicht auch noch als Petze
gehasst zu werden. Und ich wollte meine Eltern nicht traurig machen.» Als diese
einmal fragten, ob Selina denn nicht ans Geburtstagsfest einer Mitschülerin
gehe, sagte sie «doch» und tat so, als ob – obwohl sie als Einzige nicht
eingeladen war. Den Tag verbrachte Selina alleine auf einer Parkbank. Das
Geschenk, das die Eltern für die Mitschülerin besorgt hatten, warf sie in einen
Abfallkorb.
Mit
der Zeit wurden die Attacken der anderen immer brutaler. Auf einer Schulreise
nahmen sie ihr den Proviant weg, kippten den Tee aus und warfen die Brote in
Hundekot. Selina schwieg. Als der Durst zu gross wurde, trank sie aus einem
Brunnen, an dem die Gruppe vorbeikam.
Erst
als die Spuren des Mobbings an einem kalten Wintertag auch äusserlich als blaue
Flecken sichtbar wurden, fragten die Eltern nach. Da platzte alles aus Selina
heraus. Das war vor zwei Jahren. Die Mädchen der Klasse hatten die Buben
angestiftet, Selina auf dem Schulweg abzupassen und sie zu verprügeln. «Sie
nahmen mir Schuhe, Handschuhe und Mütze weg. Einer pinkelte darauf», erzählt
das Mädchen mit leiser Stimme und starrt auf den Boden. Dann drückten die Jungs
ihr das Gesicht in die Sachen und traten auf sie ein.
Für
Schulweg nicht zuständig
«Ich
war schockiert und habe zuerst einfach mit ihr geweint», sagt die Mutter. Dann
begann der Kampf. Die Eltern wandten sich an die Eltern der Rädelsführerin.
«Doch die wollten nichts davon hören, sagten, Selina provoziere die Klasse doch
dauernd durch ihr merkwürdiges Verhalten.» Der nächste Schritt war der Gang zur
Lehrerin. Diese gab sich überrascht. In der Klasse herrsche eine sehr gute
Stimmung und das Thema Mobbing werde immer wieder aufgegriffen. Was ausserhalb
des Schulgeländes, also auch auf dem Schulweg geschehe, da sei sie ausserdem
nicht zuständig. Weil Selinas Eltern auf Klärung und Besserung bestanden,
folgten Gespräche mit der gesamten Klasse. Selina und die Rädelsführerin der
Mobber mussten sich auf Stühlen in die Mitte setzen und über die Situation
reden. «Alles, was ich da sagte über meine Hilflosigkeit und meine Trauer,
äfften die anderen später auf dem Pausenplatz nach.»
«Dass
ich lieber sterben sollte»
Schliesslich
landete Selina beim Schulpsychologen, der mit ihr Gespräche führte. «Ich wusste
nicht, wie mir das helfen sollte, ich war ja Opfer, nicht Täterin. Mit denen
hätte man doch arbeiten müssen», sagt sie rückblickend. Das Mädchen selber sah
zu diesem Zeitpunkt bereits einen Schulwechsel als einzigen Ausweg. Nach vielen
Gesprächen der Eltern mit der Klassenlehrerin und der Schulleitung kam dann
irgendwann die Botschaft: Selina darf die Klasse verlassen.
Sie
ist nicht die Einzige. Jedes Jahr wechselt rund ein Dutzend Schüler der
Volksschule Basel-Stadt die Schule aufgrund von Mobbing oder anderer Konflikte.
Selina
ist jetzt an einer anderen Schule. «Feige Sau», war das Letzte, was ihre
ehemaligen Mitschüler ihr mit auf den Weg gaben. In der neuen Klasse läuft es
bisher gut. «Die anderen hier wissen nichts von der vorherigen Situation und
sind mir offen begegnet. Ich wurde sogar in den Chat der Mitschüler aufgenommen,
in dem sie Sachen abmachen und so», freut sie sich. Die Wunden des Mobbings
sind aber keineswegs verheilt. Selina leidet nach wie vor an Schlafstörungen
und Kopfschmerzattacken. Auch das Gefühl, störend und wertlos zu sein, kann sie
nicht ablegen. «Vielleicht haben sie in der neuen Klasse nur noch nicht
gemerkt, wie nervig ich bin und dass ich besser sterben sollte», sagt sie
leise.
Am
Ende des Gesprächs zieht Selina ein Sofakissen auf ihren Schoss und legt den
Kopf darauf. «Das kommt gut», sagt die Mutter und streicht der Tochter über das
feine Haar. Selina wischt sich eine Träne von der Wange und demonstriert
nickend Zuversicht. Für ihre Mutter, sich selber, ihre Zukunft.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen