«Unser Sohn macht nichts Rechtes. Er hat sein Studium abgebrochen und
will nun Koch werden.» Diese Sorge meines Kollegen zur Frage nach dem Lebensweg
seiner Kinder ist nachvollziehbar. Zum einen grundsätzlich, weil die OECD an
der Förderung der akademischen Eliten festhält. Sie stempelt junge Menschen als
Bildungsabsteiger ab, wenn sie trotz einem akademischen Familienhintergrund
«nur» eine Berufslehre absolvieren. Zum anderen, weil Bildungsabsteiger in
unserer akademisch geprägten Zeit ein unangenehmes Thema sind. Denn der
ausschliessliche Blick auf erfolgreiche Hochqualifizierte vernebelt die
Tatsache, dass unsere auf Leistung getrimmte Gesellschaft ein beachtliches
Arsenal an Bildungsabsteigern mit oft unglücklichen Lebenswegen und schwierigen
Familiengeschichten produziert.
Wenn Kinder «versagen», NZZ, 11.8. Gastkommentar von Margrit Stamm
Den Kindern nur das Beste
Das Dilemma von Akademikereltern ist realistisch. Obwohl wir alle von
der Akademisierungswelle mitbestimmt werden, haben Kinder aus einem solchen Milieu
eine relativ grosse Abstiegswahrscheinlichkeit. Folgt man dem
Soziologen Martin Schmeiser in seinem Buch zu missratenen Söhnen und Töchtern,
so können etwa 60 Prozent den Status halten, aber 40 Prozent möglicherweise
nicht. Einen Bauernhof kann man den Kindern vererben, eine akademische Laufbahn
nicht.
Vor diesem Hintergrund wollen Eltern für ihre Kinder nur das Beste. Je
höher der Status, desto höher sind die Bildungsambitionen. Dies
gilt auch dann, wenn sie sagen, es sei ihnen gleich, was aus ihrem Kind einmal
wird. Etwa 75 Prozent erwarten zumindest einen Gymnasium-Abschluss, obwohl sie
anderes beteuern. Wenig erstaunlich ist deshalb, dass Eltern den Erwartungshorizont
für ihren Nachwuchs bereits in dessen zartem Alter von 10 oder 11 Jahren
festlegen und dann kaum mehr ändern.
Deshalb investieren Väter und Mütter viel Zeit, Geld und Energie in die
Förderung und in die schulische Ausbildung. Sie regulieren die Bildungslaufbahn
ihrer Kinder, treiben sie an, setzen sich für sie in der Schule ein, erwarten
aber gleichzeitig auch, dass sie die hochgesteckten Ziele
erreichen. Ist dem nicht so, dann ist dies ein fast unüberwindliches
Problem, für Väter meist etwas weniger als für Mütter. Denn oft treten gerade sie zugunsten der
Familie im Beruf kürzer und fragen sich deshalb, ob sich diese
Investition gelohnt hat, wenn der Sprössling aus ihrer Sicht derart scheitert.
Zugeben tun dies aber die wenigsten Eltern.
Die Tragik solcher Familienkonstellationen ist
verständlich. Man hat dem Kind so viele Optionen geschaffen, den Übertritt ins
Gymnasium ermöglicht und schlechte Noten mit Lernunterstützung aufgefangen, nur um ihm den Zugang zur Universität zu
sichern. Wenn nun die Tochter das Studium abbricht und als
Flight-Attendant arbeitet oder der Sohn eine Ausbildung zum Krankenpfleger
macht, sehen Eltern ihre Lebensplanung zerstört. Aus den einst hoffnungsvollen
Kindern werden schwarze Schafe.
Doch haben wir uns auch schon überlegt, was mit diesen Akademikerkindern
passiert, die zwar offensichtlich zu Höherem geboren wären, jedoch «scheitern»?
Jedes Kind, ungeachtet seines Geschlechts, seiner sozialen Herkunft oder seines
Temperaments, will von den Eltern geliebt werden und Anerkennung bekommen. Oft
wird es jedoch von Müttern und Vätern in einer Weise erzogen, die es fühlen
lässt, dass es nur etwas wert ist, wenn es erfolgreich ist. Dann schwebt über
ihm meist viele Jahre das Damoklesschwert eines mit Liebe und Liebesentzug
verbundenen Leistungsdrucks. Dies kann nachhaltige Spuren in der Biografie
hinterlassen und zu einem Bildungsabstieg oder -ausstieg führen.
Martin Schmeiser unterscheidet drei Typen, deren gemeinsamer Nenner
schlechte Schulleistungen sind: den Hochstapler, den frühen Aussteiger und den
Randständigen. Der Hochstapler bleibt lange im Herkunftsmilieu und versucht,
durch ein So-Tun-als-ob die Illusion des Akademikers aufrechtzuerhalten. Eine
Lebenskrise führt dann zum Abstieg und oft zur Trennung von der Familie.
Ganz anders der frühe Aussteiger, der sich schon
im Gymnasium vom gravierenden Elterndruck befreit und sich
einen alternativen Lebensstil aufbaut. Auf diese Weise schützt er sein
Selbstwertgefühl, so dass die Beziehung zu den Eltern zwar distanziert bleibt,
aber nicht abbricht. Der Typ des Randständigen wird schon früh mit einer
Abstufung konfrontiert, was seine Zugehörigkeit zum Akademikermilieu infrage
stellt. Trotzdem unternimmt er immer und immer wieder Anläufe, nicht zu
scheitern. Doch führt dies nur zu einer randständigen Integration sowohl in die
akademische als auch die nichtakademische Welt. Deshalb wird die Beziehung zur
Familie als notdürftige Kompensation aufrechterhalten.
Viel zu verlieren
Diese Typologie verdeutlicht, wie schwierig es für ein Akademikerkind
ist zu scheitern. Ein Arbeiterkind kann sich auf seine soziale Benachteiligung
berufen, ein Akademikerkind hat viel zu verlieren. Deshalb ist es eine
belastende Hypothek, denselben Weg wie die Eltern beschreiten zu müssen. Auch
wenn es sich genauso wie andere Kinder von ihnen distanzieren möchte, kann es
dies nicht so tun wie ein Kind von Handwerkern, also durch hartes Arbeiten
besser und erfolgreicher werden. Akademikerkinder können nur das Gleiche wie
ihre Eltern erreichen.
Oft sind Bildungsabstiege oder -ausstiege eine Folge überfordernder
Erziehungsmuster. In der Diskussion um die Leistungsfähigkeit unseres
Nachwuchses täten wir deshalb gut daran, mehr Wert auf das individuelle
kindliche Leistungsvermögen zu legen und nicht nur das Recht des Kindes auf
Bildung zu betonen. Würde es Eltern vermehrt gelingen, entspannter mit den
erwartungswidrigen Schulleistungen des Sprösslings umzugehen und nicht sofort
ins Lernstudio oder zum Therapeuten zu rennen, hätten sie wahrscheinlich auch
entspanntere Kinder – mit geringerer Prüfungsangst und ohne Burnout-Symptome.
Weniger Leistungsdruck würde der Familie mehr Lebensqualität und Befreiung
bringen.
Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften
an der Universität Freiburg i. Ü.
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