8. August 2017

Schreiben nach Gehör gerät unter Druck

«Ich heise Lars und vahre mit meinem Fatar nach Bern.» – Sätze wie diesen liest man in so manchem Aufsatzheft – und das ganz ohne Rotstift-Korrektur des Lehrers. In vielen Schweizer wie auch deutschen Schulen dürfen Primarschüler so schreiben, wie sie sprechen. «Schreiben nach Gehör» heisst das Konzept. Die Methode wird nun scharf kritisiert. 
Vogel mit F - die Lernmethode "Schreiben nach Gehör" gerät unter Druck, Watson, 7.8. von Camille Kündig


«Wer hat's erfunden?»
«Schreiben nach Gehör» basiert auf der Lernmethode des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen. Demnach lernen die Kinder zunächst, die Laute der Wörter herauszuhören und sie – mit Hilfe einer Buchstabentabelle – Buchstaben zuzuordnen und diese aneinanderzureihen, sie somit phonetisch aufzuschreiben. Die orthographische Korrektheit steht dabei zunächst nicht im Vordergrund. Reichen lehnte es strikt ab, Kinder beim Schreibenlernen mit Rechtschreibregeln zu überfordern. In Diktaten und Rotstift sah er «unproduktives, totes Buchstabenwissen und Ausfluss einer kollektiven Zwangsneurose».
quelle: uni leipzig

In Deutschland warnt der Sprachwissenschaftler Wolfgang Steinig davor, die Lernmethode zu lange anzuwenden. Es gebe einen Zusammenhang zwischen dem «Schreiben nach Gehör» und Schwächen in den Lese- und Schreibfähigkeiten der Schüler, liess er sich im Deutschlandfunk zitieren. Im Bundesland Nordrhein-Westfalen hat die Schulministerin nun gar bekannt gegeben, die Methode prüfen zu lassen und im Zweifel aus den Klassenzimmer zu verbannen. 

Eine Verbannung der Lernmethode hierzulande wünscht sich auch SVP-Bildungspolitikerin Verena Herzog. Sie hält «gar nichts» vom «Schreiben nach Gehör»: «Sich zuerst Fehler anzugewöhnen, die nachher mit grossem Aufwand wieder ausgebügelt werden müssen, ist doch völlig ineffizient.» Besonders für Migrantenkinder sei das ein zusätzliches Erschwernis. 

Die Bildungsdirektoren hierzulande müssten zur Vernunft kommen und den Lehrpersonen dringend abraten, mit dieser Methode und den entsprechenden Lehrmitteln zu arbeiten, so Herzog. Besser wäre es, sagt die Politikerin, dass KinderSchritt für Schritt mit viel Übungsmöglichkeiten wie Diktaten gute Grundlagen in Deutsch erarbeiten könnten. «Das gibt ihnen Sicherheit und motiviert zu schreiben.» 

Als Einstieg sinnvoll
SP-Bildungspolitiker Matthias Aebischer sieht das anders: «Als ehemaliger Lehrer bin ich klar der Meinung, dass jedes Kind in den ersten Schuljahren spielerisch und individuell an die deutsche Sprache herangeführt werden muss.» Wohl rund 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler könne man mit banalen Grammatikübungen erreichen, die andern 20 Prozent aber eben nicht.

Für die seien Lernmethoden wie das «Schreiben nach Gehör» Gold wert. Aebischer: «Denn, wenn sie schlechte Erfahrungen mit der deutschen Sprache in der Schule machen, geraten sie ins Hintertreffen oder steigen irgendeinmal ganz aus.» Das sei aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive schlecht und überaus kostspielig. Er erachte die Methode aber nur als Einstieg in den ersten paar Jahren als sinnvoll. Nach der obligatorischen Schulzeit müssten die Schüler die Grammatik beherrschen. 

Textanalyse wegen Fake-News wichtiger
Marion Heidelberger, Vizepräsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes Schweiz, sagt: «Alle heutigen Lehrmittel zum Lesen- und Schreibenlernen bauen auf der Methode ‹Schreiben nach Gehör› auf.» Dies entspreche dem Lehrplanziel der ersten Klasse. Darauf aufbauend werde dann aber die richtige Schreibweise eingeführt.

Man lege heute generell viel mehr Wert auf Textverständnis und situatives Schreiben als auf die Rechtschreibung, so Heidelberger. So sei beispielsweise die Textanalyse in der heutigen Zeit von Fake-News besonders wichtig. Dass dies teilweise auf Kosten der Rechtschreibkenntnisse der Schüler gehe, sei «gut möglich».
Deshalb wieder rigoroser auf die Orthographie zu achten und das «Schreiben nach Gehör» für Grundschüler abzuschaffen, sei jedoch keine Lösung. «Legt man zu früh Wert auf die Rechtschreibung, führt das nur dazu, dass viele Kinder die Freude am Lesen- und Schreibenlernen verlieren.»

An der Lernmethode scheiden sich auch in der Forschung die Geister. Tatsächlich gibt es seit den 1970er-Jahren Studien, die das lautorientierte Schreiben als eine «wesentliche Entwicklungsphase» beschreiben. Gleichzeitig wird das Konzept von verschiedenen Forschern als problematisch angesehen. Problematisch sei es besonders für Legastheniker, Kinder aus bildungsfernen Schichten und Kinder mit fremdsprachigem Migrationshintergrund. Diese Schüler würden im Elternhaus keine zusätzliche Unterstützung bekommen oder hätten Mühe, Diktiertes lautgetreu wiederzugeben.

Deutliche Defizite
Dass es Defizite in der Orthographie gibt, scheint hingegen Tatsache zu sein: In einer Erhebung der Universität Zürich geben zwei von drei befragten Lehrern an, dass Gymnasiasten und Sekundarschüler mehr Fehler machten als noch vor zehn Jahren, schrieb die NZZ im Mai. 60 Prozent der Lehrer halten laut Erhebung zudem fest, dass sich die Grammatikkenntnisse verschlechtert hätten. In dem Zusammenhang werden auch oft die elektronischer Kommunikationsmittel und die Neuen Medien beschuldigt. 


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