«Ich heise Lars und vahre mit meinem Fatar
nach Bern.»
– Sätze wie diesen liest man in so manchem Aufsatzheft – und das ganz ohne
Rotstift-Korrektur des Lehrers. In vielen Schweizer wie auch deutschen Schulen
dürfen Primarschüler so schreiben, wie sie sprechen. «Schreiben nach
Gehör» heisst das Konzept. Die Methode wird nun scharf kritisiert.
Vogel mit F - die Lernmethode "Schreiben nach Gehör" gerät unter Druck, Watson, 7.8. von Camille Kündig
«Wer hat's erfunden?»
«Schreiben nach Gehör» basiert auf der Lernmethode
des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen. Demnach
lernen die Kinder zunächst, die Laute der Wörter herauszuhören und sie – mit
Hilfe einer Buchstabentabelle – Buchstaben zuzuordnen und diese
aneinanderzureihen, sie somit phonetisch
aufzuschreiben. Die orthographische Korrektheit steht dabei
zunächst nicht im Vordergrund. Reichen lehnte es strikt ab, Kinder beim
Schreibenlernen mit Rechtschreibregeln zu überfordern. In Diktaten und Rotstift
sah er «unproduktives, totes Buchstabenwissen und
Ausfluss einer kollektiven Zwangsneurose».
quelle: uni leipzig
In Deutschland warnt der Sprachwissenschaftler
Wolfgang Steinig davor, die Lernmethode zu lange anzuwenden. Es gebe einen
Zusammenhang zwischen dem «Schreiben nach Gehör» und Schwächen in den Lese- und
Schreibfähigkeiten der Schüler, liess er sich im Deutschlandfunk zitieren.
Im Bundesland Nordrhein-Westfalen hat die Schulministerin nun gar bekannt
gegeben, die Methode prüfen zu lassen und im Zweifel aus den Klassenzimmer zu
verbannen.
Eine Verbannung der Lernmethode hierzulande wünscht
sich auch SVP-Bildungspolitikerin Verena Herzog. Sie hält «gar nichts» vom «Schreiben
nach Gehör»: «Sich zuerst Fehler anzugewöhnen, die nachher mit grossem
Aufwand wieder ausgebügelt werden müssen, ist doch völlig ineffizient.»
Besonders für Migrantenkinder sei das ein zusätzliches Erschwernis.
Die Bildungsdirektoren hierzulande müssten zur
Vernunft kommen und den Lehrpersonen dringend abraten, mit dieser Methode und
den entsprechenden Lehrmitteln zu arbeiten, so Herzog. Besser wäre es, sagt die
Politikerin, dass KinderSchritt für Schritt mit viel Übungsmöglichkeiten
wie Diktaten gute Grundlagen in Deutsch erarbeiten könnten. «Das gibt ihnen
Sicherheit und motiviert zu schreiben.»
Als Einstieg sinnvoll
SP-Bildungspolitiker Matthias Aebischer sieht das anders:
«Als ehemaliger Lehrer bin ich klar der Meinung, dass jedes Kind in den ersten
Schuljahren spielerisch und individuell an die deutsche Sprache herangeführt
werden muss.» Wohl rund 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler könne man
mit banalen Grammatikübungen erreichen, die andern 20 Prozent aber eben nicht.
Für die seien Lernmethoden wie das «Schreiben nach
Gehör» Gold wert.
Aebischer: «Denn, wenn sie schlechte Erfahrungen mit der deutschen Sprache in
der Schule machen, geraten sie ins Hintertreffen oder steigen irgendeinmal ganz
aus.» Das sei aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive schlecht und überaus
kostspielig. Er erachte die Methode aber nur als Einstieg in den ersten paar
Jahren als sinnvoll. Nach der obligatorischen Schulzeit müssten die
Schüler die Grammatik beherrschen.
Textanalyse wegen Fake-News
wichtiger
Marion Heidelberger, Vizepräsidentin des
Lehrerinnen- und Lehrerverbandes Schweiz, sagt: «Alle heutigen Lehrmittel zum
Lesen- und Schreibenlernen bauen auf der Methode ‹Schreiben nach Gehör› auf.»
Dies entspreche dem Lehrplanziel der ersten Klasse. Darauf aufbauend werde dann
aber die richtige Schreibweise eingeführt.
Man lege heute generell viel mehr Wert auf
Textverständnis und situatives Schreiben als auf die Rechtschreibung, so
Heidelberger. So sei beispielsweise die Textanalyse in der heutigen Zeit von
Fake-News besonders wichtig. Dass dies teilweise auf Kosten der
Rechtschreibkenntnisse der Schüler gehe, sei «gut möglich».
Deshalb wieder rigoroser auf die Orthographie zu
achten und das «Schreiben nach Gehör» für Grundschüler abzuschaffen, sei jedoch
keine Lösung. «Legt man zu früh Wert auf die Rechtschreibung, führt das nur
dazu, dass viele Kinder die Freude am Lesen- und Schreibenlernen verlieren.»
An der Lernmethode scheiden sich auch in der Forschung die
Geister. Tatsächlich gibt es seit den 1970er-Jahren Studien, die das
lautorientierte Schreiben als eine «wesentliche Entwicklungsphase» beschreiben.
Gleichzeitig wird das Konzept von verschiedenen Forschern als problematisch
angesehen. Problematisch sei es besonders für Legastheniker, Kinder aus
bildungsfernen Schichten und Kinder mit fremdsprachigem Migrationshintergrund. Diese
Schüler würden im Elternhaus keine zusätzliche Unterstützung bekommen oder
hätten Mühe, Diktiertes lautgetreu wiederzugeben.
Deutliche Defizite
Dass es Defizite in der Orthographie gibt, scheint
hingegen Tatsache zu sein: In einer Erhebung der Universität Zürich geben
zwei von drei befragten Lehrern an, dass Gymnasiasten und Sekundarschüler mehr
Fehler machten als noch vor zehn Jahren, schrieb die NZZ im Mai. 60 Prozent der
Lehrer halten laut Erhebung zudem fest, dass sich die Grammatikkenntnisse
verschlechtert hätten. In dem Zusammenhang werden auch oft die elektronischer
Kommunikationsmittel und die Neuen Medien beschuldigt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen