Wie
verbringt eine Ärztin, ein Lehrer, eine Krankenpflegerin oder ein
Kinderbetreuer in einer Krippe den Arbeitsalltag? Das Ideal wäre: Sie wenden
ihre Zeit vorwiegend für die Menschen auf. Für die Patienten, Schülerinnen,
Kinder. Schliesslich handelt es sich um soziale Berufe, die man – hoffentlich –
ergreift, weil man gern mit Menschen arbeitet.
Wenn der Papierkram wichtiger ist als der Mensch, Schweiz am Wochenende, 29.7. Kommentar von Patrik Müller
Dass
diese Vorstellung mehr und mehr zur Illusion wird, zeigte diese Woche eine
Studie am Beispiel der Assistenzärzte, die am Kantonsspital Baden durchgeführt
wurde. Nur gerade 94 Minuten kann sich ein Assistenzarzt der Inneren Medizin
pro Tag Zeit nehmen, um sich am Bett um die Patienten zu kümmern. Magere
eineinhalb Stunden also, bei einem Arbeitstag von oft zehn oder gar zwölf
Stunden. Deutlich mehr Zeit erfordern hingegen administrative Aufgaben, wie die
Beschaffung von Berichten und Material (zum Beispiel Röntgenbilder),
Dokumentationen für den nachbehandelnden Arzt, das Nachführen von
Patientenakten, aber auch die Kommunikation mit den Angehörigen des Patienten.
Natürlich sind all das auch wichtige Aufgaben, die ebenfalls dem Patienten
zugutekommen. Aber das Verhältnis ist eklatant: Der direkte Kontakt mit den
Kranken macht nur etwa ein Sechstel eines Arbeitstages aus.
Die
Studie wirft ein Schlaglicht auf ein Problem, das auch andere soziale Berufe
betrifft. Endlich! In der Privatwirtschaft wird seit Jahren geklagt über die
überbordende Bürokratie. Gewerbebetriebe leiden unter der
Mehrwertsteuer-Administration, Restaurantbetreiber unter der
Lebensmittelverordnung, Grossbanken ächzen unter der nationalen und
internationalen Regulierung. In Bundesbern wird dies oft als Gejammer abgetan
und unbeirrt weiter legiferiert. In den letzten zehn Jahren ist die
Rechtssammlung des Bundes um fast einen Viertel auf nunmehr fast 70000 Seiten
angewachsen, wie am Swiss Economic Forum vorgerechnet wurde. Die Klagen der
Unternehmer kommen also nicht von ungefähr.
Verwaltung als Job-Maschine
Immerhin
wird diese Last der Privatwirtschaft in der Politik inzwischen zum Thema
gemacht. Ganz anders bei den sozialen Berufen. Dabei wären bei ihnen eine
Vereinfachung und Verwesentlichung besonders wichtig. In der Regel geht es um
Staatsangestellte. Durch den Trend, jeden Arbeitsschritt zu dokumentieren,
fehlt ihnen einerseits – und das ist das Hauptproblem – die Zeit für die
Patienten oder die Schüler. Und andererseits schafft der Staat dadurch laufend
neue Stellen, welche den Zusatzaufwand bewältigen sollen, damit die Mitarbeiter
an der Front zumindest ein bisschen entlastet werden. Diese neuen Stellen
zahlen wir mit den Krankenkassenprämien oder Steuern.
Das
Ausmass ist statistisch belegt. Wirtschaftsprofessor Mathias Binswanger
bezeichnete das Gesundheits- und Sozialwesen in der NZZ als «absolut wichtigste
Job-Maschine». Dort erhöhte sich die Zahl der Beschäftigten von 2008 bis 2016
um mehr als 100000 Personen. Nach diesem Sektor wächst ebenfalls eine
staatliche Branche am schnellsten: Im Bereich Erziehung und Unterricht
entstanden im selben Zeitraum 60000 Stellen. Diese Zunahme liegt nicht bloss im
Bevölkerungswachstum begründet – das zum Grossteil eine Folge der Einwanderung
ist –, sondern eben auch darin, dass die sozialen Berufe immer mehr
Vorschriften erfüllen und dokumentieren müssen, weshalb in ihren übergeordneten
Bereichen, also in der Verwaltung, besonders viele Stellen entstehen.
Es ist
eine Entwicklung, die alle unglücklich macht: Die Patienten und Schüler, die
Prämien- und Steuerzahler und nicht zuletzt diejenigen, die den Beruf ausüben.
Altenpflegerin wird nicht, wer gern Formulare ausfüllt (heute muss in den
Heimen jede Handreichung dokumentiert werden), sondern wer den Umgang mit
Senioren mag. Analoges gilt für Krankenschwestern und Kinderbetreuer. Am Ende
fehlt ihnen die Zeit für die Menschen, um die es doch geht – und das macht unzufrieden.
Das
Kantonsspital Baden will die Assistenzärzte nun entlasten, indem diese mehr
Aufgaben delegieren sollen. Das ist nötig, aber letztlich Symptombekämpfung.
Dann braucht es einfach mehr administratives Personal. Man sollte bei der
Wurzel ansetzen: Die Aufgaben und Abläufe müssten vereinfacht werden. Doch das
liegt zu einem grossen Teil nicht in der Macht der Spitäler (oder Schulen oder
Krippen), sondern beim Gesetzgeber oder den von diesen beauftragten Behörden.
Dass
alles komplizierter wird, liegt auch nicht an den Behörden per se, sondern an
einer Grundeigenschaft von Menschen in entwickelten Gesellschaften: der
Risikoaversion. Wir wollen alles absichern. Banken dürfen nicht mehr Konkurs
gehen können. Krankenpfleger müssten jedes Aspirin, das sie verabreichen,
protokollieren. In der Kinderkrippe muss für jedes Bobo ein Bericht erstellt
werden. Dieses Sicherheitsstreben soll zu Fehlerfreiheit führen, die es nicht
gibt, und mündet stattdessen in Regulierung. Eine unheilvolle Entwicklung, die
im Einzelfall verständlich ist, unserer Gesellschaft aber schadet.
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