22. Juni 2017

"Verhaltensauffällige sind nicht geistig behindert"

In vielen heilpädagogischen Sonderschulen des Kantons Zürich bietet sich heute das folgende Bild: Neben geistig behinderten Kindern, die schon immer diesen Schultyp besucht haben, finden sich häufig auch schwer geistig und mehrfachbehinderte Kinder. Dies ist verständlich, haben doch auch sie ein Recht auf Bildung und Förderung.
Herausforderung für die Heilpädagogik, NZZ, 22.6. Gastkommentar
von Riccardo Bonfranchi


Tatsache ist aber auch, dass diese Gruppe in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Dies hat damit zu tun, dass heute weit häufiger auch schwerbehinderte Kinder überleben können, die früher noch gestorben wären. Auch die Zunahme der Überlebensmöglichkeit von Frühestgeburten hat deutlich zugenommen. Viele dieser Kinder haben eine zum Teil schwere Behinderung. Gleichzeitig ist eine deutliche Abnahme von Kindern mit Down-Syndrom feststellbar, dies aufgrund der pränatalen Diagnostik, die heute in der überwiegenden Zahl der positiv diagnostizierten Fälle zu einer Abtreibung führt. Heute werden viele geistig behinderte Kinder, insbesondere solche mit einem Down-Syndrom, zunächst in die Regelschule integriert. Viele dieser Kinder werden dann, wenn sie etwas älter geworden sind, in eine heilpädagogische (Oberstufen-)Klasse eingeschult.

Die Bandbreite an unterschiedlichen Schülern und Schülerinnen in der heilpädagogischen Sonderschule hat sich in den letzten Jahren aber vor allem auch deshalb dramatisch vergrössert, weil auch sogenannt lernbehindert-verhaltensauffällige Schüler häufiger in diese Schulen kommen, die eigentlich für geistig behinderte Kinder und Jugendliche eingerichtet worden sind.

Eine Klasse an einer heilpädagogischen Schule im Kanton Zürich sieht heute also beispielsweise wie folgt aus. Gehen wir von einer Klasse mit acht Schülerinnen und Schülern aus: Zwei der acht Schüler sind schwer geistig und mehrfachbehindert, sie verfügen über keine Lautsprache und bewegen sich auf dem entwicklungspsychologischen Niveau eines Kleinkindes unter zwei Jahren. Zwei weitere Schülerinnen sind schwer geistig, aber nicht mehrfachbehindert. Ihr Entwicklungsniveau entspricht etwa der Kindergartenstufe. Zwei weitere Schüler sind nur leicht geistig behindert und wären früher vielleicht in eine Kleinklasse eingeschult worden. Die letzten zwei der acht Schüler sind nicht geistig behindert, aber verhaltensauffällig. Sie bewegen sich selbständig in der Gemeinde, benutzen öffentliche Verkehrsmittel, fahren vielleicht Mofa, hatten aber eventuell auch schon diverse Kontakte mit der Polizei wegen Vandalismus und Sachbeschädigung oder Ähnlichem.

Diese acht Schüler besuchen nun also in unserem Beispiel die gleiche Klasse an einer heilpädagogischen Schule. Wie aber sieht der Unterricht in einer solcherart durchmischten Klasse aus? Über welche Qualifikationen muss die verantwortliche Lehrkraft verfügen, um all den verschiedenen Bedürfnissen gerecht werden zu können? Ist dies überhaupt zu leisten? Und: Ist den verantwortlichen Stellen bei der Bildungsdirektion und in der Politik bekannt, dass hier solch massive Unterschiede in den Bildungsniveaus vorhanden sind, die ein befriedigendes Fordern und Fördern kaum noch möglich machen?

Es gibt wohl keinen anderen Schultyp in unserer Schullandschaft, der so heterogen zusammengesetzt ist wie eine Klasse an einer heilpädagogischen Sonderschule.
Es stellt sich deshalb die Frage, ob hier allenfalls eine Bagatellisierung bzw. Trivialisierung von Behinderung geschieht. Es werden sowohl die schwer geistig und mehrfachbehinderten Schüler wie auch die lernbehindert-verhaltensauffälligen Schüler nicht für voll genommen. Es wäre möglicherweise sinnvoll, die sogenannten Kleinklassen wieder einzuführen, wie dies in den Kantonen Aargau und Graubünden erwogen und teilweise umgesetzt worden ist. Zwar sind Klassen an heilpädagogischen Schulen auch Kleinklassen. Die Heterogenität der Entwicklungs- und Bildungsniveaus an heilpädagogischen Schulen ist aber didaktisch und bildungspolitisch nicht akzeptabel.

Riccardo Bonfranchi ist als selbständiger Fachberater und Supervisor im heilpädagogischen Bereich tätig.


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