16. Mai 2017

Die Fremdsprachendebatte aus Sicht der Minderheiten

Während in der Deutschschweiz immer wieder über das Fremdsprachenlernen in der Schule abgestimmt wird, kommt es in der Romandie und im Tessin nicht zu solchen Urnengängen. Wieso eigentlich nicht?
Überforderung als Luxusproblem, NZZ, 16.5. von Anja Giudici und Sandra Grizelj


Am 21. Mai entscheiden die Zürcher Stimmberechtigten, ob künftig nur noch eine Fremdsprache auf Primarstufe unterrichtet werden soll – welche Fremdsprache auf die Oberstufe verlegt werden würde, lässt die Initiative offen. Auch in anderen Kantonen sind dieses Jahr ähnliche Vorlagen traktandiert; die nächsten Abstimmungen stehen in Luzern und Basel-Landschaft an. Immer wieder äusserte sich die Stimmbevölkerung in der Deutschschweiz zum Fremdsprachenunterricht. Die Mehrheit der Schulkinder sei mit dem frühen Sprachenlernen überfordert, lautet das gewichtigste Motiv der Initianten und Befürworter entsprechender Vorlagen. Auffallend ist, dass in der Romandie und im Tessin die direkte Demokratie bei der Frage der graduellen Einführung und Vorverlegung zuerst einer und später zweier (im Tessin dreier) Fremdsprachen während der obligatorischen Schulzeit nie bemüht wurde. Wieso eigentlich nicht?

Im Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds «Die gesellschaftliche Konstruktion schulischen Wissens» wurde die Entwicklung des schulischen (Fremd-)Sprachunterrichts in den letzten 150 Jahren untersucht. Nimmt man in Bezug auf die (Nicht-)Einführung von Fremdsprachen in der Schule eine vergleichende Perspektive ein, die explizit auch die Sprachminderheiten in die Betrachtung einschliesst, dann werden starke sprach- und regionalspezifische Besonderheiten sichtbar. Die Ergebnisse zeigen, dass zwischen der Sprachmehrheit und den Sprachminderheiten ein starkes Ungleichgewicht herrscht.

Geforderte Minderheiten
Mit der Annahme der Bundesverfassung von 1848 wurden in der Schweiz drei Sprachen als «Nationalsprachen» anerkannt und formell gleichgestellt. Rückblickend wird dieser Schritt oft als Aufwertung von Französisch und Italienisch, den zwei grösseren Schweizer Minderheitensprachen, interpretiert. Dies mag symbolisch so gewesen sein. Dennoch stärkten der 1848 eingeleitete Zentralisierungsprozess und damit verbunden der Ausbau politischer Institutionen auf eidgenössischer Ebene, die Einrichtung der ETH in Zürich und später die Zentralisierung des Militärs den Stellenwert der deutschen Sprache noch mehr. Auch innerhalb der Bundesverwaltung nahm man es mit der Gleichstellung der Sprachen zunächst nicht so genau: Die meisten Texte erschienen zuerst auf Deutsch und wurden anschliessend meist nur in ein fehlerhaftes Französisch übersetzt. Seit den 1880er Jahren ist dafür der Ausdruck «français fédéral» gebräuchlich.

All dies führte in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht dazu, dass die Beteiligung an der Schweizerischen Eidgenossenschaft den Sprachminderheiten mehr abverlangte als der deutschsprachigen Mehrheit.

Die Sprachverhältnisse zeigen sich schon früh in der schulischen Sprachpolitik der Kantone. In den 1870er Jahren war in Genf die Zentralisierung des Militärs und der Politik ein Hauptargument für die Einführung von Deutsch als obligatorisches Primarschulfach. Für die Verteidigung der kantonalen Interessen sei es verheerend, wenn sich die in die eidgenössischen Räte entsandten Abgeordneten nicht verständlich machen könnten, argumentierten 1871 Abgeordnete im Genfer Parlament. In einer Demokratie war es nicht mehr nur die mehrsprachige Elite, die den Kanton in den entscheidenden Gremien vertrat. Graduell wurde in Genf der Deutschunterricht dann auch auf die ersten Primarschuljahre vorverlegt. Anders verhielt es sich in der deutschsprachigen Schweiz. Weder das Basler Ratsherrenregime noch das Schaffhauser Parlament taten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch ihr nationalpolitisches Engagement hervor. Und doch entschieden die Behörden, Französisch in der Oberstufe einzuführen. Darin spiegelt sich aber nicht etwa eine besondere Wertschätzung für den mehrsprachigen Bundesstaat oder für die Pflege von politischen Beziehungen zur restlichen Schweiz. Vielmehr erachteten Eltern und Politiker in Basel und Schaffhausen das Französisch als nützlich im Rahmen einer stark auf Frankreich ausgerichteten Wirtschaft. Auch im deutschsprachigen Teil des Kantons Bern war dies eines der Hauptargumente für den Französischunterricht.

Ein ähnliches, aber noch stärkeres Ungleichgewicht zeigt der Vergleich mit der dritten Sprachminderheit. Im späten 19. Jahrhundert wuchs in der Schweiz die Sorge um die jeweilige Muttersprache. Schülerinnen und Schüler beherrschten diese zu wenig, weil sie schulisch überfordert seien, lautete die Diagnose von Politikern und Pädagogen. Die Reformen dieser Zeit zielten deshalb auf Entlastung über schlankere Lehrpläne von der Primarschule bis zum Gymnasium ab. Um mehr Platz für die Pflege der Muttersprache zu schaffen, wurde auch das Fremdsprachenobligatorium in Genf, Basel-Stadt und Schaffhausen wieder abgeschafft.

Wo bleibt das Italienisch?
Auch das Tessiner Erziehungsdepartement folgte ähnlichen Überlegungen, als es den Muttersprachunterricht in der Volksschule und 1880 im Gymnasium ausbaute. Allerdings hielt dieser Entscheid nicht lange. Wenige Jahre später entzog das eidgenössische Parlament die Finanzierung von Deutschkursen für zukünftige ETH-Studenten. Die ETH-Leitung drohte, den Zugang zur damals einzigen Bildungsanstalt des Bundes an eine Deutschprüfung zu koppeln. Dadurch sah sich das Tessiner Erziehungsdepartement des damals noch universitätslosen Kantons gezwungen, die Deutschlektionen im Gymnasium auszubauen. Ein paar Jahre später wurden Deutsch und Französisch – zusätzlich zu Latein und, je nach Maturitätstyp, weiteren Sprachen – für alle Tessiner Gymnasiasten obligatorisch.

Als der Erste Weltkrieg die Spannungen zwischen den Sprachregionen verschärfte, kam in der Politik die Forderung nach einer Verstärkung des gegenseitigen Sprachenlernens auf. Tessiner Politiker nutzten die Gunst der Stunde, um ihrerseits die Aufnahme von Italienisch schweizweit als obligatorisches Maturitätsfach zu fordern. Wenn Tessiner Gymnasiasten in der Lage seien, mindestens vier Sprachen gleichzeitig zu stemmen, warum sollte dies für französisch- und deutschsprachige Gymnasiasten nicht möglich sein?, hiess es etwa. Die Forderung setzte sich nicht durch. Der Bundesrat stellte 1938 klar, man wolle wegen des Italienischen weder das Latein noch die «bedeutende Weltsprache» Englisch schwächen. Ausserdem sei der Gymnasiast nicht mit zu vielen Sprachen zu überfordern, und das Schulprogramm dürfe nicht in eine «verderbliche Oberflächlichkeit umschlagen».

Ähnliche Dynamiken zeigen sich für die Volksschule. In den 1930er Jahren wurden die akademischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Mussolinis Italien immer problematischer. Die Tessiner Behörden machten sich also daran, den Zugang der Schüler und Schülerinnen zum eidgenössischen Arbeitsmarkt und zu den Hochschulen über eine entsprechende Sprachenpolitik zu sichern. 1936 wurde Französisch obligatorisches Fach der Primaroberstufe. Während des Zweiten Weltkriegs diskutierte das Tessiner Parlament nunmehr beinahe jährlich darüber, ob den Primarschülern (und den Lehrpersonen) nicht doch noch zusätzlich ein paar Deutschlektionen zugemutet werden könnten.

Zeitgleich verhandelte die Erziehungsdirektorenkonferenz, ob sie sich als Antwort auf die Forderungen nach mehr gegenseitigem Sprachenlernen grundsätzlich für die Erprobung von Fremdsprachenlektionen in Primaroberstufen aussprechen sollte. Das Gremium lehnte auch die unverbindlichste Formulierung in diese Richtung ab. Die Mehrheit der Erziehungsdirektoren traute einem grossen Teil der Schülerinnen und Schüler das Erlernen einer Fremdsprache prinzipiell nicht zu. Die Primarschülerschaft, so der Zürcher Erziehungsdirektor Hafner, sei «im Allgemeinen dafür nicht geeignet».

Ungleicher Wert der Sprachen
Rund 80 Jahre später, Anfang April 2017, erklärte anlässlich einer Medienkonferenz ein Mitglied des Komitees der Zürcher Fremdspracheninitiative, die zu starke Fokussierung auf Fremdsprachen in der Schule führe zur Vernachlässigung von für den «Werkplatz Schweiz» wichtigen Kompetenzen in Naturwissenschaften, Mathematik und Deutsch. Dabei wurde der «Werkplatz Schweiz» kurzerhand mit der Deutschschweiz gleichgestellt. Allerdings hat diese Behauptung auch in Bezug auf die gesamte Schweiz einen wahren Kern. Sprachen besitzen, ähnlich wie Währungen, unterschiedliche Werte. Aus dieser Perspektive ist in der Schweiz, unabhängig von der offiziellen Mehrsprachigkeit und Gleichstellung der Landessprachen, Deutsch die wertvollste Sprache. In der schulischen Sprachenpolitik sind die deutschsprachigen Kantone damit unvermeidlich in einer stärkeren Position und deshalb in ihren Entscheidungen freier als die nichtdeutschsprachigen.

Man kann es sich leisten
Das Ziel der interkantonalen Bildungspolitik seit den 1970er Jahren war es zwar, über die koordinierte Einführung und Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts diese unterschiedlichen Positionen auszugleichen. Trotzdem zeigten sich sowohl während der Verhandlungen als auch in der Umsetzung der gemeinsam beschlossenen Leitlinien gewichtige sprachregionale Unterschiede. Während in der Zentral- und Ostschweiz noch lange und ausführlich darüber diskutiert wurde, ob der Fremdsprachunterricht auf der Primarstufe für die Schulkinder zumutbar sei, hatte das Tessin bereits eine Reform zur Vorverlegung des Französischen auf die ersten Primarschuljahre zwecks verbindlicher Einführung des Deutschen als zweiter Fremdsprache hinter sich.

Die Opposition gegen diese grossen Reformprojekte blieb im Tessin und in der Romandie stets viel kleiner als in der deutschsprachigen Schweiz – auch vonseiten der Lehrerinnen und Lehrer. Der damit verbundene Bildungsanspruch wurde nicht infrage gestellt, obwohl man sich bewusst war, dass vielleicht nicht alle Kinder in der Lage seien, ihn zu erreichen.
Die deutschsprachige Schweiz kann es sich leisten, eine Überforderungsdebatte zu führen, die anderen Sprachregionen weniger. Die Antwort auf die Frage, ob Schulkinder beim Sprachenlernen überfordert seien oder nicht, spiegelt das Verhältnis der Sprachminderheiten zur -mehrheit. Schliesslich stand es weder im 19. noch im 20. Jahrhundert wirklich zur Debatte, ob die rätoromanischsprachigen Primarschüler in der Lage seien, so früh wie nur möglich Deutsch zu lernen. Genauso wenig stand es zur Debatte, Rätoromanisch in Schulen ausserhalb Graubündens zu lernen.

Anja Giudici ist Assistentin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Sandra Grizelj arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule FHNW.


1 Kommentar:

  1. Die verschiedenen Sprachregionen in der Schweiz haben unterschiedliche Bedürfnisse. Für einen Tessiner ist es ungleich wichtiger, Deutsch zu lernen, als für einen Deutschschweizer Italienisch. Es scheint mir aber zu vereinfachend, die Unterschiede in der Sprachenpolitik nur auf das Thema "Mehrheit-Minderheit" zu reduzieren. Es könnte ja auch sein, dass in der Deutschschweiz vermehrt pädagogische Sichtweisen zum Tragen kommen. Mir ist beispielsweise nicht bekannt, dass sich die Romands besser in Deutsch ausdrücken könnten als wir Deutschschweizer in Französisch - trotz des traditionell frühen Beginns des Deutschunterrichts. Im Gegenteil - der frühe Deutschunterricht scheint die Abneigung gegen diese Sprache noch zu verstärken.

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