Während in der Deutschschweiz immer wieder über das Fremdsprachenlernen
in der Schule abgestimmt wird, kommt es in der Romandie und im Tessin nicht zu
solchen Urnengängen. Wieso eigentlich nicht?
Überforderung als Luxusproblem, NZZ, 16.5. von Anja Giudici und Sandra Grizelj
Am 21. Mai entscheiden die Zürcher Stimmberechtigten, ob künftig nur
noch eine Fremdsprache auf Primarstufe unterrichtet werden soll – welche
Fremdsprache auf die Oberstufe verlegt werden würde, lässt die Initiative
offen. Auch in anderen Kantonen sind dieses Jahr ähnliche Vorlagen
traktandiert; die nächsten Abstimmungen stehen in Luzern und Basel-Landschaft
an. Immer wieder äusserte sich die Stimmbevölkerung in der Deutschschweiz zum
Fremdsprachenunterricht. Die Mehrheit der Schulkinder sei mit dem frühen
Sprachenlernen überfordert, lautet das gewichtigste Motiv der Initianten und
Befürworter entsprechender Vorlagen. Auffallend ist, dass in der Romandie und
im Tessin die direkte Demokratie bei der Frage der graduellen Einführung und
Vorverlegung zuerst einer und später zweier (im Tessin dreier) Fremdsprachen
während der obligatorischen Schulzeit nie bemüht wurde. Wieso eigentlich nicht?
Im Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds «Die
gesellschaftliche Konstruktion schulischen Wissens» wurde die Entwicklung des
schulischen (Fremd-)Sprachunterrichts in den letzten 150 Jahren untersucht.
Nimmt man in Bezug auf die (Nicht-)Einführung von Fremdsprachen in der Schule
eine vergleichende Perspektive ein, die explizit auch die Sprachminderheiten in
die Betrachtung einschliesst, dann werden starke sprach- und
regionalspezifische Besonderheiten sichtbar. Die Ergebnisse zeigen, dass
zwischen der Sprachmehrheit und den Sprachminderheiten ein starkes
Ungleichgewicht herrscht.
Geforderte Minderheiten
Mit der Annahme der Bundesverfassung von 1848 wurden in der Schweiz drei
Sprachen als «Nationalsprachen» anerkannt und formell gleichgestellt.
Rückblickend wird dieser Schritt oft als Aufwertung von Französisch und
Italienisch, den zwei grösseren Schweizer Minderheitensprachen, interpretiert.
Dies mag symbolisch so gewesen sein. Dennoch stärkten der 1848 eingeleitete
Zentralisierungsprozess und damit verbunden der Ausbau politischer
Institutionen auf eidgenössischer Ebene, die Einrichtung der ETH in Zürich und
später die Zentralisierung des Militärs den Stellenwert der deutschen Sprache
noch mehr. Auch innerhalb der Bundesverwaltung nahm man es mit der
Gleichstellung der Sprachen zunächst nicht so genau: Die meisten Texte
erschienen zuerst auf Deutsch und wurden anschliessend meist nur in ein
fehlerhaftes Französisch übersetzt. Seit den 1880er Jahren ist dafür der
Ausdruck «français fédéral» gebräuchlich.
All dies führte in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht dazu, dass die
Beteiligung an der Schweizerischen Eidgenossenschaft den Sprachminderheiten
mehr abverlangte als der deutschsprachigen Mehrheit.
Die Sprachverhältnisse zeigen sich schon früh in der schulischen
Sprachpolitik der Kantone. In den 1870er Jahren war in Genf die Zentralisierung
des Militärs und der Politik ein Hauptargument für die Einführung von Deutsch
als obligatorisches Primarschulfach. Für die Verteidigung der kantonalen
Interessen sei es verheerend, wenn sich die in die eidgenössischen Räte
entsandten Abgeordneten nicht verständlich machen könnten, argumentierten 1871
Abgeordnete im Genfer Parlament. In einer Demokratie war es nicht mehr nur die
mehrsprachige Elite, die den Kanton in den entscheidenden Gremien vertrat.
Graduell wurde in Genf der Deutschunterricht dann auch auf die ersten Primarschuljahre
vorverlegt. Anders verhielt es sich in der deutschsprachigen Schweiz. Weder das
Basler Ratsherrenregime noch das Schaffhauser Parlament taten sich in der Mitte
des 19. Jahrhunderts durch ihr nationalpolitisches Engagement hervor. Und doch
entschieden die Behörden, Französisch in der Oberstufe einzuführen. Darin
spiegelt sich aber nicht etwa eine besondere Wertschätzung für den
mehrsprachigen Bundesstaat oder für die Pflege von politischen Beziehungen zur
restlichen Schweiz. Vielmehr erachteten Eltern und Politiker in Basel und
Schaffhausen das Französisch als nützlich im Rahmen einer stark auf Frankreich
ausgerichteten Wirtschaft. Auch im deutschsprachigen Teil des Kantons Bern war
dies eines der Hauptargumente für den Französischunterricht.
Ein ähnliches, aber noch stärkeres Ungleichgewicht zeigt der Vergleich
mit der dritten Sprachminderheit. Im späten 19. Jahrhundert wuchs in der
Schweiz die Sorge um die jeweilige Muttersprache. Schülerinnen und Schüler
beherrschten diese zu wenig, weil sie schulisch überfordert seien, lautete die
Diagnose von Politikern und Pädagogen. Die Reformen dieser Zeit zielten deshalb
auf Entlastung über schlankere Lehrpläne von der Primarschule bis zum Gymnasium
ab. Um mehr Platz für die Pflege der Muttersprache zu schaffen, wurde auch das
Fremdsprachenobligatorium in Genf, Basel-Stadt und Schaffhausen wieder
abgeschafft.
Wo bleibt das Italienisch?
Auch das Tessiner Erziehungsdepartement folgte ähnlichen Überlegungen,
als es den Muttersprachunterricht in der Volksschule und 1880 im Gymnasium
ausbaute. Allerdings hielt dieser Entscheid nicht lange. Wenige Jahre später
entzog das eidgenössische Parlament die Finanzierung von Deutschkursen für
zukünftige ETH-Studenten. Die ETH-Leitung drohte, den Zugang zur damals einzigen
Bildungsanstalt des Bundes an eine Deutschprüfung zu koppeln. Dadurch sah sich
das Tessiner Erziehungsdepartement des damals noch universitätslosen Kantons
gezwungen, die Deutschlektionen im Gymnasium auszubauen. Ein paar Jahre später
wurden Deutsch und Französisch – zusätzlich zu Latein und, je nach
Maturitätstyp, weiteren Sprachen – für alle Tessiner Gymnasiasten
obligatorisch.
Als der Erste Weltkrieg die Spannungen zwischen den Sprachregionen
verschärfte, kam in der Politik die Forderung nach einer Verstärkung des
gegenseitigen Sprachenlernens auf. Tessiner Politiker nutzten die Gunst der
Stunde, um ihrerseits die Aufnahme von Italienisch schweizweit als
obligatorisches Maturitätsfach zu fordern. Wenn Tessiner Gymnasiasten in der
Lage seien, mindestens vier Sprachen gleichzeitig zu stemmen, warum sollte dies
für französisch- und deutschsprachige Gymnasiasten nicht möglich sein?, hiess
es etwa. Die Forderung setzte sich nicht durch. Der Bundesrat stellte 1938
klar, man wolle wegen des Italienischen weder das Latein noch die «bedeutende
Weltsprache» Englisch schwächen. Ausserdem sei der Gymnasiast nicht mit zu
vielen Sprachen zu überfordern, und das Schulprogramm dürfe nicht in eine
«verderbliche Oberflächlichkeit umschlagen».
Ähnliche Dynamiken zeigen sich für die Volksschule. In den 1930er Jahren
wurden die akademischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Mussolinis Italien
immer problematischer. Die Tessiner Behörden machten sich also daran, den
Zugang der Schüler und Schülerinnen zum eidgenössischen Arbeitsmarkt und zu den
Hochschulen über eine entsprechende Sprachenpolitik zu sichern. 1936 wurde
Französisch obligatorisches Fach der Primaroberstufe. Während des Zweiten
Weltkriegs diskutierte das Tessiner Parlament nunmehr beinahe jährlich darüber,
ob den Primarschülern (und den Lehrpersonen) nicht doch noch zusätzlich ein
paar Deutschlektionen zugemutet werden könnten.
Zeitgleich verhandelte die Erziehungsdirektorenkonferenz, ob sie sich
als Antwort auf die Forderungen nach mehr gegenseitigem Sprachenlernen
grundsätzlich für die Erprobung von Fremdsprachenlektionen in Primaroberstufen
aussprechen sollte. Das Gremium lehnte auch die unverbindlichste Formulierung
in diese Richtung ab. Die Mehrheit der Erziehungsdirektoren traute einem
grossen Teil der Schülerinnen und Schüler das Erlernen einer Fremdsprache
prinzipiell nicht zu. Die Primarschülerschaft, so der Zürcher
Erziehungsdirektor Hafner, sei «im Allgemeinen dafür nicht geeignet».
Ungleicher Wert der Sprachen
Rund 80 Jahre später, Anfang April 2017, erklärte anlässlich einer
Medienkonferenz ein Mitglied des Komitees der Zürcher Fremdspracheninitiative,
die zu starke Fokussierung auf Fremdsprachen in der Schule führe zur
Vernachlässigung von für den «Werkplatz Schweiz» wichtigen Kompetenzen in
Naturwissenschaften, Mathematik und Deutsch. Dabei wurde der «Werkplatz
Schweiz» kurzerhand mit der Deutschschweiz gleichgestellt. Allerdings hat diese
Behauptung auch in Bezug auf die gesamte Schweiz einen wahren Kern. Sprachen
besitzen, ähnlich wie Währungen, unterschiedliche Werte. Aus dieser Perspektive
ist in der Schweiz, unabhängig von der offiziellen Mehrsprachigkeit und
Gleichstellung der Landessprachen, Deutsch die wertvollste Sprache. In der
schulischen Sprachenpolitik sind die deutschsprachigen Kantone damit
unvermeidlich in einer stärkeren Position und deshalb in ihren Entscheidungen
freier als die nichtdeutschsprachigen.
Man kann es sich leisten
Das Ziel der interkantonalen Bildungspolitik seit den 1970er Jahren war
es zwar, über die koordinierte Einführung und Vorverlegung des
Fremdsprachenunterrichts diese unterschiedlichen Positionen auszugleichen.
Trotzdem zeigten sich sowohl während der Verhandlungen als auch in der
Umsetzung der gemeinsam beschlossenen Leitlinien gewichtige sprachregionale
Unterschiede. Während in der Zentral- und Ostschweiz noch lange und ausführlich
darüber diskutiert wurde, ob der Fremdsprachunterricht auf der Primarstufe für
die Schulkinder zumutbar sei, hatte das Tessin bereits eine Reform zur
Vorverlegung des Französischen auf die ersten Primarschuljahre zwecks
verbindlicher Einführung des Deutschen als zweiter Fremdsprache hinter sich.
Die Opposition gegen diese grossen Reformprojekte blieb im Tessin und in
der Romandie stets viel kleiner als in der deutschsprachigen Schweiz – auch
vonseiten der Lehrerinnen und Lehrer. Der damit verbundene Bildungsanspruch
wurde nicht infrage gestellt, obwohl man sich bewusst war, dass vielleicht
nicht alle Kinder in der Lage seien, ihn zu erreichen.
Die deutschsprachige Schweiz kann es sich leisten, eine
Überforderungsdebatte zu führen, die anderen Sprachregionen weniger. Die
Antwort auf die Frage, ob Schulkinder beim Sprachenlernen überfordert seien
oder nicht, spiegelt das Verhältnis der Sprachminderheiten zur -mehrheit.
Schliesslich stand es weder im 19. noch im 20. Jahrhundert wirklich zur
Debatte, ob die rätoromanischsprachigen Primarschüler in der Lage seien, so
früh wie nur möglich Deutsch zu lernen. Genauso wenig stand es zur Debatte,
Rätoromanisch in Schulen ausserhalb Graubündens zu lernen.
Anja Giudici ist Assistentin am Institut für Erziehungswissenschaft der
Universität Zürich. Sandra Grizelj arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin
an der Pädagogischen Hochschule FHNW.
Die verschiedenen Sprachregionen in der Schweiz haben unterschiedliche Bedürfnisse. Für einen Tessiner ist es ungleich wichtiger, Deutsch zu lernen, als für einen Deutschschweizer Italienisch. Es scheint mir aber zu vereinfachend, die Unterschiede in der Sprachenpolitik nur auf das Thema "Mehrheit-Minderheit" zu reduzieren. Es könnte ja auch sein, dass in der Deutschschweiz vermehrt pädagogische Sichtweisen zum Tragen kommen. Mir ist beispielsweise nicht bekannt, dass sich die Romands besser in Deutsch ausdrücken könnten als wir Deutschschweizer in Französisch - trotz des traditionell frühen Beginns des Deutschunterrichts. Im Gegenteil - der frühe Deutschunterricht scheint die Abneigung gegen diese Sprache noch zu verstärken.
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