26. April 2017

Nur eine Primarfremdsprache ergäbe Scherbenhaufen

Als der Thurgau letztes Jahr ankündigte, den Französischunterricht auf die Sekundarstufe zu verschieben, hagelte es Proteste. Seine Regierung lasse den Sprachenstreit eskalieren, hiess es beidseits des Röstigrabens ziemlich unisono. Die Übung wurde vertagt, der neue Lehrplan lässt vorläufig alles beim Alten, die Sprachenfrage ist auf den Marsch durch die parlamentarischen Instanzen verwiesen worden.
Früher bleibt besser, NZZ, 26.4. Kommentar von Walter Bernet

Was geschieht erst, wenn die Stimmberechtigten des grossen Kantons Zürich am 21. Mai wie die Thurgauer Regierung entscheiden? Und die Luzerner im September folgen? Es braucht wenig Vorstellungsvermögen, um sich das auszumalen. Die Zürcher Regierung hat deshalb angekündigt, im Falle eines Erfolges der Initiative «Mehr Qualität – eine Fremdsprache weniger in der Primarschule» das Englische auf die Sekundarstufe zu verschieben und mit Französisch zu beginnen. So will sie den Sprachenfrieden erhalten – wohlwissend, dass sie damit gründlich an den Präferenzen von Eltern, Kindern und Lehrern vorbeizielt. Französisch macht den Zürchern – und nicht nur ihnen – Mühe.

In der mehrsprachigen Schweiz ist das Erlernen von Fremdsprachen ein zentrales Thema der Volksschulen. Von den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts an setzte sich der Unterricht in einer zweiten Landessprache ab der Primarschule fast in allen Kantonen durch. Obligatorischer Englischunterricht auf der Oberstufe kam später dazu. Schon vor dem Millenniumswechsel wuchs in einigen Kantonen der Druck, diesen Unterricht in die Primarschule vorzuverlegen. Gestützt wurde die Forderung durch Erkenntnisse der damaligen Sprachlernforschung und durch die Entwicklung des Englischen zur Lingua franca der Wirtschaft und der Wissenschaft.

Zu den Vorreitern gehörte der Kanton Zürich, der unter Erziehungsdirektor Ernst Buschor unter lautem Protest aus der Westschweiz Frühenglisch einführte. Es gelang den schweizerischen Erziehungsdirektoren 2004, mit einer gemeinsamen Sprachenstrategie den Streit beizulegen. Man einigte sich auf zwei Fremdsprachen in der Primarschule und eine regionale Koordination der Einstiegssprache. Ziel war es, das Lernen aller Sprachen zu verbessern, das Potenzial der Mehrsprachigkeit und des frühen Sprachenlernens besser zu nutzen und sich damit im europäischen Vergleich auszuzeichnen. Kritik daran gab es sofort. Die Lehrerschaft machte ihre Unterstützung von genügend Weiterbildung, geeigneten Lehrmitteln und ausreichenden Ressourcen, zum Beispiel für Halbklassenunterricht, abhängig. Aber alle fünf Volksinitiativen gegen diese Neuerungen scheiterten 2006 und 2007. Inzwischen ist die Umsetzung des Konzepts, nach dem Fremdsprachen spätestens in der dritten und in der fünften Klasse eingeführt werden, in 22 Kantonen umgesetzt.

Ausgeblendete Lebenswelt
Und jetzt soll Zürich jenen Kräften Vorschub leisten, die diesen Zug zur Umkehr zwingen wollen. Gewiss ist heute eine starke Ernüchterung angesichts der übertriebenen Erwartungen von damals festzustellen. Korrekturen sind angebracht und ins Auge gefasst. Den Initianten der erwähnten neuen Volksinitiativen geht dieser Befund aber viel zu wenig weit. Für sie ist der Fremdsprachenunterricht nach dem Modell der Erziehungsdirektoren ein gescheitertes Experiment, das es schleunigst abzubrechen gelte. Zentrale Argumente sind die Überforderung vieler Kinder und die mangelhafte Effizienz des frühen Fremdsprachenunterrichts. In Französisch, so die Initianten aus der Lehrerschaft, erreichen zu viele Kinder die Lernziele nicht. Und Englisch lernten die Schüler auf der Oberstufe so viel schneller als in der Primarschule, dass man auf den frühen Unterricht ohne weiteres verzichten könne. Die in der Mittelstufe gewonnenen Stunden wollen sie für besseres Deutsch, für Mathematik und Informatik einsetzen. Was dafür in der Sekundarstufe gestrichen würde, bleibt offen. Während sich im Kanton Zürich die Lehrerverbände 2006 gegen die damalige Fremdspracheninitiative ausgesprochen hatten, weil man noch nicht über genügend Erfahrung verfüge, wird die Kampagne nun von ebendiesen Verbänden angeführt. Die Politiker bleiben im Hintergrund. Dahinter steht die Erwartung, dass die Meinung der Praktiker von den Stimmbürgern eher erhört wird als jene einer Minderheit von Politikern, die seit langem vergeblich gegen alle möglichen Reformen im Schulbereich ankämpfen. Der Seitenwechsel vieler Lehrkräfte hat einen Grund: Sie haben die Hoffnung auf wirksame Verbesserungen der Rahmenbedingungen für den Fremdsprachenunterricht verloren, weil die Politik in Zeiten der Sparzwänge dafür keine Mittel aufwenden will.

Das ist ernst zu nehmen. Dahinter steht aber eine sehr schulbezogene, an Leistungsmessungen und Stundentafel-Arithmetik orientierte Optik. Ausgeblendet ist die Lebenswelt der Schüler, die schon im Primarschulalter voller Bezüge zum Fremdsprachenunterricht ist. Unterschlagen werden über die reine Sprachkompetenz hinausgehende Unterrichtsziele wie die Begegnung mit den Eigenheiten und der Kultur anderer Landesgegenden. Unberücksichtigt bleibt, dass mancher Lehrling in der Berufsausbildung in den Fremdsprachen keine oder nur eine mangelhafte weitere Förderung erfährt. Nicht umsonst setzt sich der Zürcher – nicht aber der Luzerner – Gewerbeverband entschieden für zwei Fremdsprachen in der Primarschule ein. Ausgerechnet die sonst gegenüber der fragwürdigen «Vermessung der Bildung» skeptischen Lehrerverbände fechten jetzt für ihr Anliegen mit dem Killerargument früherer Reform-Turbos: der Effizienz.

Erfolgreiches Frühenglisch
Zu diesem Zweck werden Zahlen aus neuen Aargauer und Zentralschweizer Studien ins Feld geführt, die in der Tat belegen, dass der Fremdsprachenunterricht der Volksschule bezüglich Lernerfolg Luft nach oben hat. Das gilt aber vor allem für den Französischunterricht. Fasst man die Ergebnisse so knapp wie möglich zusammen, lauten sie: Erstens: Je mehr Lektionen insgesamt, desto grösser die erworbene Sprachkompetenz. Zweitens: Auf der Sekundarstufe machen Schülerinnen und Schüler schneller Fortschritte, allerdings vor allem die besseren. Drittens: Während der Lernerfolg in Englisch ungefähr jenem in andern Fächern wie Deutsch oder Mathematik entspricht, haben die Kinder und Jugendlichen mit Französisch mehr Mühe. Nicht nur der Lernerfolg, auch die Motivation der Schüler (und Lehrer) ist in Englisch deutlich höher.

Die Ergebnisse belegen zwar durchaus, dass gute Schüler die Fremdsprachen-Lernziele der Volksschule mit weniger Aufwand erreichen können, wenn der Unterricht erst auf der Oberstufe beginnt. Der frühe Beginn lohnt sich aber für jene Schüler, die in der Lehre keine weitere sprachliche Förderung mehr geniessen. Falsch ist die oft zu hörende Aussage, dass die Schüler, die erst in der Sekundarschule mit Englisch begännen, ihren Rückstand gegenüber ihren Kollegen mit Frühenglisch nach einem halben Jahr aufgeholt hätten. Die Aargauer Studie schätzt, dass dafür nach Abschluss der Volksschule weiterführender Englischunterricht während eines Zeitraums von einem halben bis zu einem ganzen Jahr nötig wäre.

Der Vergleich von Aufwand und Ertrag ist mit so vielen Unwägbarkeiten behaftet, dass er als schlagendes Argument für die Verlegung einer Fremdsprache in die Sekundarschule untauglich ist. Vollends zur Makulatur würde er, wenn das in Zürich ungeliebte Französisch zur Erstsprache erklärt würde. Mit gleichem Recht könnte man aus den Studien die Forderung ableiten, in der Volksschule ganz auf den obligatorischen Französischunterricht zu verzichten, weil – anders als in Englisch – ein ansehnlicher Teil der Schüler das angestrebte Niveau nicht erreicht. Das aber will nicht einmal der Kanton Thurgau. Es ist offensichtlich, dass schulisches Sprachenlernen seine Grenzen hat. Das gilt ja auch für das Gymnasium. Kein Fremdsprachenunterricht ersetzt einen Sprachaufenthalt. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, ganz auf ihn zu verzichten.

Wo die pädagogische Evidenz fehlt, muss nach anderen Kriterien entschieden werden. Der Unwille der Lehrkräfte gehört nicht dazu. Hingegen ist der sprachpolitische Frieden in einem Land, dessen Wille zur Einheit auf seiner kulturellen Vielfalt und seiner Mehrsprachigkeit fusst, von erheblicher Bedeutung. Es wäre beileibe nicht klug, wenn im Mai ausgerechnet der Kanton Zürich, der seinerzeit mit seinem Vorpreschen beim Frühenglisch den Sprachenstreit ausgelöst hat, den gefundenen Kompromiss und in letzter Konsequenz wohl auch das 2008 vom Volk genehmigte Harmos-Konkordat auseinanderbrechen liesse. Millionen sind seither in den frühen Sprachunterricht geflossen, die Fremdsprachendidaktik hat aus den Erfahrungen – auch jenen der Lehrkräfte – gelernt. So steht das umsichtig erarbeitete neue Französischlehrmittel «Dis donc!» in mehreren Kantonen vor der Einführung. Ein Abbruch der Übung zum jetzigen Zeitpunkt wäre nicht das Ende eines gescheiterten Experiments, sondern die Ursache eines Scherbenhaufens.


1 Kommentar:

  1. LESERBRIEF an die NZZ:

    Harmonisierung der Ziele, nicht Gleichschaltung

    Die Stimmbürger haben dem Bund nur das Recht eingeräumt, gemeinsame Ziele festzulegen. Wie die Ziele erreicht werden, ist immer noch Sache der Kantone. Es ist längst wissenschaftlich erwiesen, dass die Fremdsprachen in der Oberstufe effizienter gelernt werden können und dass für einen erfolgreichen Zweitspracherwerb zuerst die Muttersprache beherrscht werden muss. Letzteres ist nur möglich, wenn es in der Primarstufe genügend Stunden für den Deutschunterricht gibt, was heute leider in den meisten Kantonen nicht mehr der Fall ist. Der Bund hat vom Volk nur die
    Kompetenz zur Harmonisierung und nicht zur Gleichschaltung erhalten, wie er das nun auch mit dem Lehrplan 21 am Volk vorbei anstrebt. Wem man bei der Schule sparen will, muss man hier ansetzen: Mit den Frühfremdsprachen werden Millionen von Steuergelder in den Sand gesetzt, weil es keinen Langzeiteffekt gibt.

    AntwortenLöschen