Die Thurgauer machen es sich nicht leicht mit dem
Entscheid um das Frühfranzösisch. In David Angsts Gedanken zum Thema (ThurgauerZeitung vom 29.4.) fehlt aber der entscheidende Punkt: Es geht hier nicht um
Staatspolitik – es geht um die Kinder. Sie
sind dem Staat (noch) nichts schuldig – im Gegenteil: In Schulfragen ist der
Staat verpflichtet, den Kindern möglichst gute Bedingungen zu schaffen. Dazu
möchte ich drei Punkte herausgreifen.
Es kann nicht sein, was nicht sein darf. 30.4. von Urs Kalberer
1. Viele Politiker (und Journalisten) verbreiten
blindlings die Position der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), indem sie
behaupten, es gäbe für eine Verschiebung des Fremdsprachenunterrichts keine
eindeutigen Anhaltspunkte. Doch diese gibt es sehr wohl. Die EDK bestellte
bekanntlich in Dänemark eine Auftragsstudie zum Fremdsprachenunterricht. Trotz
des gewählten Fokus der Studie, deren Fragestellungen für unsere
Sprachensituation weitgehend irrelevant sind und trotz der Ausklammerung des
spezifisch schweizerischen Kontextes mit Schweizerdeutsch und einem hohen
Anteil von Migrantensprachen kommt die Studie zum Schluss, dass hinsichtlich
des Starts des Fremdsprachenunterrichts ein späterer Beginn vorteilhaft sei. Ausserdem hält sie fest: „Je älter die
Schüler beim Start einer Drittsprache sind, desto besser schneiden sie an
Leistungsüberprüfungen ab“. Dazu
gehört das in vielen Studien nachgewiesene höhere Lerntempo von älteren
Lernern, die die jungen trotz der höheren Unterrichtszeit bald ein- und
überholen. Ältere Lernende schneiden auch bezüglich des Lernstands über lange
Sicht besser ab. Ebenfalls unbestritten
ist die Bedeutung der Muttersprache für das Erlernen von Fremdsprachen. Kritische
Untersuchungen aus der Schweiz werden entweder ignoriert (Analyse Berthele/Lambelet, Universität Fribourg)
oder diffamiert (Studie Pfenninger, Universität Zürich). Die Stellungnahmen namhafter Exponenten der Bildungsforschung und Politik
lassen den Schluss zu, dass hier die wissenschaftlichen Fakten massiv
zurechtgebogen wurden und werden.
2. David Angst spricht davon, dass bei einem Wegfall
des Primarfranzösischen „zwingend“ mehr Lektionen Französisch auf die Oberstufe
verlegt werden müssen. Das bedeutet aber nicht, dass alle wegfallenden Lektionen
aus der Primarschule in der Oberstufe kompensiert werden müssten. Die
Nachhaltigkeit des Primarfranzösischen ist dermassen gering, dass es auch ohne
zusätzliche Lektionen gelänge, dasselbe Sprachniveau zu erreichen. Vor allem,
wenn man die kumulierten Frustrationen aufgrund des umstrittenen didaktischen
Ansatzes mitberücksichtigt. Um auf der sicheren Seite zu sein, würde je eine
zusätzliche Lektion in der 1. und 2. Oberstufe ganz sicher zum besten Niveau
der Ostschweiz reichen – vorausgesetzt die Kompetenz der Lehrpersonen und die
Klassengrösse seien vergleichbar. Eine Verlegung des Französischen an die
Oberstufe ist also kein Abbau, sondern wird zu markant höheren Kenntnissen und
Fähigkeiten führen. Dagegen können auch unsere welschen Compatriotes nichts einwenden.
3. Die Westschweiz ist noch immer befangen im
veralteten Glauben, wonach der Zeitpunkt der entscheidende Faktor beim
Sprachenerwerb sei - je früher desto besser. Doch seit Jahrzehnten wartet die
Forschung auf Erkenntnisse, welche auf langfristige Erfolge beim frühen
Fremdsprachenlernen hinweisen. Die grösste dazu in verschiedenen europäischen
Ländern durchgeführte Studie kam zum ernüchternden Schluss, dass die Schüler unabhängig
von der Anzahl der Unterrichtsjahre in der Primarschule nicht über das
elementarste Niveau A1 hinauskamen. Das einzige Argument für Frühfranzösisch
ist demnach, „wir tun es, weil es die anderen auch so machen“. In einem
föderalistischen Staatswesen, das jedem Kanton bildungspolitische Freiheit
zusichert, ist diese Haltung nicht nachvollziehbar. Entgegen den von Angst geschilderten Befürchtungen
stünde der Thurgau nicht alleine da: Neben Appenzell Innerrhoden verzichtet
auch Uri auf Primarfranzösisch, der Aargau beginnt in der 6. Primar, in Zürich,
Luzern und Graubünden sind Volksentscheide zu den Primarfremdsprachen hängig. Auch
die Westschweiz kann den Thurgau nicht zu einem ineffizienten und teuren
Sprachenkonzept zwingen, das dafür sorgt, dass viele Schulkinder bereits beim
Eintritt in die Oberstufe die Köpfe hängen lassen.
Letztlich geht es hier wie oben erwähnt nicht in
erster Linie um eine staatspolitische, sondern um eine pädagogische Frage. Wir
sind es den Kindern schuldig, ihnen die Voraussetzungen für gelingenden Unterricht
bereitzustellen. Das bedingt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht länger
verleugnet oder zurechtgebogen werden. Ausserdem soll man die katastrophalen
Erfahrungen mit den Frühfremdsprachen in der Schweiz – umstrittene Methode,
ungenügende Lehrmittel, fehlgeleitete Ausbildung - schonungslos zur Kenntnis
nehmen und die entsprechenden Schlüsse ziehen. Schliesslich geht es darum, der
Westschweiz endlich zu erklären, dass es verschiedene Wege gibt, das
Zusammengehörigkeitsgefühl in der Schweiz zu fördern. Diese Frage auf dem Buckel
der Schulkinder (und ihrer Eltern) auszutragen und souveränen Kantonen zu
drohen oder sie zu erpressen, liegt einfach nicht mehr drin.
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