30. April 2017

Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Die Thurgauer machen es sich nicht leicht mit dem Entscheid um das Frühfranzösisch. In David Angsts Gedanken zum Thema (ThurgauerZeitung vom 29.4.) fehlt aber der entscheidende Punkt: Es geht hier nicht um Staatspolitik –  es geht um die Kinder. Sie sind dem Staat (noch) nichts schuldig – im Gegenteil: In Schulfragen ist der Staat verpflichtet, den Kindern möglichst gute Bedingungen zu schaffen. Dazu möchte ich drei Punkte herausgreifen.
Es kann nicht sein, was nicht sein darf. 30.4. von Urs Kalberer

1. Viele Politiker (und Journalisten) verbreiten blindlings die Position der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), indem sie behaupten, es gäbe für eine Verschiebung des Fremdsprachenunterrichts keine eindeutigen Anhaltspunkte. Doch diese gibt es sehr wohl. Die EDK bestellte bekanntlich in Dänemark eine Auftragsstudie zum Fremdsprachenunterricht. Trotz des gewählten Fokus der Studie, deren Fragestellungen für unsere Sprachensituation weitgehend irrelevant sind und trotz der Ausklammerung des spezifisch schweizerischen Kontextes mit Schweizerdeutsch und einem hohen Anteil von Migrantensprachen kommt die Studie zum Schluss, dass hinsichtlich des Starts des Fremdsprachenunterrichts ein späterer Beginn vorteilhaft sei. Ausserdem hält sie fest: „Je älter die Schüler beim Start einer Drittsprache sind, desto besser schneiden sie an Leistungsüberprüfungen ab“. Dazu gehört das in vielen Studien nachgewiesene höhere Lerntempo von älteren Lernern, die die jungen trotz der höheren Unterrichtszeit bald ein- und überholen. Ältere Lernende schneiden auch bezüglich des Lernstands über lange Sicht besser ab.  Ebenfalls unbestritten ist die Bedeutung der Muttersprache für das Erlernen von Fremdsprachen. Kritische Untersuchungen aus der Schweiz werden entweder ignoriert (Analyse Berthele/Lambelet, Universität Fribourg) oder diffamiert (Studie Pfenninger, Universität Zürich). Die Stellungnahmen namhafter Exponenten der Bildungsforschung und Politik lassen den Schluss zu, dass hier die wissenschaftlichen Fakten massiv zurechtgebogen wurden und werden.  

2. David Angst spricht davon, dass bei einem Wegfall des Primarfranzösischen „zwingend“ mehr Lektionen Französisch auf die Oberstufe verlegt werden müssen. Das bedeutet aber nicht, dass alle wegfallenden Lektionen aus der Primarschule in der Oberstufe kompensiert werden müssten. Die Nachhaltigkeit des Primarfranzösischen ist dermassen gering, dass es auch ohne zusätzliche Lektionen gelänge, dasselbe Sprachniveau zu erreichen. Vor allem, wenn man die kumulierten Frustrationen aufgrund des umstrittenen didaktischen Ansatzes mitberücksichtigt. Um auf der sicheren Seite zu sein, würde je eine zusätzliche Lektion in der 1. und 2. Oberstufe ganz sicher zum besten Niveau der Ostschweiz reichen – vorausgesetzt die Kompetenz der Lehrpersonen und die Klassengrösse seien vergleichbar. Eine Verlegung des Französischen an die Oberstufe ist also kein Abbau, sondern wird zu markant höheren Kenntnissen und Fähigkeiten führen. Dagegen können auch unsere welschen Compatriotes nichts einwenden.

3. Die Westschweiz ist noch immer befangen im veralteten Glauben, wonach der Zeitpunkt der entscheidende Faktor beim Sprachenerwerb sei - je früher desto besser. Doch seit Jahrzehnten wartet die Forschung auf Erkenntnisse, welche auf langfristige Erfolge beim frühen Fremdsprachenlernen hinweisen. Die grösste dazu in verschiedenen europäischen Ländern durchgeführte Studie kam zum ernüchternden Schluss, dass die Schüler unabhängig von der Anzahl der Unterrichtsjahre in der Primarschule nicht über das elementarste Niveau A1 hinauskamen. Das einzige Argument für Frühfranzösisch ist demnach, „wir tun es, weil es die anderen auch so machen“. In einem föderalistischen Staatswesen, das jedem Kanton bildungspolitische Freiheit zusichert, ist diese Haltung nicht nachvollziehbar.  Entgegen den von Angst geschilderten Befürchtungen stünde der Thurgau nicht alleine da: Neben Appenzell Innerrhoden verzichtet auch Uri auf Primarfranzösisch, der Aargau beginnt in der 6. Primar, in Zürich, Luzern und Graubünden sind Volksentscheide zu den Primarfremdsprachen hängig. Auch die Westschweiz kann den Thurgau nicht zu einem ineffizienten und teuren Sprachenkonzept zwingen, das dafür sorgt, dass viele Schulkinder bereits beim Eintritt in die Oberstufe die Köpfe hängen lassen.  


Letztlich geht es hier wie oben erwähnt nicht in erster Linie um eine staatspolitische, sondern um eine pädagogische Frage. Wir sind es den Kindern schuldig, ihnen die Voraussetzungen für gelingenden Unterricht bereitzustellen. Das bedingt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht länger verleugnet oder zurechtgebogen werden. Ausserdem soll man die katastrophalen Erfahrungen mit den Frühfremdsprachen in der Schweiz – umstrittene Methode, ungenügende Lehrmittel, fehlgeleitete Ausbildung - schonungslos zur Kenntnis nehmen und die entsprechenden Schlüsse ziehen. Schliesslich geht es darum, der Westschweiz endlich zu erklären, dass es verschiedene Wege gibt, das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Schweiz zu fördern. Diese Frage auf dem Buckel der Schulkinder (und ihrer Eltern) auszutragen und souveränen Kantonen zu drohen oder sie zu erpressen, liegt einfach nicht mehr drin. 

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