Der Streit um die Einführung des Unterrichtsfachs «Ethik, Religion,
Gemeinschaft» (ERG) treibt bisweilen seltsame Blüten: So soll die Katechetin in
einer St.Galler Gemeinde ihren Schülern Schokolade verteilt und an die «schöne
gemeinsame Zeit» erinnert haben, als sie die Anmeldetalons austeilte.
Offenbarbar hat die Schokoladenaktion gefruchtet, denn prompt setzte die
Mehrheit der beschenkten Kinder das Kreuzchen für den «ERG-Kirche».
In einigen St.Galler Gemeinden hat das Buhlen um die Schülergunst
begonnen. Hört man sich im Kanton um, dann gab es nicht nur seitens der Kirchen
solche Werbeaktionen. Teils haben auch Schulen Merkblätter verteilt, ohne die
Kirchen mit ins Boot zu nehmen.
Schokolade für die Kirche, St. Galler Tagblatt, 2.3. von Roman Hertler
St.Galler Sonderlösung irritiert
Der Hintergrund: Für das kommende Schuljahr, wenn der Lehrplan 21
eingeführt wird, müssen sich die Schüler gemäss kantonalen Vorgaben
entscheiden, ob sie künftig «ERG-Schule» oder «ERG-Kirche» besuchen möchten.
Der Lehrplan 21 heisst in seiner St.Galler Ausführung «Lehrplan Volksschule».
Und auch was das darin vorgesehene neue Fach ERG betrifft, hat St.Gallen eine
schweizweit einzigartige Lösung kreiert: ERG soll nämlich den
«Interkonfessionellen Religionsunterricht» (Ikru), der bisher von den
Landeskirchen getragen wurde, ersetzen. Gemäss Lehrplan 21 obläge die Verantwortung
für den ERG-Unterricht neu den Schulen. Diesen Einflussverlust wollten die
hiesigen Landeskirchen, die traditionell stärker im Kanton verankert sind als
in anderen Kantonen, nicht einfach hinnehmen. Flugs setzten sie eine
Steuerungsgruppe aus katholischen und evangelisch-reformierten Vertretern ein
und machten ihre Ansprüche bei Regierung und Erziehungsrat geltend. Ihr
Vorschlag, den ERG-Unterricht in zwei Varianten aufzuteilen und die Schüler
entscheiden zu lassen, wurde vom Regierungsrat wohlwollend aufgenommen. Nicht
zuletzt auch deshalb, weil die Kirchen den religionskundlichen Unterricht seit
Jahren mittragen, finanzieren und Lehrer ausbilden. «Dem Religionsunterricht
wurde im interkantonalen Lehrplan 21 kein Platz eingeräumt und die schulischen
Aktivitäten der Kirchen quasi zur Privatsache erklärt», schreibt das
Bildungsdepartement auf Anfrage. Der Bildungsauftrag der St.Galler Volksschule
bekenne sich jedoch seit jeher zu den christlichen Werten. Das habe sich
insbesondere auch so ausgewirkt, dass in den bisherigen Lehrplänen und in den
Stundenplänen der kirchliche Religionsunterricht mitenthalten ist – immer unter
Wahrung der verfassungsmässigen Religionsfreiheit. «Die unkorrigierte Übernahme
der Lehrplanvorlage in den Kanton St.Gallen hätte daher einen Bruch mit der
bewährten kantonalen Tradition bedeutet», heisst es beim Bildungsdepartement.
Dazu habe kein Anlass bestanden.
Allerdings löste der Entscheid zur Zweiteilung des ERG-Unterrichts teils
Irritationen aus. In St.Gallen etwa empörten sich einige Eltern, dass ihre
evangelisch-reformierten Kinder gezwungen würden, «ERG-Kirche» zu wählen, um
zur Konfirmation zugelassen zu werden (Ausgabe vom 24. Februar). Und in Wil
wussten die Eltern lange nicht, ob sie jetzt ihre Kinder für den Religionsunterricht
(RU) – der bleibt gemäss Lehrplan bestehen – auch noch extra anmelden müssen.
Aus kirchenpädagogischen Kreisen ist zu vernehmen, dass die neuen Regelungen
nicht zu Ende gedacht waren und es geheissen habe: «Setzt einfach mal um.»
SP-Kantonsrat Ruedi Blumer, Schulleiter in Wil, kann ebenfalls nicht
viel Verständnis für die St.Galler Sonderlösung aufbringen. Er hat eine
entsprechende Interpellation bei der Regierung deponiert. «Es ist pädagogisch
unsinnig, Klassen in genau jenem Fach aufzusplitten, in dem ‹Gemeinschaft›
vermittelt werden soll», sagt er. «Wir wollen die Kirchen nicht ausbooten, der
konfessionelle Religionsunterricht ist unbestritten. Aber der Ethikunterricht
ist Sache der Schule.» In Blumers Augen habe es sich schon beim – von den Kirchen
getragenen – Ikru um Ethikunterricht gehandelt. Für ihn als Schulleiter sei
klar gewesen: Vom Ikru sei niemand aufgrund seiner Konfession oder gar seiner
Religion dispensiert worden. Das habe immer gut funktioniert.
«ERG ist mehr als Ethikunterricht»
Bei den Landeskirchen vertritt man eine andere Auffassung darüber, was
der ERG-Unterricht ist und soll. «Das bisherige Fach Ikru und das neue Fach ERG
als reinen Ethikunterricht zu bezeichnen, ist verkürzt», sagt Martin Schmidt,
Kirchenratspräsident der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St.Gallen.
Im ERG finde nebst den ethischen Aspekten vor allem auch ein
religionskundlicher Unterricht statt – unabhängig ob von der Schule oder der
Kirche. Aber: «Die Hinführung zur Kirche und missionarische Tätigkeit haben im
ERG-Unterricht nichts zu suchen», räumt Schmidt ein. «Die Vermittlung
christlicher Werte ganz ohne die Kirchen ist jedoch unvollständig.» Auch Armin
Bossart, Präsident des Kirchenverwaltungsrats St.Gallen, vertritt diese
Ansicht: «Kenntnis über die christlichen Werte, über Ethik und über die
europäische Kultur sind wesentliche Elemente einer jeden Bildung,
unverzichtbarer Grundstein für das spätere Leben und Voraussetzung für das
Wohlergehen unserer Gesellschaft.»
Einvernehmlicher Pragmatismus am
Obersee
Abseits der Rangeleien um Schülerzahlen, Deutungshoheiten und
bildungspolitischen Kompetenzgerangels sehen sich einige Schulgemeinden
angesichts der Zweiteilung des ERG-Unterrichts vor handfeste Probleme gestellt.
Denn sie sind es, die die kantonalen Richtlinien umsetzen müssen. In
Rapperswil-Jona reagieren Kirchen und Behörden pragmatisch. Einvernehmlich wird
dort auf das Angebot zweier ERG-Varianten auf Primarschulstufe verzichtet.
Niklaus Popp, Pastoralassistent der katholischen Kirche Rapperswil-Jona, ist
Mitglied der Arbeitsgruppe Schule-Kirche, die in der Rosenstadt für die
Einführung des ERG-Unterrichts zuständig ist. Man habe schon früh und ausgiebig
diskutiert, so Popp, und sich dann dafür entschieden, die Kinder und Eltern auf
Primarstufe nicht wählen zu lassen, sondern nur «ERG-Schule» anzubieten.
Organisatorisch wäre eine Zweiteilung schwierig geworden. In Rapperswil-Jona
war es bisher so, dass über drei Viertel der Ikru-Unterrichtsstunden von
Volksschullehrern – finanziert durch die Kirchen – erteilt wurden. «Wir hätten
gar nicht das Personal für das neue Fach ‹ERG-Kirche›», sagt Popp. Zudem ist
auch er der Ansicht, dass in diesem Fach, welches Gemeinschaft vermitteln soll,
die Klassen nicht aufgeteilt werden sollten. In Rapperswil-Jona habe man bisher
gute Erfahrungen gemacht mit dem Ikru-Unterricht, der nicht nur
interkonfessionell, sondern bisweilen auch interreligiös war. In der Stadt am
Obersee ist man sich bewusst, dass man sich mit dem Verzicht auf die
Zweiteilung im Grunde über kantonale Vorgaben hinwegsetzt. «Im
Informationsschreiben an die Eltern haben wir aber darauf hingewiesen, dass
jene, die auf das Angebot eines ‹ERG-Kirche› bestehen, sich melden können»,
sagt Popp. «Dann hätten wir selbstverständlich reagiert.» Gemeldet hat sich bis
heute niemand.
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