Film als Schulstoff wird
immer dringender. Doch das Thema zwischen Bildungspolitik und Kulturförderung
droht aus dem Raster zu fallen.
Soll Film ein Schulfach werden? Schweiz am Sonntag, 16.1. von Lory Roebuck
Flimmern überall. Ob im Kino, auf unserem Handy, vor
dem Fernseher oder in den grossen Einkaufsstrassen der Weltmetropolen – von
allen Seiten prasseln bewegte Bilder auf uns ein. Ein unaufhörliches
Bombardement an Sinneseindrücken. Wir sehen, wir nehmen wahr, wir empfinden.
Verstehen wir auch? Wenn nicht, dann drohen wir in der Bilderflut zu ertrinken,
dann sind wir filmische Analphabeten.
Um Bilder lesen zu können, um sie zu verstehen,
müssen wir zuerst ihre Sprache lernen. Wir müssen lernen, dass bewegte Bilder
genau wie Sprache aus Bausteinen zusammengesetzt sind, die, anders arrangiert,
eine andere Bedeutung erzeugen können. Bloss: In der Schule lernen wir das
nicht. Und das könnte ein Fehler sein. Schüler lesen und diskutieren während
des Unterrichts Goethe, Dürrenmatt, Shakespeare – wichtig, zweifellos –, doch
in den Pausen und zu Hause schauen sie Youtube, Filme, Serien. Stundenlang.
Literatur wird im Unterricht kritisch reflektiert, Film dagegen bloss
konsumiert.
Die Forderung nach Film als einem festem
Bestandteil des Schulunterrichts wird aber immer lauter. Das Stichwort heisst
Filmbildung. «Ziel der Filmbildung ist es nicht, nur den Inhalt eines Films zu
verstehen, sondern auch die filmische Sprache und seine Gestaltungsmittel»,
erklärt John Wäfler der «Schweiz am Sonntag». Der Basler hat vor 15 Jahren das
Wanderkino Roadmovie gegründet, das durch Schweizer Dörfer fährt und dort
Primarschülern Schweizer Filme vorführt – samt Unterrichtsmaterial.
Filme lesen und machen
Wäfler ist einer der Initianten des Panels
«Filmbildung jetzt!» an den Solothurner Filmtagen, an dem Experten auch aus
Deutschland, Frankreich und Grossbritannien teilnehmen werden. Die EU, sagt
Wäfler, sei der Schweiz in der Filmbildung voraus. So hat eine Expertengruppe
unter der Leitung des Briten Mark Reid – einer der Podiumsgäste in Solothurn –
im Auftrag der EU den Bericht «A Framework for Film Education» verfasst.
Er enthält konkrete Vorschläge für Behörden und Lehrkräfte mit dem Ziel, Film
zum festen Bestandteil des Unterrichts zu machen. Schulklassen sollen dabei
nicht nur lernen, wie man Filme liest, sondern auch, wie man sie schreibt –
sprich: macht.
Anhand eines Beispiels erklärt John Wäfler, weshalb
man Letzteres nicht unterschätzen darf: «Bei Bewerbungen in den USA – und wohl
bald auch bei uns – werden Videos immer wichtiger. Du schreibst nicht mehr nur
einen Text, sondern drehst einen Film, in dem du dich vorstellst. Ob du einen
guten Eindruck hinterlässt, hängt – wie bei einer schriftlichen Bewerbung –
auch von einer guten Gestaltung ab.»
Mangelhafte Koordination
Bei uns gebe es keine übergreifenden Massnahmen wie
in der EU, sagt Wäfler. Der wichtigste Akteur beim Thema Filmbildung auf
nationaler Ebene ist das Bundesamt für Kultur (BAK), das sich um die
Filmförderung in der Schweiz kümmert. Um die Förderung anderer Kultursparten
dagegen kümmert sich die Kulturstiftung Pro Helvetia. Für die Filmbildung sei
das bisweilen ein Nachteil, findet Wäfler: «Pro Helvetia hat vor einigen Jahren
ein eigenes Programm zur Stärkung und Vernetzung der Kulturvermittlung
lanciert. Da ist wahnsinnig viel gegangen.» Nicht so beim Film, der von Pro
Helvetia nicht gefördert wird.
Ivo Kummer, Leiter der Sektion Film beim BAK, ortet
das Hauptproblem in der Schweizer Filmbildung noch anderswo: «Was ist
Schulstoff und was nicht? Hier fällt der Film zwischen Stuhl und Bank. Er ist
im Lehrplan nicht vorgesehen und findet innerhalb der Medienkunde dann
teilweise doch statt.»
Ist Filmbildung eine kulturpolitische oder eine
bildungspolitische Angelegenheit? Fast scheint es, als würde die Zuständigkeit
wie eine heisse Kartoffel zwischen den beiden Seiten hin- und hergeschoben.
John Wäfler erklärt: «Es liegt oft nicht nur an der Sache selbst, sondern auch
am Spardruck, dem Bund und Kantone ausgesetzt sind. Jeder versucht, dem anderen
die Aufgaben zuzuschieben.»
Bildungspolitik ist eine kantonale Angelegenheit.
Deshalb, sagt Ivo Kummer, kann sich das BAK punkto Filmvermittlung vor allem um
Aktivitäten kümmern, die ausserhalb der Klassenzimmer stattfinden. Zum Beispiel
mit finanziellen Beiträgen an Festivalprogramme für Schüler, oder an
Projekte wie Roadmovie, sowie an Unterrichtsmaterial. «Wir sitzen zwar in einer
Zwickmühle, sind aber aktiv», bilanziert Kummer.
Auf Kantonsebene wurden während der letzten Jahre
Kulturvermittlungsstellen für die Schule eingerichtet. Die Bildungsdirektion
Kanton Zürich (Sektor Schule & Kultur) beispielsweise bietet Schulklassen
Vorführungen von aktuellen Filmen adn. «Vor Weihnachten hatten wir die
Bestsellerverfilmung ‹Tschick› im Programm», erzählt Noémie Blumenthal, die
dort das Dossier Film leitet. «Das hat sehr gut funktioniert, weil dieser Roman
in den Schulen oft gelesen wird. Für die Jugendlichen ist es interessant zu
sehen, wie die Textvorlage in Filmsprache übersetzt wird.»
Blumenthal arbeitet auch mit einem Filmpublizisten
zusammen, der speziellere Stoffe auswählt – Charlie Chaplin oder Buster Keaton
zum Beispiel – und diese den Schülern vorstellt. Nicht zuletzt bietet Schule
& Kultur Workshops an, bei denen Schüler und Schülerinnen lernen, ihre
eigenen Filme zu drehen.
In der Bilderflut
schwimmen
Angesichts solcher Emsigkeit: Sollte der Film sogar
als eigenständiges Schulfach eingeführt werden? «Diese Forderung hört man oft
aus Filmbildungskreisen», sagt Roadmovie-Gründer John Wäfler. «Ich bin aber
skeptisch. Wichtiger finde ich, dass man für Lehrer und Schulen praxisnahe
Grundlagen schafft, um mit Filmen im Rahmen des bestehenden Lehrplans zu
arbeiten, und den Austausch zwischen den Fachkräften analog dem
Vermittlungsprogramm von Pro Helvetia fördert.» Noémie Blumenthal ist der
Meinung: «Das hat Platz im bestehenden Curriculum. Was es braucht, sind attraktive
Angebote und Unterstützung durch Fachkräfte.»
Wie also ist die Filmbildung in der Schweiz
umzusetzen? BAK-Filmchef Ivo Kummer fragt, ob er ein bisschen übertreiben darf,
und äussert seine Idealvorstellung: «Einmal im Monat mit der Schulklasse einen
Film schauen, den man hinterher thematisiert, den man in gesellschaftliche
Zusammenhänge setzt. Nicht nur die neuen Filme, sondern auch solche aus unserem
reichhaltigen audiovisuellen Erbe. Und dann könnte man noch Regisseure und
Autoren in die Schule einladen, die über den Film sprechen.» Eine
Wunschvorstellung. Aber eine, die uns lehren könnte, in der Bilderflut zu
schwimmen.
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