19. Dezember 2016

Unbequeme Wahrheiten eines linken Querdenkers

Am 12. Dezember kritisierte der Gymnasiallehrer Georg Geiger auf diesem Blog Alain Pichard scharf. Geiger hatte genug von dessen "Linken-Bashing". Obwohl beide Kontrahenden gegen die sich anbahnende Testerei und den Lehrplan 21 ankämpfen, unterscheiden sich ihre Positionen, was die Rolle der Linken angeht, fundamental. Nun reagiert Pichard auf die Attacke. 
"Deine Aussage, dass die Linke...", Basler Zeitung, 19.12. von Alain Pichard

Lieber Georg

Ich habe kein «Linken-Bashing» beabsichtigt. Ich habe einfach versucht, auch noch einen bescheidenen Beitrag zur aktuellen Debatte zu liefern, die der Frage nachgeht, weshalb den Linken ihre Arbeiter abhandengekommen sind.

Ich war mein ganzes Berufsleben lang Mitglied der Gewerkschaftsbewegung und die in meinem Text geschilderten Begebenheiten habensich alle ereignet.
Ich wollte damit aufzeigen, dass die traditionelle Gewerkschaftsbewegung, wie ich sie erlebte und der ich immer noch verbunden bin, keineswegs so progressiv war, wie wir es uns damals ausdachten. Das aber macht aus ihnen noch lange keine schlechten Menschen. Wir idealisierten den «Proletarier» als Edelmenschen und Bannerträger der Revolution. Heute bestaunen viele von uns, die den Gang durch die Institutionen erfolgreich bewältigt haben, die «Prolls» angewidert in den Freakshows der Privatsender und sorgen dafür, dass ihr Nachwuchs nicht mit Unterschichtkindern in Berührung kommt. Sie haben die Tür zur Bildung hinter sich zugesperrt.

Deine Aussage, dass die Linke «kritisch, ironisch, nostalgisch und sarkastisch unsere Jugendträume reflektiert hat», kann ich nicht teilen. Wenn ich sehe, wie die linke Ikone Jean Ziegler Despoten wie Mugabe, Gaddhafi oder Castro auch heute noch in Schutz nimmt, wenn Franco Cavalli und Cédric Wermuth das venezolanische Sozialexperiment durch alle Böden verteidigen und die SP in Thun wieder altmarxistische Wirtschaftsrezepte aus der Reservatenkammer hervorkramt, dann erinnere ich mich wie Tausende von ehemaligen Linken an eine bittere Erkenntnis eigenen linken Handelns: Überall, wo fundamental sozialistisches Gedankengut umgesetzt wurde, war das Resultat mehr Armut, mehr Ungerechtigkeit, mehr Umweltverschmutzung und weniger Freiheit.

Mit Furor willst du mich daran erinnern, wo der wirkliche Feind stehe, und forderst mich auf, dem Rechtsextremismus und Populismus entgegenzutreten. Aber Schuldzuweisungen waren nie mein Ding. Die Gründe für eine politische oder persönliche Niederlage suche ich immer zuerst einmal bei mir.

Wenn 19 Glossenschreiber die SVP kritisieren, muss ich ja nicht der zwanzigste sein, der dasselbe tut. Ich habe jahrzehntelange linke Fronterfahrung und kenne unsere Irrwege, Rechtfertigungen oder Widersprüche sehr genau, weil es ja auch meine eigenen waren. Meine ehemaligen Weggefährten aufzuscheuchen – das bekenne ich freimütig –, strebe ich mit Fleiss an. Und ich glaube, dass die Empörung, die ich jeweils auslöse, sehr oft von der unbequemen Wahrheit ausgelöst wird, die ich zuweilen in den lauwarmen, sacharinsüssen Tee einer saturierten und wohlverdienenden Linken mische.

Der Klassenkampf findet immer noch statt. Aber er ist nicht mehr der Kampf Büezer gegen Kapitalist, sondern Service public gegen die in der freien Wirtschaft tätigen Menschen. Gerade in der Bildungspolitik, wo es nicht mehr ums Brot, sondern um die Wurst geht, ist ein knallharter Interessenkampf im Gang.

Unsere GenossInnen im Parlament verteidigen die Büros der GenossInnen in der Bildungsbürokratie und werfen alle Prinzipien, für die wir uns einst eingesetzt haben, über Bord. Millionen von Franken wandern in die Bildungszentralen, in die Löhne der Evaluierer, Berater, Lehrplanflicker oder Lehrmittelproduzenten, und dieses Geld wird aus der Praxis gepresst.

Wenn man das Gefühl hat, dass einen die eigenen Leute im Stich lassen, wendet man sich von ihnen ab und sucht sich neue Allianzen.

Herr Somm mag ein Liberaler sein, ein Konservativer von mir aus, vielleicht ist er einigen auch unsympathisch, aber ein Nazi oder Rechtsextremer ist er definitiv nicht. Im Gegenteil. Ich halte ihn für einen gescheiten, streitbaren Kopf, der mit seinem Team eine erfolgreiche und interessante Zeitung herausgibt.

Während die TagesWoche gerade in der Bildungspolitik unreflektiert behördliche Verlautbarungen nachplappert und die WOZ einem Eymann sogar unwidersprochen Platz bietet, über eine Gewerkschaft wie den LVB übelste Schmähungen zu verbreiten («dumme Lehrer, über die man sich schämen muss»), hat der von dir so kritisierte Markus Somm seine Zeitung auch für unsere Positionen geöffnet, und zwar als weitherum einzige Tageszeitung. Während die WOZ keinen einzigen meiner Artikel abdruckt, schreiben in der BaZ profilierte linke Persönlichkeiten wie Roland Stark, Helmut Hubacher, Regula Stämpfli und neuerdings auch der Baselbieter SP-Präsident.

Dass diese Debatte zwischen uns, die wir, wie du richtig schreibst, uns «gemeinsam gegen Kompetenzgefasel, und externe Testerei wehren», in der BaZ stattfindet, ist eigentlich ein Treppenwitz der Geschichte, aber bezeichnend für den Zustand einer Linken, die tabuisiert, sich intellektuell abgrenzt, Andersdenkende in den eigenen Reihen aggressiv ausgrenzen will und sich schleichend immer mehr dem annähert, was sie zu bekämpfen vorgibt.
Wie sagte es der ehemalige Linke Henryk M. Broder: «Früher war die Linke fortschrittlich, egalitär, aufklärerisch, human, demokratisch, internationalistisch und sozial. Heute steht sie für antiwestlich, antiamerikanisch, beharrend, kulturrelativistisch, antiwissenschaftlich, protektionistisch, ­etatistisch, bürokratisch und elitär.» Eigentlich schade.

Beste Grüsse

Alain

Alain Pichard ist Lehrer und politisiert für die GLP im Bieler Stadtrat.

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