In ihrem Reformeifer übergehen die Verantwortlichen begründete Einwände,
selbst wenn diese auf wissenschaftlichen Studien beruhen.
Bitte keine störenden Fakten, Journal21.ch, 28.9. von Carl Bossard
„Im Klassenzimmer stehe er gern, sagte er, unmittelbar ausserhalb aber
walte der Ungeist, denn im Verlaufe der vergangenen Jahre sei die Schule fast
überall in die Klauen von Funktionären geraten, von pädagogischen Analphabeten.
Jetzt aber, auf diesem Fussmarsch durch die stille Nacht, verbiete sich jedes
weitere Wort über dieses Trauerspiel Schule.“ (1)
Wissenschaft und politische Instrumentalisierung
Die Stimme aus einem wichtigen Roman. Der kürzlich verstorbene
Schriftsteller Markus Werner, während langer Jahre selber als Germanist an der
Kantonsschule Schaffhausen tätig, legt sie dem Altphilologen und Lehrer Thomas
Loos in den Mund.
Düsterer Pessimismus eines verbitterten Ex-Lehrers oder seismographische
Analyse des Konkreten? Wer das Eigentliche und Wesentliche von Bildung und
Schule in den Blick nimmt, neigt zur zweiten Deutung, zumal Markus Werner
unsere Bildungsnotwendigkeiten à fond kannte und ehemalige Schüler von seinem
Unterricht noch heute schwärmen.
Thomas Loos wäre sicher auch an der Tatsache verzweifelt, dass heutige
Bildungspolitiker unliebsame Studien kleinreden, wenn nicht gar vertuschen.
Wissenschaftler, die den Wert des frühen Fremdsprachenlernens anzweifeln,
werden diskreditiert und schikaniert, wie kürzlich auch die „NZZ am Sonntag“ berichtete.
(2) Das erinnert an Christian Morgenstern und Palmströms messerscharfen
Schluss, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Warten auf die richtigen Ergebnisse
Die kritischen Stimmen zum doppelten Fremdsprachenunterricht in der
Primarschule werden lauter. Eine Fremdsprache genüge, so die Meinung. Auch in
Baselland zielt eine Initiative in diese Richtung. Jürg Wiedemann vom
reformkritischen Komitee „Starke Schule“ sagt es schnörkellos: „Manche Kinder
können nach drei Jahren Französisch praktisch keinen französischen Satz sagen.“
Mit seiner Kritik steht er nicht allein. Sie richtet sich auch gegen das
Lehrmittel „Mille feuilles“ und seinen didaktischen Anspruch.
Die Fremdsprachendidaktikerin Barbara Grossenbacher, Dozentin der
Fachhochschule Nordwestschweiz, will diese Kritik aber nicht zur Kenntnis
nehmen. Dass Innovationen Lehrer und Eltern verunsichern können, versteht sie
zwar. Doch, so repliziert sie, solle man zuerst die wissenschaftlichen
Ergebnisse abwarten, welche, wie sie in schönster Selbstgewissheit sagt, „die
Wirksamkeit der neuen Didaktik nachweisen“. Sie tut also so, als ob sie bereits
wisse, welche Resultate die einschlägigen wissenschaftlichen Studien erbringen
werden. In gleicher Weise werden kritische Stimmen aus der Unterrichtspraxis
als belanglos abgetan.
Die Theoretiker und die Praktiker
Der Streit ist symptomatisch. Auf der einen Seite die Wissenschaft, auf
der andern die Praxis. Dazwischen ein Graben. Nach Massgabe heutiger
wissenschaftlicher Evaluationskulturen wissen wir eigentlich, dass der
Gegenbegriff zur Theorie nicht die Praxis, sondern die Empirie ist, die
reflektierte Erfahrung. Beides bedingt einander – wie ein Junktim.
Deshalb sind die Resultate des neuseeländischen Bildungsforschers John
Hattie so wertvoll. (3) Die weltweit grösste Datenbasis zur
Unterrichtsforschung resultiert aus über 80'000 Einzelstudien mit mehr als 250
Millionen Schülerinnen und Schülern. Hattie fokussiert auf wirksame Prozesse
(„what works best?“) und fordert normativ ein, was er empirisch nachweisen
kann. Nur die Effekte zeigen eben, wie es um ein pädagogisches Konzept bestellt
ist, nicht die schöne Sprache. „Meinungen gibt es genug; was zählt, ist die
messbare Wirkung“, die sogenannten „achievements“, schreibt der
Wissenschaftler.
Aus ideologischen Gründen die falschen Resultate
Doch Hatties aufsehenerregende Studie ist für viele eine Provokation.
Aus ideologischen Gründen habe er die falschen Resultate gebracht.
Reformpädagogisch Orientierte ärgern sich, dass der offene Unterricht und
jahrgangsübergreifende Klassen meist unwirksam sind, traditionell Eingestellte,
dass das Gleiche fürs Sitzenbleiben gilt. Es gibt so gut wie keine empirischen
Belege, dass sie das Lernen der Kinder verbessern.
Viele von Hatties Erkenntnissen stehen geradezu quer zum bildungspolitischen
Diskurs. Eine davon ist die Illusion vom selbstregulierenden Lerner und vom
Lernen ohne Lehrer LOL: die Lehrerin als Coach und marginalisierte
Beobachterin, der Lehrer als Arrangeur von Lernumgebungen und degradiert zum
Lern-Faciliator. Selbstorientiertes Lernen SOL wird als Lernszenario und
Bildungsziel verabsolutiert. Der neuseeländische Gelehrte dagegen weist nach:
Unterricht hängt entscheidend von dem Faktor ab, den die frühere Literatur die
„Lehrerpersönlichkeit“ nannte. Die Political Correctness verbietet zwar den
Ausdruck, und doch trifft er zu. Auf den guten Lehrer und seinen Unterricht
kommt es an. Für das schulische Lernen bedeutsam sind die vital präsente
Lehrerin und ihr pädagogisches Wirken.
Weitblick und Nahblick
„Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen!“ So soll eine
thrakische Magd ausgerufen haben, als der Philosoph Thales vor ihren Augen in
eine Zisterne stürzte. Er spazierte spät abends, den Blick fest auf die Sterne
gerichtet, gedankenverloren durch die Strassen von Milet. „Die Geheimnisse des
Himmels willst du erforschen und siehst nicht einmal, was vor deinen Füssen
liegt!“, spottete die Magd.
Eine Anekdote vielleicht – mindestens so gut erfunden, dass es spitzer
gar nicht ginge. Und seither tönt das schallende Gelächter hörbar fort. (4)
Die Geschichte der thrakischen Magd und des ehrwürdigen Philosophen im
Brunnenloch kam dem Poeten Markus Werner vielleicht in den Sinn, als er die
vielfältigen Ansprüche an den Unterricht sah und das bildungspolitische
Geschehen betrachtete – und dabei zu spüren bekam, dass theoretische Höhenflüge
oft mehr gelten als solide Arbeit in den Schulen. Gut möglich, dass er darum
Thomas Loos diesen resignativen Satz in den Mund legte.
Thales als Vorbild
Weitblick und Nahblick, Theorie und Empirie, die Höhen des Himmels und
die Gefilde des Alltags, die akademischen Dachterrassen und das Gewimmel des
Parterres. Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, die
Bildungsstäbe und die Frontleute. Auch die Schule braucht beides, die Denker
der grossen Konzepte wie die Praktiker des Alltags. Wirkungsvoll wird erst die
Verknüpfung.
Thales von Milet war nicht nur Denker im Grundsätzlichen, er war auch
Pragmatiker im Tatsächlichen. Er durchmass die Höhen des Himmels und war
gleichzeitig gewiefter Ökonom. Dieser Thales sollte in uns allen stecken.
Zusammen mit der Politik muss es gelingen, die grossen schulischen
Zusammenhänge im Blick zu haben und gleichzeitig den Alltag zu meistern. Die
parallele Akzentuierung einer hohen Schulqualität und der permanenten
behördlichen Reformdynamik mit den spürbaren Folgewirkungen wird zu Recht als
Widerspruch empfunden. Und ebenso das Negieren und Zensieren wissenschaftlicher
Forschungsresultate. Den Sturz in die Zisterne dürfen wir uns nicht erlauben.
(1) Markus Werner. Am Hang. Roman. Frankfurt am Main: Fischer TB. 12.
Aufl. 2011, p. 46.
(2) Streit um Frühfranzösisch: Behörden unterdrücken kritische
Forschung, in: NZZaS, 18.09.2016, p. 1, 20f.
(3) Hattie John (2009), Visible Learning. London, New York: Routledge. /
Hattie John/Beywl Wolfgang & Zierer Klaus (2013), Lernen sichtbar machen.
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Hatties umfangreiche
Meta-Meta-Studie gilt international als Referenz.
(4) Hans Blumenberg (1987), Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte
der Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Ich ärgere mich oft über selbstzufriedene Berufskollegen, die partout nichts wissen wollen von Unterrichtsforschung. Gleichzeitig gehen mir die Profilierungsarbeiten von "Wissenschaftlern" gehörig auf den Wecker, z.B. in Publikationen wie "Babylonia". Ein guter Lehrer bildet sich weiter aus eigenem Interesse und nicht, weil er wegen stupiden Weiterbildungs-Notmassnahmen dazu gezwungen wird.
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