Jahrelang
gingen Deutschlands Kuschel-Pädagogen mit dem angeblich erfolgreichen
finnischen Vorbild hausieren. Jetzt stellt sich heraus: Alles Propaganda und
missverstandene Statistik.
Welches System liefert die meisten Geistesblitze? Bild: Getty Images
Schluss mit dem finnischen Eiapopeia in der Schule! Die Welt, 8.7. von Alan Posener
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Wir wissen, dass Lehrer und
Lehrerinnen nicht nur Wissens- sondern auch Wertevermittler sind; nicht nur
Unterrichtende, sondern auch Erziehende. Und was für die einzelne Lehrerin in
der Klasse gilt, das gilt auch für die einzelne Schule, für verschiedene
Schulformen und das Schulwesen insgesamt.
Die Erfahrung zeigt, dass Unterricht
und Erziehung, Wissen und Werte immer wieder miteinander in Konflikt geraten.
Die lehrerzentrierte Paukschule ist erfolgreich bei der Wissensvermittlung; die
schülerorientierte, demokratische Schule tut sich damit schwerer.
Es gibt außerdem einen
"Trade-off" zwischen Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung.
Musik, Theater, Kunst, Werken und Sport, Schülerselbstverwaltung, Ausflüge und
dergleichen sind entscheidend für die Persönlichkeitsbildung; die dafür vergebenen
Stunden fehlen für die "harten" Lernfächer Fremdsprachen, Mathematik
und Naturwissenschaften. Das ist zwar kein Nullsummenspiel: Wer im
Werkunterricht etwa Geduld und Ausdauer geschult hat, kann das vielleicht auch
auf das Pauken von Vokabeln anwenden. Aber im "Vielleicht" steckt das
pädagogische Wagnis.
Überdies ist der "heimliche
Lehrplan" mindestens so wichtig für das Leben wie der offizielle. Man kann
noch so viel über die Demokratie und ihre Werte im Unterricht lernen: Wenn die
Struktur der Schule oder der Charakter der Lehrer beweisen, dass Duckmäusertum
belohnt, Mut aber sanktioniert wird, so bleibt das im Unterricht Gelernte toter
Buchstabe. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn Freiheit in Chaos ausartet und die
Erziehenden sich scheuen, schlechtes Benehmen zu ahnden, so lehrt die Schule
auf diese Weise Demokratieverachtung.
Und schließlich passt nicht jede
Schule für jeden Schüler. Theodor Fontane lobte seine schlampige Schule, die
nicht den "preußischen Patent- und Schablonenmenschen" züchtete und
auch ihm den Abschluss ermöglichte. Die Reformschule erwies sich als Segen für
begabte bürgerliche Schüler, denen das Lernen leicht fiel, die aber an der
stickigen Atmosphäre wilhelminischer Lehranstalten litten. Als aber in den
70er-Jahren Elemente der Reformpädagogik in die allgemeinen Schulen einzogen,
vermissten viele Schüler aus "bildungsfernen" Familien den festen
Rahmen, der ihnen Halt gab.
Kuschelpädagogik contra "schwarze" Lehre
Ideologen verneinen diese
Widersprüche. Anhänger der schülerorientierten Pädagogik – ob Reformpädagogen
oder Befürworter der Gesamtschule – meinen, ein nicht autoritäres,
demokratisches Lernumfeld, das die Lust am Lernen fördere und die Differenz im
Leistungsniveau nicht als Lernhindernis, sondern als Chance begreife, sei
effektiver als die Auslese- und Druckmittel der "schwarzen
Pädagogik".
Kritiker dieser "Kuschel- und
Spaßpädagogik" – ob Anhänger des alten Gymnasiums westlicher oder der
Erweiterten Oberschule östlicher Prägung – meinen, auch das Pauken von
Lateinvokabeln oder Chemieformeln bilde den Charakter. Disziplin sei der
Schlüssel zum Lernen, Lernen der Schlüssel zum Erfolg.
Für beide Positionen lieferten die
Pisa-Ergebnisse Anfang des Jahrtausends Belege. Die Kritiker der Gesamtschule
und der Reformpädagogik wiesen darauf hin, dass innerhalb Deutschlands die
Länder, die das herkömmliche System beibehalten hatten und auf Fleiß, Disziplin
und Ordnung setzten, bei der Lesekompetenz und der mathematischen Bildung
bessere Ergebnisse erzielten als jene Länder, die, wie Berlin, Bremen oder
Nordrhein-Westfalen, auf Reformen gesetzt hatten.
Das scheinbar schülerfreundliche
Gesamtschulsystem schade am Ende genau jenen, denen es helfen sollte. Denn
anders als Schüler aus bürgerlichen Familien können Kinder aus Zuwanderer- und
Prekariatsverhältnissen das in der Schule Versäumte nicht anderswo wettmachen.
Irrlehren der "Reformer"
Die in die Defensive geratenen
Anhänger der "Kuschelpädagogik" verwiesen ihrerseits auf Finnland.
Dort gab es Gesamtschulen und gemeinsames Lernen. Vergleichende
Leistungskontrollen waren ebenso verpönt wie Frontalunterricht und Pauken – und
Finnland hatte alle anderen Länder Europas bei den Pisa-Tests hinter sich
gelassen.
Man müsse Gesamtschule und
Reformpädagogik also nur richtig machen, nämlich konsequent, und nur
ausreichend finanzieren, dann würden sie auch gute Lernergebnisse bringen, und
zwar bessere als das herkömmliche System.
Man glaubte das, weil man es glauben
wollte, und weil es evident erschien. Die Evidenz der guten Pisa-Ergebnisse aus
Bayern, Baden-Württemberg oder Sachsen nahm man nicht zur Kenntnis, weil man es
nicht glauben wollte.
Nun hat sich dieser Glaube als
Illusion erwiesen. Seit Jahren rutscht Finnland bei den Pisa-Ergebnissen ab.
Eine neue Studie kommt zum Ergebnis, dass die guten Ergebnisse Finnlands Anfang
des Jahrtausends vor allem den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem
Schulsystem in den Jahren vor Einführung jener Reformen geschuldet waren, die
vor allem von linken Pädagogen hierzulande so bewundert wurden.
Finnland sei eine homogene,
stark bäuerlich geprägte, industriell und gesellschaftlich zurückgebliebene
Gesellschaft gewesen, in der Lehrer besondere Achtung genossen und einen
durchaus autoritären Bildungsstil gepflegt hätten. In dem Maße, wie Finnland
sich modernisiert habe und die im Zuge dieser Modernisierung durchgeführten
Bildungsreformen gegriffen hätten, so der Bildungsökonom Gabriel Heller Sahlgren, sei auch die
Leistung der finnischen Schüler gesunken.
Das Klima ist entscheidend
Konservative Ideologen, die sich durch diese Studie bestätigt fühlen
dürfen, sollten sie allerdings zu Ende lesen. Sahlgren rät nämlich zur
Vorsicht: Mit Rekurs auf Sigmund Freuds Schrift über das "Unbehagen in der
Kultur" meint er, dass ein autoritärer Erziehungsstil dieses Unbehagen
vermutlich steigere. Tatsächlich geht der Rückgang der Leistung finnischer
Schüler mit einem verbesserten Schulklima einher. Sahlgren verweist auch auf
Studien, die einen kooperativen Unterrichtsstil mit einem
verbesserten Human- und Sozialkapital in Verbindung bringen. Mit anderen
Worten: Pisa misst nicht unbedingt das, was für eine Gesellschaft wichtig ist.
Das wiederum ist eine politische Frage. Die Vereinigten Staaten von
Amerika entschieden sich für die Gesamtschule als Regelschule und gegen das
englische Modell des gegliederten Schulwesens, weil die Gleichheit wichtiger
war als die Leistung. Bis heute bleiben die öffentlichen amerikanische Schulen
– auch – deshalb akademisch gegenüber deutschen Gymnasien zurück, wie jede
Austauschschülerin bestätigen kann. Die Frage also, was im öffentlichen und
heimlichen Lehrplan gelernt werden soll und gelernt wird, muss nach wie vor
gestellt werden.
Einiges spricht dafür, dass wir in Deutschland nach wie vor zu wenig auf
die Entwicklung von Persönlichkeiten, Charakteren und Fähigkeiten und zu sehr
auf das Vermitteln von Wissen setzen – Wissen, das schneller veraltet als je
zuvor. Kritiker der Pisa-Studie – von links
und rechts – hatten das schon vor zehn Jahren moniert. Wie man sich auch immer
entscheidet: Das Beispiel Finnland zeigt, dass jede Entscheidung auch ihren
Preis hat.
Man kann nicht, wie das englische
Sprichwort sagt, seinen Kuchen zugleich besitzen und aufessen wollen. Wissen
und Werte, Erziehung und Unterricht, Gleichheit und Exzellenz, akademisches,
emotionales, soziales und praktisches Lernen stehen in einem
Spannungsverhältnis zueinander, das nicht einfach mit Hinweis auf ein nordisches
Eiapopeia aufzulösen ist. Gut so. Jetzt kann die Diskussion ernsthafter werden.
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