1. Juli 2016

Deutschschweizer Frankophilie

Die Schweiz steht im Ruf eines Vielsprachen-Idylls. Wenn der Tennis-Star Roger Federer in TV-Interviews locker von Deutsch auf Französisch und auf Englisch switcht, so heisst es in Halle, Paris und London bewundernd: «echt schweizerisch». Nicht umsonst werden wir im Ausland öfters gefragt, warum die Schweizer vier und mehr Sprachen sprächen. Es braucht dann oft etwas Zeit zu erklären, dass die offizielle Viersprachigkeit des Landes keineswegs bedeute, dass auch die Schweizer und Schweizerinnen alle viersprachig seien.
Vive le français! NZZ, 1.7. von Christophe Büchi


Doch auch unter Spezialisten wird die Schweiz immer für ihre Mehrsprachigkeit und für ihre vorbildliche Sprachenpolitik gerühmt. Besonderes Lob gilt dabei den öffentlichen Schulen. Denn (fast) alle Schüler und Schülerinnen lernen hierzulande – neuerdings schon ab der Primarschule – zwei «Fremdsprachen», konkret: Englisch und eine zweite Landessprache (wir setzen hier das Wort «Fremdsprachen» in Anführungszeichen, denn die Landessprachen sollten uns ja eigentlich nicht «fremd» sein). Am Ende der obligatorischen Schulzeit sollten somit fast alle Schweizer zumindest ansatzweise dreisprachig sein – die meisten Rätoromanen, Italienischschweizer und die Jungen mit Migrationshintergrund sogar vier- und mehrsprachig. Was die Europäische Union als Fernziel anstrebt, ist also in der Schweiz schon Tatsache.

Deutschschweizer Frankophilie
Drei Sprachen in der obligatorischen Schulzeit bedeuten unter anderem auch dies: Die jungen Deutschschweizer, wenn sie die öffentlichen Schulen durchlaufen, lernen fast ausnahmslos Französisch. Damit gehört die Deutschschweiz zu den frankophilsten Gegenden der Welt. Und eigentlich entspricht dies auch der Geschichte unseres Landes, wo Frankreich während Jahrhunderten eine bedeutende Rolle gespielt hat – positiv und manchmal auch negativ.

Man denke nur an die Bedeutung der französischen Solddienste im Ancien Régime, an den Einfluss der napoleonischen Zeit auf die Schweizer Staatsstruktur oder an die unzähligen französischen Fremdwörter, die typisch schweizerdeutsch sind (vom «Velo» bis zum «Billet») – oder an die Tatsache, dass die Schweiz immer noch den Franken als Währung führt. Ausgeprägter französischer Einfluss ist also auch ein Merkmal der Kultur und Geschichte der Deutschschweiz, nicht nur in Bern und Basel: Selbst in Zürich und in der einst stark auf die Textilindustrie ausgerichteten Ostschweiz war man lange an Frankreich interessiert.

Doch diese Tradition wird heute zunehmend infrage gestellt, auch in der deutschen Schweiz, wie eine neue Welle von kantonalen Volksinitiativen gegen zwei Fremdsprachen in der Primarschule zeigt. Natürlich sind nicht alle, die hinter diesen Initiativen stehen, Gegner des Französischunterrichts; viele stellen nicht den Fremdsprachenunterricht als solchen infrage, sondern seine Massierung in der Primarschule. Manche lassen offen, welche Sprache im Fall, dass diese Initiativen Erfolg hätten, aus der Primarschule verbannt werden müsste, Englisch oder Französisch. Dennoch gibt es kaum Zweifel daran, dass in erster Linie das Französische bedroht ist.

Es gibt auch andere Zeichen dafür, dass Französisch in der deutschen Schweiz an Popularität verliert. Umfragen bei jungen Deutschschweizern zeigen, dass ein Teil von ihnen Französisch als wenig nützlich einschätzt und manche die belle langue française sogar als unschön bezeichnen – was früher undenkbar gewesen wäre. Ein weiteres Zeichen: Die Universität Zürich kündigt an, dass sie einen Lehrstuhl für französische Sprache streichen will, weil die Studentenzahl schwindet.

Die erste Weltsprache
Hauptursache dieser Entwicklung ist der einzigartige Siegeszug des Englischen (militärische Metaphern sind bei diesem Thema nicht immer zu vermeiden). Obwohl es nach wie vor grosse Gebiete dieser Welt gibt, in denen man mit Englisch nicht weit kommt: Englisch ist drauf und dran, zur vielleicht ersten Weltsprache überhaupt in der Menschheitsgeschichte zu werden.

Mit anderen Worten: Die jahrtausendealte Utopie einer weltweit verstandenen Sprache, die die Esperanto-Bewegung einst wahr machen wollte, könnte in absehbarer Zukunft Realität werden. Natürlich fragt es sich, ob das Englische diese unangefochtene Stellung behalten kann, falls sich das wirtschaftliche, demografische und politische Machtzentrum der Welt dereinst in den asiatischen Raum verschieben sollte. Das Latein konnte jedoch nach dem Untergang Roms seine Stellung als internationale Verkehrssprache der Eliten über mehr als tausend Jahre behaupten. Es ist also gut möglich, dass das Englische seine Rolle als «lingua franca» noch lange behält.

Der Aufstieg des Englischen führt aber zum relativen Abstieg anderer internationaler Sprachen, und besonders des Französischen. Französisch war lange Zeit die führende internationale Sprache Europas – eine Hegemonie, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu bröckeln begann und nach dem Zweiten Weltkrieg verloren ging. Aber auch die Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache wurde durch die Entwicklung des Englischen zur Weltsprache unterspült.

«Global English» lässt natürlich auf den ersten Blick das Erlernen anderer – vermeintlich schwierigerer – Sprachen wie Deutsch und Französisch als weniger nützlich erscheinen. «Weshalb sich um echte Mehrsprachigkeit bemühen: Muttersprache plus Englisch reicht», hört man heute oft. Zudem wird das Französische auf dem Markt der Sprachen noch von anderen Sprachen konkurrenziert. Weshalb sollen die öffentlichen Schulen den Französischunterricht privilegieren? Weshalb nicht Spanisch, Russisch, Arabisch oder Chinesisch lernen?

Dies sind gute und berechtigte Fragen, die die Landessprachen-Lobby nicht allzu locker vom Tisch wischen sollte. Und die Verteidiger des Französischunterrichts sollten sich hüten, gegen das Englische antreten zu wollen. Der «Weltkrieg der Sprachen» ist entschieden: Englisch hat gewonnen, Französisch verloren. Es hat keinen Sinn, Jeanne d'Arc wieder auferwecken zu wollen; Trafalgar und Waterloo lassen sich nicht rückgängig machen. Die Frage lautet deshalb nicht: Französisch oder Englisch? Die Frage ist doch, ob es nicht gute Gründe dafür gebe, gleichzeitig Englisch und Französisch auf den Lehrplan zu setzen. Und ja: Es gibt diese Gründe. Gerade weil Englisch immer mehr zur sprachlichen Grundausstattung gehört, lohnt es sich, sich mit guten Kenntnissen einer dritten Sprache auf dem Arbeitsmarkt einen Konkurrenzvorteil zu verschaffen.

Gut im Geschäft
Dies gilt besonders für die Bewohner unseres Landes. Die Schweiz hat in Bezug auf die Mehrsprachigkeit ein altes Know-how. Vor allem im Vergleich mit unseren Nachbarländern, die früher als Nationen von hartgesottenen Einsprachlern galten, besassen die Schweizer lange Zeit einen ansehnlichen Vorsprung. Dieser Vorsprung könnte aber schrumpfen, wenn sich immer mehr Schweizer mit dem sprachlichen Minimalstandard zufriedengeben würden. Dies bedeutet für die Schulpolitik: Nur wenn die Schweiz am Prinzip festhält, in der obligatorischen Schulzeit neben Englisch eine zweite Fremdsprache zu vermitteln, hat sie Chancen, ihren Bewohnern einen Konkurrenzvorteil auf dem Sprachenmarkt zu verschaffen.

Für die Deutschschweizer sollte die zweite Fremdsprache in der Regel das Französische bleiben. Einerseits ist Französisch die zweitstärkste Landessprache; anderseits gehört es immer noch zu den wichtigsten internationalen Sprachen, nicht zuletzt auch in der Europäischen Union und den internationalen Organisationen. Es besteht in der Deutschschweiz heute die Tendenz, die Bedeutung des Französischen und des französischen Sprachraums zu unterschätzen. Gewiss ist Frankreich zurzeit wirtschaftlich, politisch und kulturell nicht in Hochform. Aber es ist nach wie vor ein Land, das auf dem politischen Parkett zählt.

Und auch kulturell ist Frankreich, obwohl es auch schon heller leuchtete, immer noch eine kleine Grossmacht: In den USA werden nach wie vor wesentlich mehr Bücher aus dem Französischen als aus dem Deutschen übersetzt. Und vor allem ist Französisch nicht einfach die Sprache Frankreichs, sondern eine interkontinentale Sprache, die in zahlreichen Ländern und nicht zuletzt in Afrika verbreitet ist.

Natürlich lässt sich argumentieren, die Deutschschweizer könnten statt Französisch das international immer bedeutendere Spanische lernen. Aber auf dem Schweizer Arbeitsmarkt sind die Landessprachen immer noch von grösserem Nutzen als alle anderen Sprachen, wie unter anderem eine bekannte Studie des Genfer Sprachökonomen François Grin beweist. Und die Erfahrung zeigt auch, dass in Bewerbungsgesprächen – bei gleicher Kompetenz – Kenntnisse der Landessprache den Ausschlag geben können. Natürlich kommt es auf die Branche und auf die Stelle an. Für den international tätigen Banker ist das Französische nicht so wichtig, es sei denn, er arbeite direkt mit französischsprachigen Ländern. Aber in Betrieben, die auf dem Heimmarkt tätig sind, sind Kenntnisse der Landessprachen oft matchentscheidend.

Vier gewinnt!
Das Fazit dieses Plädoyers: Die Schweiz und besonders die Deutschschweiz haben alles Interesse, zum Französischen Sorge zu tragen. Natürlich soll man darüber streiten, wie, wo und wann man am besten mit dem Unterricht einsetzt. Und natürlich darf man nicht Unmögliches von der Schule erwarten: Der Schulunterricht kann nur ein Fundament schaffen. Und sicher soll man nicht aus allen Menschen Sprachgenies machen wollen. Aber man sollte jungen Leuten auch nicht ein Sprachen-Handicap aufbürden, nur weil sie a priori nicht besonders sprachbegabt sind.

Damit ist nichts gegen die anderen Sprachen gesagt – im Gegenteil. Wenn die jungen Deutschschweizer auch gut Englisch sprechen und noch andere Sprachen lernen, umso besser. Zwei Sprachen bilden in der globalisierten Welt das sprachliche Existenzminimum, mit drei Sprachen ist man bei den Leuten. Und ab vier Sprachen wird das Leben so richtig schön.


2 Kommentare:

  1. "Und ab vier Sprachen wird das Leben so richtig schön." Das tönt wie Hohn -angesichts der Tatsache, dass 20 Prozent der Buben die Schule verlassen, ohne Lesen (vom Schreiben reden wir gar nicht) zu können. In der Erstsprache, notabene!

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  2. "Dies bedeutet für die Schulpolitik: Nur wenn die Schweiz am Prinzip festhält, in der obligatorischen Schulzeit neben Englisch eine zweite Fremdsprache zu vermitteln, hat sie Chancen, ihren Bewohnern einen Konkurrenzvorteil auf dem Sprachenmarkt zu verschaffen." Hat denn irgendjemand mal etwas anderes gesagt?
    Ich werde den Verdacht nicht los, dass es hier gar nicht um die Kinder und ihre Sprachkenntnisse geht, sondern um andere Dinge.

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