Die Schweiz
steht im Ruf eines Vielsprachen-Idylls. Wenn der Tennis-Star Roger Federer in
TV-Interviews locker von Deutsch auf Französisch und auf Englisch switcht, so
heisst es in Halle, Paris und London bewundernd: «echt schweizerisch». Nicht
umsonst werden wir im Ausland öfters gefragt, warum die Schweizer vier und mehr
Sprachen sprächen. Es braucht dann oft etwas Zeit zu erklären, dass die
offizielle Viersprachigkeit des Landes keineswegs bedeute, dass auch die
Schweizer und Schweizerinnen alle viersprachig seien.
Vive le français! NZZ, 1.7. von Christophe Büchi
Doch auch unter Spezialisten wird die Schweiz immer für ihre
Mehrsprachigkeit und für ihre vorbildliche Sprachenpolitik gerühmt. Besonderes
Lob gilt dabei den öffentlichen Schulen. Denn (fast) alle Schüler und
Schülerinnen lernen hierzulande – neuerdings schon ab der Primarschule – zwei
«Fremdsprachen», konkret: Englisch und eine zweite Landessprache (wir setzen
hier das Wort «Fremdsprachen» in Anführungszeichen, denn die Landessprachen
sollten uns ja eigentlich nicht «fremd» sein). Am Ende der obligatorischen
Schulzeit sollten somit fast alle Schweizer zumindest ansatzweise dreisprachig
sein – die meisten Rätoromanen, Italienischschweizer und die Jungen mit
Migrationshintergrund sogar vier- und mehrsprachig. Was die Europäische Union
als Fernziel anstrebt, ist also in der Schweiz schon Tatsache.
Deutschschweizer
Frankophilie
Drei Sprachen in der obligatorischen Schulzeit bedeuten unter
anderem auch dies: Die jungen Deutschschweizer, wenn sie die öffentlichen
Schulen durchlaufen, lernen fast ausnahmslos Französisch. Damit gehört die
Deutschschweiz zu den frankophilsten Gegenden der Welt. Und eigentlich
entspricht dies auch der Geschichte unseres Landes, wo Frankreich während
Jahrhunderten eine bedeutende Rolle gespielt hat – positiv und manchmal auch
negativ.
Man denke nur an die Bedeutung der französischen Solddienste im
Ancien Régime, an den Einfluss der napoleonischen Zeit auf die Schweizer
Staatsstruktur oder an die unzähligen französischen Fremdwörter, die typisch
schweizerdeutsch sind (vom «Velo» bis zum «Billet») – oder an die Tatsache,
dass die Schweiz immer noch den Franken als Währung führt. Ausgeprägter
französischer Einfluss ist also auch ein Merkmal der Kultur und Geschichte der
Deutschschweiz, nicht nur in Bern und Basel: Selbst in Zürich und in der einst
stark auf die Textilindustrie ausgerichteten Ostschweiz war man lange an
Frankreich interessiert.
Doch diese Tradition wird heute zunehmend infrage gestellt, auch
in der deutschen Schweiz, wie eine neue Welle von kantonalen Volksinitiativen
gegen zwei Fremdsprachen in der Primarschule zeigt. Natürlich sind nicht alle,
die hinter diesen Initiativen stehen, Gegner des Französischunterrichts; viele
stellen nicht den Fremdsprachenunterricht als solchen infrage, sondern seine
Massierung in der Primarschule. Manche lassen offen, welche Sprache im Fall,
dass diese Initiativen Erfolg hätten, aus der Primarschule verbannt werden
müsste, Englisch oder Französisch. Dennoch gibt es kaum Zweifel daran, dass in
erster Linie das Französische bedroht ist.
Es gibt auch andere Zeichen dafür, dass Französisch in der
deutschen Schweiz an Popularität verliert. Umfragen bei jungen
Deutschschweizern zeigen, dass ein Teil von ihnen Französisch als wenig
nützlich einschätzt und manche die belle langue française sogar als unschön
bezeichnen – was früher undenkbar gewesen wäre. Ein weiteres Zeichen: Die
Universität Zürich kündigt an, dass sie einen Lehrstuhl für französische
Sprache streichen will, weil die Studentenzahl schwindet.
Die erste Weltsprache
Hauptursache dieser Entwicklung ist der einzigartige Siegeszug des
Englischen (militärische Metaphern sind bei diesem Thema nicht immer zu
vermeiden). Obwohl es nach wie vor grosse Gebiete dieser Welt gibt, in denen
man mit Englisch nicht weit kommt: Englisch ist drauf und dran, zur vielleicht
ersten Weltsprache überhaupt in der Menschheitsgeschichte zu werden.
Mit anderen Worten: Die jahrtausendealte Utopie einer weltweit
verstandenen Sprache, die die Esperanto-Bewegung einst wahr machen wollte,
könnte in absehbarer Zukunft Realität werden. Natürlich fragt es sich, ob das
Englische diese unangefochtene Stellung behalten kann, falls sich das
wirtschaftliche, demografische und politische Machtzentrum der Welt dereinst in
den asiatischen Raum verschieben sollte. Das Latein konnte jedoch nach dem
Untergang Roms seine Stellung als internationale Verkehrssprache der Eliten
über mehr als tausend Jahre behaupten. Es ist also gut möglich, dass das
Englische seine Rolle als «lingua franca» noch lange behält.
Der Aufstieg des Englischen führt aber zum relativen Abstieg
anderer internationaler Sprachen, und besonders des Französischen. Französisch
war lange Zeit die führende internationale Sprache Europas – eine Hegemonie,
die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu bröckeln begann und nach dem
Zweiten Weltkrieg verloren ging. Aber auch die Stellung des Deutschen als
Wissenschaftssprache wurde durch die Entwicklung des Englischen zur Weltsprache
unterspült.
«Global English» lässt natürlich auf den ersten Blick das Erlernen
anderer – vermeintlich schwierigerer – Sprachen wie Deutsch und Französisch als
weniger nützlich erscheinen. «Weshalb sich um echte Mehrsprachigkeit bemühen:
Muttersprache plus Englisch reicht», hört man heute oft. Zudem wird das Französische
auf dem Markt der Sprachen noch von anderen Sprachen konkurrenziert. Weshalb
sollen die öffentlichen Schulen den Französischunterricht privilegieren?
Weshalb nicht Spanisch, Russisch, Arabisch oder Chinesisch lernen?
Dies sind gute und berechtigte Fragen, die die
Landessprachen-Lobby nicht allzu locker vom Tisch wischen sollte. Und die
Verteidiger des Französischunterrichts sollten sich hüten, gegen das Englische
antreten zu wollen. Der «Weltkrieg der Sprachen» ist entschieden: Englisch hat
gewonnen, Französisch verloren. Es hat keinen Sinn, Jeanne d'Arc wieder
auferwecken zu wollen; Trafalgar und Waterloo lassen sich nicht rückgängig
machen. Die Frage lautet deshalb nicht: Französisch oder Englisch? Die Frage
ist doch, ob es nicht gute Gründe dafür gebe, gleichzeitig Englisch und
Französisch auf den Lehrplan zu setzen. Und ja: Es gibt diese Gründe. Gerade
weil Englisch immer mehr zur sprachlichen Grundausstattung gehört, lohnt es
sich, sich mit guten Kenntnissen einer dritten Sprache auf dem Arbeitsmarkt
einen Konkurrenzvorteil zu verschaffen.
Gut im Geschäft
Dies gilt besonders für die Bewohner unseres Landes. Die Schweiz
hat in Bezug auf die Mehrsprachigkeit ein altes Know-how. Vor allem im
Vergleich mit unseren Nachbarländern, die früher als Nationen von
hartgesottenen Einsprachlern galten, besassen die Schweizer lange Zeit einen
ansehnlichen Vorsprung. Dieser Vorsprung könnte aber schrumpfen, wenn sich
immer mehr Schweizer mit dem sprachlichen Minimalstandard zufriedengeben
würden. Dies bedeutet für die Schulpolitik: Nur wenn die Schweiz am Prinzip
festhält, in der obligatorischen Schulzeit neben Englisch eine zweite
Fremdsprache zu vermitteln, hat sie Chancen, ihren Bewohnern einen
Konkurrenzvorteil auf dem Sprachenmarkt zu verschaffen.
Für die Deutschschweizer sollte die zweite Fremdsprache in der
Regel das Französische bleiben. Einerseits ist Französisch die zweitstärkste
Landessprache; anderseits gehört es immer noch zu den wichtigsten
internationalen Sprachen, nicht zuletzt auch in der Europäischen Union und den
internationalen Organisationen. Es besteht in der Deutschschweiz heute die
Tendenz, die Bedeutung des Französischen und des französischen Sprachraums zu
unterschätzen. Gewiss ist Frankreich zurzeit wirtschaftlich, politisch und
kulturell nicht in Hochform. Aber es ist nach wie vor ein Land, das auf dem
politischen Parkett zählt.
Und auch kulturell ist Frankreich, obwohl es auch schon heller
leuchtete, immer noch eine kleine Grossmacht: In den USA werden nach wie vor
wesentlich mehr Bücher aus dem Französischen als aus dem Deutschen übersetzt.
Und vor allem ist Französisch nicht einfach die Sprache Frankreichs, sondern
eine interkontinentale Sprache, die in zahlreichen Ländern und nicht zuletzt in
Afrika verbreitet ist.
Natürlich lässt sich argumentieren, die Deutschschweizer könnten
statt Französisch das international immer bedeutendere Spanische lernen. Aber
auf dem Schweizer Arbeitsmarkt sind die Landessprachen immer noch von grösserem
Nutzen als alle anderen Sprachen, wie unter anderem eine bekannte Studie des
Genfer Sprachökonomen François Grin beweist. Und die Erfahrung zeigt auch, dass
in Bewerbungsgesprächen – bei gleicher Kompetenz – Kenntnisse der Landessprache
den Ausschlag geben können. Natürlich kommt es auf die Branche und auf die Stelle
an. Für den international tätigen Banker ist das Französische nicht so wichtig,
es sei denn, er arbeite direkt mit französischsprachigen Ländern. Aber in
Betrieben, die auf dem Heimmarkt tätig sind, sind Kenntnisse der Landessprachen
oft matchentscheidend.
Vier gewinnt!
Das Fazit dieses Plädoyers: Die Schweiz und besonders die
Deutschschweiz haben alles Interesse, zum Französischen Sorge zu tragen.
Natürlich soll man darüber streiten, wie, wo und wann man am besten mit dem
Unterricht einsetzt. Und natürlich darf man nicht Unmögliches von der Schule
erwarten: Der Schulunterricht kann nur ein Fundament schaffen. Und sicher soll
man nicht aus allen Menschen Sprachgenies machen wollen. Aber man sollte jungen
Leuten auch nicht ein Sprachen-Handicap aufbürden, nur weil sie a priori nicht
besonders sprachbegabt sind.
Damit ist nichts gegen die anderen Sprachen gesagt – im Gegenteil.
Wenn die jungen Deutschschweizer auch gut Englisch sprechen und noch andere
Sprachen lernen, umso besser. Zwei Sprachen bilden in der globalisierten Welt
das sprachliche Existenzminimum, mit drei Sprachen ist man bei den Leuten. Und
ab vier Sprachen wird das Leben so richtig schön.
"Und ab vier Sprachen wird das Leben so richtig schön." Das tönt wie Hohn -angesichts der Tatsache, dass 20 Prozent der Buben die Schule verlassen, ohne Lesen (vom Schreiben reden wir gar nicht) zu können. In der Erstsprache, notabene!
AntwortenLöschen"Dies bedeutet für die Schulpolitik: Nur wenn die Schweiz am Prinzip festhält, in der obligatorischen Schulzeit neben Englisch eine zweite Fremdsprache zu vermitteln, hat sie Chancen, ihren Bewohnern einen Konkurrenzvorteil auf dem Sprachenmarkt zu verschaffen." Hat denn irgendjemand mal etwas anderes gesagt?
AntwortenLöschenIch werde den Verdacht nicht los, dass es hier gar nicht um die Kinder und ihre Sprachkenntnisse geht, sondern um andere Dinge.