7. Mai 2016

Keine fundierten Informationen für die Öffentlichkeit

Das beharrliche Schweigen der Offiziellen nennt sich in der Sprache des Lehrplans 21 (LP21) «Kompetenzkompensationskompetenz». Diese hat sich anscheinend zur wichtigsten Basiskompetenz in der heutigen Bildungspolitik gemausert. Sie gilt als unverzichtbar. Und in der Tat: Für die breite Öffentlichkeit ist der Lehrplan 21 ein grosses Fragezeichen geblieben. Vor allem die Eltern schulpflichtiger Kinder warten auf überzeugende Antworten.
Informiert die Bevölkerung über den Lehrplan 21! Schulblog Südostschweiz, 4.5. von Fritz Tschudi


Zwar ist den Menschen inzwischen das Wort «Kompetenz» geläufig. Selbst Bildungsfachleute haben aber Mühe zu erklären, was damit überhaupt gemeint ist. In der Erklärungsnot wird «geschwurbelt» was das Zeug hält. Fragen Sie unsere Lehrpersonen, was Sie am kompetenzorientierten LP21 überzeugend finden. Grossmehrheitlich werden Sie hören, dass dem alten Zopf, Wissen anzuhäufen und auswendig lernen zu lassen, endlich der Garaus gemacht würde. Der LP21 erlaube den Schülerinnen und Schülern (die Doppelnennung ist obligatorisch), mittels Kompetenzrastern handlungs- und lösungsorientiertes Können in massgeschneiderten Lernumgebungen selbständig anzueignen. Jeder Schüler und jede Schülerin habe regelmässig unter Beweis zu stellen, dass er oder sie das Gelernte erfolgreich anwenden kann.

Doch brauchen wir dafür einen neuen Kompetenzen-Lehrplan? Das Hauptziel des leistungsorientierten Unterrichts war schon bisher die Problemlösung, die Anwendung, die Vernetzung, allerdings mit dem Lerngegenstand (den Inhalten) im Zentrum. Aus  pädagogischer Sicht bräuchte es den kompetenzorientierten Lehrplan 21 schlicht und ergreifend nicht.

Den Verfechtern ist aber jedes Mittel recht, ihre Machtansprüche durchzusetzen. Es wird wider besseres Wissen behauptet, der Lehrplan 21 sei zwingend, weil einzig damit die Forderungen des Bildungsartikels (Art.62 der Bundesverfassung) umgesetzt werden könnten. Das ist eine Lüge! Mit dem Killerargument gelingt es den Verantwortlichen, das Volk zu bezirzen und bisher erfolgreich vom Leibe zu halten.

Die wahren Gründe der Lehrplanreformer werden nur widerwillig offengelegt: Bessere Überwachung der Bildungsleistung (der Schüler und Lehrer) durch staatliche Instanzen, Zentralisierung des Bildungswesens durch Anpassung und Übernahme der OECD-Agenda im Sinne der EU, und ein hochumstrittenes, pädagogisch ungeklärtes Lehr- und Lernverständnis im Unterricht. Die klassische Lehrerrolle wird ausgemustert. Alles im Sinne der Globalisierung und der Europakompatibilität. Kaum mehr autonomes Denken. «Wir können doch nicht abseits stehen», lautet die universelle Kapitulationserklärung.

Keine fundierten Informationen zum LP 21 für die breite Öffentlichkeit
Aufgeklärte Menschen denken kritisch. Das eigenständige Denken steht als allgemeines Bildungsziel sinngemäss in jedem Schulgesetz. Doch für die Reformverantwortlichen ist selbständiges «öffentliches» Denken wohl das Schlimmste was ihnen passieren kann. Sie fürchten zu Recht, es könnten «schlafende Hunde» geweckt werden und die Reform würde vom Souverän plötzlich kritisch wahrgenommen und abgelehnt. Die Befürchtung ist berechtigt, denn ich kenne keine Bildungsreform, die so «unreflektiert» auf Sand baut wie dieses weltweit erfolglose Lehrplankonzept.

Um nicht ungewollt Kritik zu provozieren  haben sich die Lehrplanverantwortlichen aller Ebenen schon früh auf eine Kommunikationsstrategie eingeschworen, die unseren bisherigen demokratischen Gepflogenheiten krass zuwiderläuft: Dialog unter Insidern, Verschwiegenheit nach aussen.

Seit Herbst 2014 ist der Lehrplan 21 von der EDK-d (Erziehungsdirektorenkonferenz für die deutsch- und gemischtsprachigen Kantone) freigegeben und vor kurzem von der Bündner Regierung beschlossen worden. Die Einführung an unseren Volksschulen ist ab Schuljahr 2018/19 vorgesehen.

Konkret ist zu fragen:
- Warum verzichtet das «Bildungsdepartement» auf Offenlegung aller Gründe, welche die Regierung zur Annahme des LP21 veranlasste?
- Welches sind die zugesicherten (nicht die erhofften) Mehrwerte bzw. Qualitätsverbesserungen für das System Volksschule, für die Bildung der Kinder, für die Nutzung des «Kompasses» LP21 durch Lehrpersonen und interessierte Eltern?
- Welche Rolle im Unterricht und in der häuslichen Begleitung durch die Eltern kommt den neuen Lehrmitteln zu?
- Erkennt die Regierung auch Schwächen des neuen Lehrplans?
- Unsere Demokratie sichert ein Recht der Bevölkerung auf verlässliche Informationen durch die zuständige Behörde. Warum wurde diesem bisher nicht nachgekommen?
- Die Erfüllung des Anspruchs auf Information über eine dem Volk von der Regierung verordneten Sache, ist doch wohl eine Bringschuld.

Was steckt hinter der Schweigestrategie?
Werfen wir einen Blick auf den Ablauf des Lehrplan 21-Projekts. Auslöser war die Massenhysterie wegen des «PISA-Schocks» im Jahre 2000. Dieser mündete in einen kopflosen politischen Alarmismus. Es folgte ein sachlich weit überrissener Aktivismus. Es hiess: Sofort handeln! – Die Experten diagnostizierten und formulierten «Missstände»; es wurde die Notwendigkeit von Veränderungen ausgerufen. Diese wurden mit dem Merkmal des «Paradigmenwechsels» versehen und als gegeben und nicht befragbar hingenommen. Die Kompetenzorientierung mit einem neuen Lehr- und Lernverständnis im Gepäck wurde alsdann zur alternativlosen Glaubenslehre erhoben. Das Projekt entfaltete rasch eine Eigendynamik, dessen Weg als unumkehrbar eingestuft wurde. Die behauptete Unumkehrbarkeit (Unverzichtbarkeit) war und ist somit nicht in der Sache begründet, sie wird gegenwärtig verordnet und administrativ erzwungen.

Der schlimmste Irrtum der Bildungspolitik ist die Ignoranz der Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis. Sie glaubt darauf locker verzichten zu können im Vertrauen auf die Deutungs- und Innovationsmacht einer selbstgefälligen Expertokratie.
Das Credo des LP21 ist die Ausrichtung auf ökonomistische Forderungen, eingebettet in die aktuellen Ideologien. Grundabsicht ist die optimale wirtschaftliche Verwendbarkeit des «Human Kapitals». Die Bildung zur sozialen bzw. gesellschaftspolitischen Eigenständigkeit im Denken und Tun rückt in den Hintergrund. Damit droht die Vernachlässigung der in allen  Kantonsverfassungen (bzw. Schulgesetzen) verankerten Mündigkeit. Namhafte Kritiker sehen angesichts der fremden Diktate und der Erziehung zu bedingungsloser Unterordnung und Anpassung im LP21 eine Gefährdung unserer Demokratie.

Der Lehrplan 21 ist von grosser gesellschaftspolitischer Relevanz. Schon die direkte Betroffenheit der Eltern, der Steuerzahler und aller Akteure im Bildungswesen verbietet ein staatliches Stillschweigen. Die Angst der Bildungsverantwortlichen ist kein ausreichender Grund die Informationspflicht zu missachten.

Der Lehrplanforscher Rudolf Künzli schreibt zur Frage einer besonderenöffentlichen Legitimation des Lehrplans 21:

«Verwaltungsanordnungen sind keine hinreichende Legitimation schulpolitischer Neuerungen»

Auch der Erziehungswissenschaftler Prof. Walter Herzog vertritt klare Meinungen:
«Kritik Nr. 1: Dem Lehrplan 21 fehlt die politische Legitimation»
Mein Fazit: Ein harmonisierter Rahmenlehrplan hätte vollauf genügt. Chaotische Wirrungen wären uns erspart geblieben. Eine schul- und bürgerfreundliche Lehrplanform hätte uns neben gewichtigen Vorteilen vor einem wenig hilfreichen Papiermonster verschont. Die Hauptforderung der Urväter eines neuen Lehrplans, die Harmonisierung der Lernziele und Inhalte, wäre heute erfüllt (Ausgenommen die Frühfremdsprachen - ein politisches, lehrplanunabhängiges Thema).
Besondere Informationsanstrengungen hätten sich mit Sicherheit erübrigt.

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