27. April 2016

"Eine absolute Ausnahme"

Der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver äussert sich zur Integration von Migrantenkindern.
















Bernhard Pulver (Grüne) fordert, dass Migranten unsere Regeln und unsere Kultur akzeptieren müssen, Bild: Urs Baumann
"Es gibt auch Mädchen, die mit Röcken in die Schule gehen müssen, Berner Zeitung, 27.4. von Marius Aschwanden

In Therwil verweigerten zwei muslimische Schüler ihrer Lehrerin den Händedruck und er­hielten dafür eine Dispensation. Wäre dies im Kanton Bern auch möglich?
Bernhard Pulver: (zögert) Bei uns ist nicht geregelt, ob für einen Händedruck eine Dispensation erteilt werden kann oder nicht.

Würden Sie eine solche Dispensation denn gutheissen?
Der Händedruck ist zwar keine Vorschrift in der Schule.
 Viele Lehrer beginnen jedoch ihren Unterricht auf diese Art, weil so eine persönliche Beziehung zu den Schülern aufgebaut werden kann. Und Unterrichten ist letztlich eine Beziehungsfrage. Zudem gehört der Händedruck zu unserer Kultur. Insofern kann es nicht sein, dass sich ein Schüler weigert, seiner Lehrerin die Hand zu geben. Da greift auch die Religionsfreiheit nicht. Diese beinhaltet keinesfalls, Frauen zu diskriminieren.

Aber?
Ich finde es schwierig, ohne Kenntnisse der konkreten Umstände das Handeln einer Schulleitung zu beurteilen. In solchen Fragen gibt es keine richtige und keine falsche Antwort. Ob es in jedem Fall sinnvoll ist, einen Jugendlichen zum Händeschütteln zu zwingen, wage ich zu bezweifeln. In der Erziehung ist es zwar manchmal wichtig, sofort klare Grenzen zu setzen. Es kann aber auch Situationen geben, in welchen es besser ist, nicht «auf tutti» zu gehen und zum Beispiel eine Frist zu setzen. Häufig normalisiert sich solches Verhalten nach einer gewissen Zeit wieder.

Was sind das für Situationen?
Wir hatten im Kanton Bern einen Fall einer muslimischen Berufsschülerin, die um eine Dispensation für eine mehrtägige Klassenfahrt nach Deutschland gebeten hat. Dies, weil ihr Mann gegen diese Reise war. Die Schulleitung hat die Dispensation schliesslich ausgestellt und damit begründet, dass die Schülerin im Integrationsprozess bereits weit fortgeschritten ist, aber die Ausbildung abbrechen würde, wenn sie zur Klassenfahrt gezwungen wird.

Sie sagen aber auch, dass es ­Werte gibt, die zu unserer Kultur gehören. Wieso existieren keine kantonalen oder eidgenössischen Regelungen für den Umgang mit dieser Problematik an Schulen?
Immer wenn es ein Problem gibt, kommt die Forderung nach einer einheitlichen Regelung. Ich bin aber überzeugt, dass wir den Mut haben sollten, im Einzelfall Lösungen zu finden. Nehmen wir das Beispiel des Handyverbots: Köniz hat vor einiger Zeit ein solches eingeführt. In Zweisimmen jedoch hätte dies überhaupt keinen Sinn gemacht, weil sie gar keine Probleme mit Handys gehabt haben. Eine Einheitsregel schafft meist mehr Probleme, als sie löst. Trotzdem gibt es natürlich solche Regelungen: Vom Schwimmunterricht kann beispielsweise niemand dispensiert werden. Und ein Kopftuchverbot widerspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichts.

Einzelfälle wie die Händedruck-Dispensation schaffen aber auch ein Präjudiz.
Das ist tatsächlich ein Problem. Vor allem auch insofern, als einzelne Kinder von ihren Eltern instrumentalisiert werden. Das gilt nicht nur für Muslime. Es gibt auch Mädchen, die mit Röcken in die Schule gehen müssen. Umso wichtiger ist, dass solche Fragen diskutiert werden. So können wir einem falschen Präjudiz entgegenwirken.

Wo liegt denn die Grenze zwischen Anpassung an unsere ­Kultur und Religionsfreiheit?
Diese Abgrenzungsfrage werden wir künftig vermehrt zu beantworten haben. Und vermutlich werden wir nicht alle Probleme von Beginn an richtig lösen. Religionsfreiheit ist ein Grundrecht. Aber auch dieses Recht gilt nicht absolut. Einschränkungen sind zulässig, wenn sie in einem öffentlichen Interesse und verhältnismässig sind. Ein solches öffentliches Interesse ist die Bildung und innerhalb der Bildung beispielsweise der Schwimmunterricht oder die freie Kommunikation. Eine Burka hat in der Schule nichts verloren. Das sind aber nur die klaren Fälle. Wie Angela Merkel glaube jedoch auch ich, dass wir das schaffen. Aber es wird auch schwierig werden.

Was bedeutet für Sie erfolg­reiche Integration?
Die Schülerinnen und Schüler sollen ihre eigene Kultur nicht verleugnen. Das hätte zur Folge, dass sie sich auch in der neuen Gesellschaft nie wirklich aufgehoben fühlten. Genauso wenig darf Integration heissen, dass sich unsere Kultur den Neuankömmlingen anpassen muss. Das wäre komplett falsch. Viele Menschen kommen ja zu uns, weil sie vor einer faschistischen Auslegung des Islam flüchten und in ein freiheitliches Land wollen. Es braucht auf beiden Seiten einen starken Brückenkopf.

Es gibt aber auch Flüchtlinge, die aus anderen Gründen zu uns kommen und weniger Interesse an Integration haben.
So gut wie alle Menschen, die fliehen, kommen hierher, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sehen. Es herrschen Perspektivlosigkeit, Willkür, Terror, Krieg oder schreckliche Armut. Man riskiert nicht sein Leben auf der Flucht, weil man hier ein paar Hundert Franken mehr verdienen kann als zu Hause. Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach einer Zukunft. Für alle aber gilt: Wer hierherkommt, muss unsere Regeln und unsere Kultur akzeptieren und sich integrieren. Das müssen wir auch einfordern.

Ein niederländischer Soziologe sagt auch, dass Assimilation der Schlüssel zur erfolgreichen Integration ist.
Wenn Assimilation bedeutet, dass eine Person ihre Herkunft vergessen soll, ist dies nicht der richtige Weg. Syrische Flücht­linge, die zu Hause alles verloren haben, tragen vielleicht ein Kopftuch, weil es ihnen in einer noch fremden Welt Geborgenheit bietet. Wenn ihnen dies hilft, ihre Identität in unsere Gesellschaft zu retten, kann ich das nachvollziehen. Wir müssen aber unbedingt vermeiden, dass die verschiedenen Kulturen in Parallelgesellschaften nebeneinander ­leben. Das wäre gefährlich. Unser Ziel ist ganz klar, dass jeder Mensch Schritt für Schritt in unsere Kultur und den Arbeitsprozess integriert wird. Man muss sich aber bewusst sein: Je nach Herkunft wird die Integration Jahre dauern, und wir müssen eine gewisse Geduld haben.

Welche Rolle spielt dabei die Schule?
Da die Schule auch einen Integrationsauftrag hat, spielt sie eine wichtige Rolle. Aber: Dieser Auftrag gilt für die gesamte Gesellschaft. Denn in erster Linie hat die Schule immer noch einen ­Bildungsauftrag.

Funktioniert die Integration nicht, droht in manchen Fällen eine Radikalisierung. Ist das ­Verweigern eines Händedrucks bereits ein Anzeichen dafür?
Zum Glück ist dieser Fall eine ­absolute Ausnahme. Man muss unterscheiden zwischen einer normalen Reibung, die durch die kulturellen und religiösen Unterschiede entsteht, einem pubertären Abgrenzungsverhalten von Jugendlichen und einer Radikalisierung. Deshalb kann ich nicht sagen, dass die Verweigerung des Händedrucks zwingend auf eine Radikalisierung hindeutet. Eine solche zu erkennen, ist schwierig.

Was kann darauf hindeuten?
In der Regel geht eine Radikalisierung mit einer Isolierung einher. Dies ist aus Neonazi- oder Sektenkreisen bekannt. Solche Tendenzen müssen von den Lehrern und den Eltern erkannt werden. Wenn die Beziehung zum Schüler oder zum eigenen Kind gut ist, merkt man, wenn sich dieses immer mehr zurückzieht.

Wie werden die Lehrer im Kanton Bern geschult, damit sie solche Warnzeichen erkennen?
Wir haben keine flächendeckende Schulung in dieser Hinsicht. Aber wir bieten Hilfsmittel an wie einen Leitfaden zur Einschulung von Flüchtlingskindern oder zur Religionsfreiheit. Zudem steht das Schulinspektorat in engem Kontakt mit den Schulleitungen.

In Zürich hilft ein Fragebogen den Lehrern bei der Beurteilung entsprechender Verdachtsfälle. Gibt es so etwas in Bern auch?
Nein, das gibt es nicht und war mir auch nicht bekannt. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass wir diesen von den Zürcher Kollegen übernehmen könnten.

Radikalisierung geschieht oft über soziale Medien. Dürfen Lehrer ihre Schüler überwachen?
Aufgrund des Datenschutzes darf die Schule die Aktivitäten der Schüler nicht überwachen.

Dürfen Lehrer aber beispiels­weise auf Facebook mit ihren Schülern befreundet sein?
Soviel ich weiss, dürfen sie das. Es braucht ja das Einverständnis von beiden Seiten. Zudem ist es eine Aufgabe der Schule, die Medienkompetenz der Kinder zu fördern, dies gilt auch für die ­sozialen Medien. Ich kann aber damit nicht garantieren, dass die Lehrer eine Radikalisierung in jedem Fall erkennen.

Der Berufsverband der Berner Lehrer verabschiedete kürzlich ein Positionspapier zur Einschulung von Flüchtlingskindern. ­Darin forderten sie mehr Unterstützung vom Kanton.
Wir sind in engem Kontakt mit Bildung Bern und haben ihre Forderungen an verschiedenen Sitzungen thematisiert. In einem ersten Schritt wurden bereits zusätzliche Stunden für Deutschkurse bewilligt. In Gemeinden mit Durchgangszentren bilden wir zudem Empfangsklassen, in denen Flüchtlingskinder gemeinsam Deutsch lernen, bevor sie in die Regelklassen kommen. Es gibt aber zunehmend auch Schülerinnen und Schüler, die praktisch keine Schulbildung haben. Solche Kinder sollen künftig in speziellen Klassen auch thematisch unterrichtet werden, bevor wir sie in die normale Schule integrieren. Machen wir dies nicht, überfordern wir die Schule.

Was kosten diese zusätzlichen Angebote?
Wir rechnen mit Mehrkosten von mindestens fünf bis zehn Millionen Franken pro Jahr. Noch unklar sind die Kosten für Deutschkurse für Erwachsene. Wenn wir diese integrieren wollen, müssen sie die Sprache lernen. Momentan besteht da Handlungsbedarf.

In manchen Kantonen werden die Eltern zur Kasse gebeten, wenn ihre Kinder Deutschkurse besuchen müssen. Wäre dies auch in Bern denkbar?
Das ist bei uns kein Thema. Ich bin auch nicht sicher, ob dies zulässig ist. Deutsch als Zweitsprache gehört im Kanton Bern zum Volksschulangebot.


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