Die beiden Kontrahenden: Largo und Joris. Bild: Simon Tanner
"Solidarisches Verhalten zu wenig gefördert", NZZ, 21.12. von Andrea Tedeschi und Walter Bernet
In 6 von 20 Zürcher Kantonsschulen gibt es zurzeit reine Mädchen-
und Knabenklassen. Wie finden Sie das?
Elisabeth
Joris: Die Einführung der Koedukation war für die
benachteiligten Mädchen auf Mittelschulstufe in den 1970er Jahren ein
Fortschritt. Die Genderforschung stellte die Vorteile für die Mädchen zwar
wieder infrage. Meine Position dazu ist allerdings eine ambivalente, geprägt
auch von meinen Erfahrungen als Lehrerin. Denn die Frage ist, ob gemischte
Klassen immer praktikabel sind. In gewissen Gymnasien wie dem neusprachlichen
gibt es wegen der Profile einfach mehr Mädchen. Bei der Zusammensetzung der
Klassen kommen verschiedene Faktoren zusammen, die eine Schule berücksichtigen
muss.
Remo H. Largo: Sollte es wirklich so sein, dass finanzielle oder organisatorische Gründe wie zum Beispiel Turnstunden zu reinen Mädchen- oder Bubenklassen führen, dann ist das ein herber Rückschlag und pädagogisch unverantwortlich. Wie sollen Frauen und Männer in der Gesellschaft je gleichberechtigt miteinander umgehen, wenn das in der Schule nicht gewollt und vor allem auch nicht gelernt wird?
Müsste
man heute also geschlechtergetrennte Schulklassen vermeiden?
Largo: Buben und Mädchen erbringen in Intelligenztests vergleichbare
Leistungen. Mädchen sind im sozialen und sprachlichen Bereich etwas besser,
Buben im räumlichen. Über alle Kompetenzen gesehen überlappen sich die
Fähigkeiten beider Geschlechter zu über 90 Prozent. Es gibt daher aus
pädagogischer Sicht kein stichhaltiges Argument, die Geschlechter getrennt zu
unterrichten.
Joris: Gerade dicke Mädchen werden von Buben oft schikaniert. Trotzdem wünscht sich die Mehrheit der Mädchen gemischte Klassen. Sie vermissen das andere Geschlecht in reinen Mädchenklassen im Alltag dennoch nicht. An der Kantonsschule Zürich Birch, die heute mit der Mittelschule Oerlikon zusammengelegt ist, diskutierten wir, was eine gendergerechte Mittelschule bedeuten würde. Initiiert von der Schulleitung.
Largo: Wie lang ist das her?
Joris: Das war vor zehn Jahren. Dabei ging es in erster Linie darum, wie man die unterschiedlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler fördert, und nicht um getrennte und gemischte Klassen. Dabei machte ich die Erfahrung, dass sich vor allem männliche Lehrer den Genderfragen nicht stellen.
Studien
zeigen, dass Mädchen unter sich gerade in Mathematik besser lernen als in
gemischten Klassen.
Joris: Als ich Geschichte und politische Bildung unterrichtete, gab es
gute und weniger gute Schülerinnen in reinen Mädchenklassen. In den gemischten
Klassen dagegen war klar, dass die Buben viel schneller waren. Ich musste mir
überlegen, wie ich die Mädchen stärker zu Wort kommen lassen kann. Gerade in
Mathematik fragen Mädchen mehr, wenn sie unter sich sind, und sie werden besser
gefördert. Aber natürlich ist das Leistungsspektrum auch in reinen
Mädchenklassen gross.
Largo: Die Schule hat den Auftrag, zur Sozialisierung der Kinder beizutragen. Im Schulgesetz des Kantons Zürich steht sinngemäss, dass die Schule die Kinder zu selbständigen und gemeinschaftsfähigen Menschen erziehen soll. Weil die Schule diesen Auftrag kaum wahrnimmt, haben wir in der Gesellschaft ein grosses soziales Problem. Seit vierzig Jahren diskutieren wir, dass Frauen in Gesellschaft und Wirtschaft benachteiligt werden. Wollen wir das ändern, müssen wir in Familie und Schule damit beginnen.
Was
fehlt in der Entwicklung der Schüler, wenn sie in getrennten Klassen sind?
Largo: Mädchen und Buben lernen nicht über soziale Leitsätze, wie man
miteinander umgehen soll. Es geht nur über gemeinsame Erfahrungen. Wandern Sie
mal mit Schülern eine Woche lang über die Alpen.
Joris: In solchen Arbeitswochen sind Buben und Mädchen intensiver zusammen, trotzdem bilden sich Mädchen- und Bubengruppen. Auch in der Freizeit vermischen sich die Geschlechtergruppen nur punktuell. Aber sie erfahren sich, da gebe ich Ihnen recht.
Largo: In der Freizeit erleben wir doch alle, wie oberflächlich die Begegnungen sind. Es geht nur darum, wie ich ankomme, wie ich angezogen bin und welches Handy ich habe.
Joris: Ich bin da ambivalent. Im Zeitalter von Talkshows übernehmen die Schüler von ihren Vorbildern die Medienkompetenz. Mit dem Mikrofon in der Hand sind die Buben stärker. Im Hintergrund aber sind die Mädchen immer viel engagierter. In geschlechtergetrennten Klassen müssen beide Geschlechter alle Aufgaben übernehmen und werden so in verschiedenen Kompetenzen gestärkt.
Largo: Ich gebe Ihnen ein Beispiel, warum der Austausch zwischen den Geschlechtern so wichtig ist. Im Sexualunterricht kann man jedem Geschlecht getrennt Wissen über die körperliche und psychische Entwicklung in der Pubertät vermitteln. Aber erst wenn beide Geschlechter miteinander reden und einander zuhören, stellen sie fest, dass Buben und Mädchen unterschiedliche Bedürfnisse, Interessen und Erwartungen an eine partnerschaftliche Beziehung haben. Diese werden in einer Disco nicht diskutiert.
Joris: Wie die Geschlechter in der Schule miteinander umgehen, hat sicher gesellschaftliche Auswirkungen. In Schulen, in denen es aus organisatorischen Gründen zu geschlechtergetrennten Klassen kommt, könnte man aber typenübergreifende Gefässe für einen Austausch bilden. Was aber, wenn eine Schule im naturwissenschaftlichen Gymnasium kaum Mädchen hat, im neusprachlichen aber nur wenige Knaben?
Herr
Largo, Sie sagen, dass wir auf ein gesellschaftliches Problem zusteuern.
Reichen die organisatorischen Massnahmen in den Schulen nicht aus?
Largo: Die Frage ist doch: Ist die Schule für die Kinder oder für die
Lehrer da? Was ist das Hauptanliegen der Schule, etwa ihre organisatorischen
Probleme zu lösen? Wenn die Schule es verpasst, den Schülern soziale
Erfahrungen zu ermöglichen, die zu einer gegenseitigen Wertschätzung unter den
Geschlechtern führen, dann hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllt. Und die
Wertschätzung wird in Gesellschaft und Wirtschaft fehlen.
Joris: Das hängt aber stark mit der Kultur im Schulhaus und der Zusammensetzung der Lehrerschaft zusammen.
Largo: Haben wir ein Problem oder haben wir keines?
Joris: Wir haben ein sehr starkes Problem. Dass unterschiedliche Kompetenzen und solidarisches Verhalten zu wenig gefördert werden, hat mit der Zielsetzung der Schule im Allgemeinen, aber auch mit den Lehrkräften und Fächern zu tun, es ist nicht primär eine Geschlechterfrage.
Largo: Ja, das stimmt. Die Schule sozialisiert sowieso, die Frage ist nur, wie.
Joris: Ich bin aber skeptisch, wie viel die Schule überhaupt auffangen kann.
Auch
die Familie vermittelt und prägt Rollenbilder. Ist ihr Einfluss nicht stärker
als jener der Schule?
Largo: Nein, der Einfluss der Eltern dominiert in den ersten
Lebensjahren. Sobald die Kinder in Krippe, Kindergarten und Schule kommen,
nimmt ihr Einfluss immer mehr ab. Auch wenn es hart ist: Jugendliche werden
kaum mehr durch die Eltern, sondern durch die Peers in der Clique sozialisiert.
Joris: Die Schule ist nur eine der Möglichkeiten, den Austausch zu erfahren. Aber es ist richtig: Er müsste als ein prioritärer Auftrag der Schule festgeschrieben werden. In gemischten Klassen erfahren Mädchen und Buben, dass die Schnittmengen viel grösser sind, als sie meinen.
Einige
Klassen sind wegen der Turnstunden getrennt. Wieso sollten die Jugendlichen
nicht gemeinsam turnen?
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