Wenn von Kügelgen schreibt: "... die Befürworter (des individualisierten Lernens - UK) verzichten ja weitgehend auf jegliche zusammenhängende Darlegung und setzen auf die normative Wucht der administrativen Durchsetzung", dann erinnert mich das schon stark an die Zustände in der Schweiz von heute, wo am Beispiel des Lehrplans 21 jegliche Kritik ausgeblendet und Kritiker bewusst ausgegrenzt oder diffamiert werden. Walter Herzog, ein pointierter und wortgewaltiger Kritiker der Kompetenzorientierung und der Standardisierung, wie sie im Lehrplan 21 verordnet wird, regt sich zum Beispiel fürchterlich auf über Leute, die ihre Kritik am Lehrplan 21 mit allerhand lehrplanfremden Argumenten aufmunitionieren. Dieser Walter Herzog also muss sich von Bernhard Pulver, dem Berner Erziehungsdirektor, sagen lassen, er - ausgerechnet er - arbeite bezüglich des Lehrplans 21 mit Unterstellungen. Damit erreicht die Schweizer Debatte einen Pegelstand, der die in Deutschland ablaufenden Veränderungen und den damit einhergehenden Furor von Kügelgens verständlicher machen. (uk)
Hilflos gegenüber dem Machtapparat, hlz- Zeitschrift der GEW Hamburg, 1-2/2012, von Rainer von Kügelgen
Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.
Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengerade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock,
Womit man sie einst geprügelt.«
Mit diesen Versen schenkt uns Heinrich Heine
1844 in »Deutschland, ein Wintermärchen« die geniale Analyse eines Mechanismus,
mit dem es gelingt, äußere Unterdrückung dadurch überflüssig zu machen, dass
sie sich in verinnerlichte Gesinnung umsetzt. Ein solches Umsetzen – in Heines
Bild das Betreiben und Organisieren der Schluckprozedur – ist das
individualisierte Lernen (IL) und uns Lehrer will es zu seinen »coaches«
machen.
Das individualisierte Lernen wird von einer
großen Koalition aus Schulpolitikern und Bildungsbürokratie, Studienseminaren
und Institut für Lehrerbildung (LI), fremdgehenden Gehirnphysiologen und
Wanderprofessoren, Schulinspektoren und selbsternannten pädagogischen Päpsten,
Schweizer Gurus und marktschreierischen Scharlatanen als Passierschein in das
Schulparadies des 21. Jahrhunderts gepriesen.
Ja, wie ein Dukaten-Scheißesel soll IL sogar
die lächendeckende Inklusion mit ihren zahlreichen Herausforderungen und
ungelösten Problemen zum Billig- und die prinzipielle Binnendifferenzierung zum
Nulltarif ermöglichen. Keine Woche vergeht ohne weitere Elogen auf IL als
Wundermittel gegen alle Sünden der Vergangenheit und alle Übel der Gegenwart.
Doch hat man nicht seinerzeit auch vom Heroin Vergleichbares versprochen? Und
so besteht auch IL bei genauerem Hinsehen im Wesentlichen aus Risiken und
Nebenwirkungen.
Der teilweise putschartig durchgezogene
Versuch, IL flächendeckend als Standardmethode festzuschreiben, verbrennt große
Mengen von anderswo fehlenden Mitteln, wird massiv vom LI und vom HIBB
(Berufsbildung) gepowert, von den Schulinspektionen und in der
Referendarsausbildung in erpresserischer Weise gefördert, in den Schulen mit
Sondermitteln und Stundenentlastungen gepäppelt, von Schweizer Gurus und
Hamburger Modejournalisten in Großveranstaltungen propagiert.
Dennoch stößt er unter den Lehrkräften auf
den zähen Widerstand nicht nur der alten Hasen, denen dieser missionarische
Eifer aus guter Erfahrung nicht koscher vorkommt. Solcher Ablehnung soll mit
den folgenden Thesen Beistand geleistet werden. Gleichzeitig sollen die Thesen
Bedenken zur Verfügung stellen: und zwar sowohl denjenigen, die IL vielleicht
ein wenig blauäugig oder doch schon verharmlosend als eine Art zusätzlicher
Nachhilfe im Rahmen der schulischen Methodenvielfalt konzeptualisieren als auch
denjenigen, die dabei wohlmeinende Beispiele aus ihrer näheren Umgebung vor
Augen haben, wie sie sich möglicherweise aus einer den gesellschaftlichen
Zusammenhang ausblendenden Froschperspektive darstellen können.
Es handelt sich wie gesagt um Thesen, nicht
um deren breit angelegte Herleitung – die Befürworter verzichten ja weitgehend
auf jegliche zusammenhängende Darlegung und setzen auf die normative Wucht der
administrativen Durchsetzung.
In summa betreibt IL die vorauseilende
Anpassung des Bildungssystems an die derzeit letzte Entwicklungsstufe der
kapitalistischen Leistungsgesellschaft, indem es die ihm Ausgelieferten
vereinzelt und zu Ausbeutern ihrer selbst erzieht. Vom Sozialen bleibt nichts
übrig als die Konkurrenz.
IL garantiert durch Verinnerlichung der
Zwänge in bis dato nie erreichter Weise die ungebremste Herrschaft und
reibungslose Durchsetzung derjenigen Bildungsmethoden und - inhalte, die sich
gerade als profitabel im Sinne der Interessen der Marktwirtschaft erwiesen
haben.
Individualisiertes Lernen atomisiert das
Gesellschaftliche und setzt mit dem Individualisierten eine historisch und
sozial hochgradig abgeleitete, abhängige, sekundäre Entwicklung initial, indem
es sie von den gesellschaftlichen Bedingungen, die sie erst hervorgebracht
haben, nicht nur isoliert, sondern sie in radikaler Verabsolutierung sogar
gegen diese ausrichtet. Egozentriertheit wird zur pädagogischen Weltordnung
gemacht.
IL setzt die steigende Ungerechtigkeit und
soziale Differenzierung der Bundesrepublik auf bildungspolitischem Gebiet in
ein pädagogisch-didaktisches Verfahren um.
Für manche Lehrende erscheint IL mit der
Rückzugsmöglichkeit aus der ununterbrochenen Verantwortung für alle und alles,
die es andient, unter den Bedingungen der permanenten eigenen
Grenzwertbelastung als rettender Strohhalm.
Für die Bildungsbürokratie bedeutet die
Verankerung von IL als Prinzip zunächst einmal, dass die Untergebenen selber
zusehen müssen, wie sie mit den Anordnungen zurechtkommen. Die Kombination von
IL mit einer ständig verschärften top-downKultur ist die lang gesuchte, ideale
pädagogisch-bürokratische Absicherung ihrer obrigkeitlichautoritäten
roll-back-Offensive gegen die Reste der Bildungsreform-Errungenschaften in der
Folge der Kulturrevolution von 1968 ff.
Unsere traditionell willfährigen, mediokren
und theorielosen Fortbildungsinstitutionen (LI, Studienseminare) dienen sich
geschmeidig dem Auftrag an, IL propagandistisch und organisatorisch zu
konkretisieren und durchzusetzen. Für sie fallen mit IL wie bei jeder neuen
pädagogischen Mode gemütliche Tagungen, sichere Posten, zahlreiche
Möglichkeiten der Karriereförderung und des Nachweises der eigenen Wichtigkeit
ab.
Für die Schüler bedeutet IL den Absturz ins
Haiischbecken des Bildungsdarwinismus: Die mit den Startvorteilen werden auch
diese Katastrophe überleben, eine Negativauswahl wird sogar von der zum Prinzip
gemachten Rücksichtslosigkeit proitieren und die mit den Handicaps schließlich
haben nun – ‚wissenschaftlich‘ nachgewiesen – noch viel mehr als immer schon
selber Schuld, dass sie in der Versenkung des eigenen Versagens verschwinden.
IL lässt die Schwachen allein. IL leistet
Beihilfe bei der Modernisierung und Verlagerung der gesellschaftlichen Gewalt,
die die Anpassung der Subjekte an die herrschenden Verhältnisse schon immer
erfordert hat: IL verwandelt auf dem Gebiet der Bildung – ganz im Sinne einer
von allen sozialen Fesseln befreiten Leistungsgesellschaft – diese Gewalt von
einer, die ganzen sozialen Gruppen gemeinsam gegenübertritt, in eine, die sich
das Individuum einverleibt. Der Leistungsdruck, in den sich diese Gewalt im
Normalbetrieb umsetzt, wird von einer äußeren, den Gruppen tendenziell feindlich
gegenübertretenden und daher identifizierbaren und tendenziell hinterfragbaren,
abwehrbaren Macht zu einer inneren, selbstgemachten, nicht mehr als fremd und
feindlich erkennbaren, unabwehrbaren Instanz intensivierter Selbstvermarktung,
Selbstausbeutung und Selbstdisziplinierung. IL verortet die Schuld- und
Verantwortungssuche allein im persönlichen Versagen.
Die sozial emanzipatorischen,
gesellschaftskritischen, utopischen, auf Freiheit und Glück ausgerichteten
Anteile einer Bildung im Humboldt‘schen Sinne, die auch das Kompensatorische
zum Gegenwärtigen zu berücksichtigen hat, bleiben mit IL auf der Strecke.
IL organisiert auf dem Bildungssektor die
Erzeugung einer Generation, die stracks auf die nicht mehr abwehrbare,
permanente Selbstausbeutung und Selbstüberforderung zusteuert, die wehrlos
gemacht wird gegenüber der nur noch als eigenes Versagen erlebbaren
Unmöglichkeit, den Anforderungen standzuhalten und deren Perspektive Burnout
und Depression ist.
Ein besonders abstoßender Auswuchs des IL ist
das sogenannte »Portfolio«-Wesen: Es gestaltet und betreibt das Auslöschen von
Individualität und Persönlichkeit und deren Ersetzung durch die Dokumentation
des eigenen Marktwerts, gemessen an den ephemeren Interessen der Mächtigen auf
dem Arbeitsmarkt. »Portfolio« eröffnet eine Zwangsspirale zum immer
prahlerischer hochdesignten Nachweis dieses je momentanen eigenen Marktwerts
und betreibt dessen YouTubeisierung. Auch hier gilt: Wer die Mittel hat, kann
sich reklamekundige Spezialisten kaufen.
IL ruft zum frontalen Angriff auf die soziale
Qualität des Lehr-Lernprozesses. IL bedeutet Aushebelung und Lähmung der Kräfte
des Von- und Miteinander-Lernens in der sozialen Gruppe. IL zerstört bzw.
verhindert den Zusammenschluss einer Gruppe gleichen Interesses zur Durchsetzung
gemeinsamer Ziele und zur Abwehr gemeinsamer Bedrohungen. IL stellt den
Vereinzelten hillos der im Apparat etablierten strukturellen Macht gegenüber.
IL steht dem Team-Gedanken und der
Kooperation und damit einer mächtigen Produktivkraft nicht nur der
gesellschaftlichwissenschaftlichen Innovation diametral gegenüber. Da hilft es
auch nichts, wenn versucht wird der Kritik zuvorzukommen, indem tatsachen- und
systemwidrig behauptet wird, individualisiert lerne es sich am besten in der
Gruppe (Muster-Wäbs, H. / Pillmann-Wesche, R.: Individualisiert lernt man am
besten gemeinsam!, in: ihbs 2/2009, S. 17, zitiert in einer Reklamebroschüre
des HIBB v. Jan. 2011). Raubtiere ernähren sich am besten vegetarisch, pigs can
fly and the earth is flat.
IL ist kapitulatorische Pädagogik: IL bedient
die Rückzugstendenzen einer erschöpften Lehrerschaft aus dem
Unterrichtsgeschäft: IL ist ideal dafür, die für die Lehrer anstrengende, aber
für die Schüler förderliche und von ihnen – wo sie denn geschieht – geschätzte,
gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Unwissen durch Techniken der sog.
»Selbstlernkompetenz« zu ersetzen und den Anspruch auf Unterricht abzuwimmeln.
IL hat ein reduktionistisches Verständnis des
Lehrer-Berufs und scheut sich nicht, dies an den Schulen in geförderten
Lehrgängen zu verbreiten: IL bedeutet Rückzug aus der sozialen,
verstehensorientierten, sprachlich-kommunikativen live-Interaktion auf das
Managen von verdinglichten Anforderungen, Stoffen und Techniken (vgl. den
dümmlich-entlarvenden Reklamespruch: »vom Lehrer zum Coach« (Veranstaltung von
LI & Reinhard Kahl, Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer und Andreas Müller).
IL errichtet ein karikaturhaftes Zerrbild
sozialbasierter LehrLernstile; IL schmeißt Unterricht mit Instruktion in eins
und denunziert beides als obsoleten Frontalunterricht (vgl. Veranstaltungsreihe
von LI & Reinhard Kahl: »Von der belehrten zur lernenden Gesellschaft«).
Mit dem Konstruktivismus greift IL auf eine
Rechtfertigungstheorie zurück, die philosophisch peinlich und erkenntnistheoretisch
haltlos ist: Der Konstruktivismus ist entstanden aus der platten Übertragung
und maßlosen linearen Hochrechnung von Oberlächen-Erkenntnissen über
Aktivierungszonen und Potentiale von physiologischen Gehirnvorgängen auf
geisteswissenschaftliche Fragen. Bei der Ausweitung auf
philosophisch-erkenntnistheoretische Fragestellungen scheitert der
Konstruktivismus in mindestens zweierlei Hinsicht grundlegend: einerseits an
seiner grandiosen Ignoranz gegenüber den 3000-jährigen Ergebnissen der
Philosophie aber auch gegenüber den minder alten von Psychologie und
Sprachwissenschaft. Andererseits scheitert er an seiner Nichtbeachtung der
mehrfachen qualitativen Umschläge der zu erfassenden Phänomene auf ihrem langen
Weg vom Sinnesreiz bis hin zur Aufstellung einer Theorie über die Erkennbarkeit
der Welt, über die Mitteilbarkeit von Erkenntnissen oder über die richtige
Methode, die Aporien und Möglichkeiten des Verstehens zu identiizieren und zu
bearbeiten.
Für die Erfassung eines genuin sozialen und
gesellschaftlichen Phänomens, wie es die Sprache und das im Wesentlichen in und
mit ihr stattindende Lehren und Lernen ist, ist der Konstruktivismus, der ein
unlösbares Problem bereits mit der Intersubjektiviät hat, eine ganz und gar
untaugliche, ja abwegige Theorie.
Fragen von Lehr-Lern-Kommunikation mit Hilfe
des Konstruktivismus, für den das Lehren, Unterrichten und Lernen im Grunde ein
unaulösbares Paradox ist, verstehen oder gar steuern zu wollen, ist noch
absurder als der Versuch, die Wirkung eines Wiegenliedes mit Kernphysik zu
erklären. Der (pädagogische) Konstruktivismus ist eine Mode- und
Rechtfertigungstheorie der Vereinzelung, der Abschaffung des Sozialen, der
Absage an eine Erkennbarkeit der Welt, der Unmöglichkeit von Kommunikation, des
Gewährenlassens jedweden Mainstreams bei gleichzeitiger Reduktion möglicher
Kritik aufs Rein-Subjektive, Individuelle, total Relativierte.
Was das IL und den Konstruktivismus zum Duo
infernale des gegenwärtigen Desasters macht, ist ihre wechselseitige
Stabilisierung in Sachen eines erkenntnistheoretischen Solipsismus, der
autistischen Ignoranz des Gesellschaftlichen und der Rechtfertigung eines
individualistischen Bildungsdarwinismus im Dienste der Anpassung der Schüler an
eine entfesselte Leistungsgesellschaft.
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