1. November 2015

Individualisiertes Lernen und Konstruktivismus - das Duo infernale des Desasters

Immer wieder werde ich von treuen Leserinnen und Lesern mit Texten bedient. Nicht immer aber kann ich alles berücksichtigen, ich versuche mich bei der Auswahl auf die drei Hauptfelder meines Blogs zu konzentrieren: die bildungspolitische Aktualität, die Volksschule, die Schweiz. Beim nun folgendenText zeigte mir ein Blick auf Datum und Land, dass es wohl nicht für eine Publikation reichen würde. Ich begann zu lesen und musste kurzerhand alle meine Bedenken verwerfen. Was im Text von Rainer von Kügelgen zum Ausdruck kommt, ist die Wucht und Kraft der Gedanken eines scharfen Kritikers von süffigen Modeströmungen, die letztlich die Administration mästen und das Klassenzimmer verarmen lassen.
Wenn von Kügelgen schreibt: "... die Befürworter (des individualisierten Lernens - UK) verzichten ja weitgehend auf jegliche zusammenhängende Darlegung und setzen auf die normative Wucht der administrativen Durchsetzung", dann erinnert mich das schon stark an die Zustände in der Schweiz von heute, wo am Beispiel des Lehrplans 21 jegliche Kritik ausgeblendet und Kritiker bewusst ausgegrenzt oder diffamiert werden. Walter Herzog, ein pointierter und wortgewaltiger Kritiker der Kompetenzorientierung und der Standardisierung, wie sie im Lehrplan 21 verordnet wird, regt sich zum Beispiel fürchterlich auf über Leute, die ihre Kritik am Lehrplan 21 mit allerhand lehrplanfremden Argumenten aufmunitionieren. Dieser Walter Herzog also muss sich von Bernhard Pulver, dem Berner Erziehungsdirektor, sagen lassen, er - ausgerechnet er - arbeite bezüglich des Lehrplans 21 mit Unterstellungen. Damit erreicht die Schweizer Debatte einen Pegelstand, der die in Deutschland ablaufenden Veränderungen und den damit einhergehenden Furor von Kügelgens verständlicher machen. (uk)
Hilflos gegenüber dem Machtapparat, hlz- Zeitschrift der GEW Hamburg, 1-2/2012, von Rainer von Kügelgen


Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.
Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengerade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock,
Womit man sie einst geprügelt.«

Mit diesen Versen schenkt uns Heinrich Heine 1844 in »Deutschland, ein Wintermärchen« die geniale Analyse eines Mechanismus, mit dem es gelingt, äußere Unterdrückung dadurch überflüssig zu machen, dass sie sich in verinnerlichte Gesinnung umsetzt. Ein solches Umsetzen – in Heines Bild das Betreiben und Organisieren der Schluckprozedur – ist das individualisierte Lernen (IL) und uns Lehrer will es zu seinen »coaches« machen.
Das individualisierte Lernen wird von einer großen Koalition aus Schulpolitikern und Bildungsbürokratie, Studienseminaren und Institut für Lehrerbildung (LI), fremdgehenden Gehirnphysiologen und Wanderprofessoren, Schulinspektoren und selbsternannten pädagogischen Päpsten, Schweizer Gurus und marktschreierischen Scharlatanen als Passierschein in das Schulparadies des 21. Jahrhunderts gepriesen.

Ja, wie ein Dukaten-Scheißesel soll IL sogar die lächendeckende Inklusion mit ihren zahlreichen Herausforderungen und ungelösten Problemen zum Billig- und die prinzipielle Binnendifferenzierung zum Nulltarif ermöglichen. Keine Woche vergeht ohne weitere Elogen auf IL als Wundermittel gegen alle Sünden der Vergangenheit und alle Übel der Gegenwart. Doch hat man nicht seinerzeit auch vom Heroin Vergleichbares versprochen? Und so besteht auch IL bei genauerem Hinsehen im Wesentlichen aus Risiken und Nebenwirkungen.

Der teilweise putschartig durchgezogene Versuch, IL flächendeckend als Standardmethode festzuschreiben, verbrennt große Mengen von anderswo fehlenden Mitteln, wird massiv vom LI und vom HIBB (Berufsbildung) gepowert, von den Schulinspektionen und in der Referendarsausbildung in erpresserischer Weise gefördert, in den Schulen mit Sondermitteln und Stundenentlastungen gepäppelt, von Schweizer Gurus und Hamburger Modejournalisten in Großveranstaltungen propagiert.

Dennoch stößt er unter den Lehrkräften auf den zähen Widerstand nicht nur der alten Hasen, denen dieser missionarische Eifer aus guter Erfahrung nicht koscher vorkommt. Solcher Ablehnung soll mit den folgenden Thesen Beistand geleistet werden. Gleichzeitig sollen die Thesen Bedenken zur Verfügung stellen: und zwar sowohl denjenigen, die IL vielleicht ein wenig blauäugig oder doch schon verharmlosend als eine Art zusätzlicher Nachhilfe im Rahmen der schulischen Methodenvielfalt konzeptualisieren als auch denjenigen, die dabei wohlmeinende Beispiele aus ihrer näheren Umgebung vor Augen haben, wie sie sich möglicherweise aus einer den gesellschaftlichen Zusammenhang ausblendenden Froschperspektive darstellen können.

Es handelt sich wie gesagt um Thesen, nicht um deren breit angelegte Herleitung – die Befürworter verzichten ja weitgehend auf jegliche zusammenhängende Darlegung und setzen auf die normative Wucht der administrativen Durchsetzung.

In summa betreibt IL die vorauseilende Anpassung des Bildungssystems an die derzeit letzte Entwicklungsstufe der kapitalistischen Leistungsgesellschaft, indem es die ihm Ausgelieferten vereinzelt und zu Ausbeutern ihrer selbst erzieht. Vom Sozialen bleibt nichts übrig als die Konkurrenz.

IL garantiert durch Verinnerlichung der Zwänge in bis dato nie erreichter Weise die ungebremste Herrschaft und reibungslose Durchsetzung derjenigen Bildungsmethoden und - inhalte, die sich gerade als profitabel im Sinne der Interessen der Marktwirtschaft erwiesen haben.

Individualisiertes Lernen atomisiert das Gesellschaftliche und setzt mit dem Individualisierten eine historisch und sozial hochgradig abgeleitete, abhängige, sekundäre Entwicklung initial, indem es sie von den gesellschaftlichen Bedingungen, die sie erst hervorgebracht haben, nicht nur isoliert, sondern sie in radikaler Verabsolutierung sogar gegen diese ausrichtet. Egozentriertheit wird zur pädagogischen Weltordnung gemacht.
IL setzt die steigende Ungerechtigkeit und soziale Differenzierung der Bundesrepublik auf bildungspolitischem Gebiet in ein pädagogisch-didaktisches Verfahren um.

Für manche Lehrende erscheint IL mit der Rückzugsmöglichkeit aus der ununterbrochenen Verantwortung für alle und alles, die es andient, unter den Bedingungen der permanenten eigenen Grenzwertbelastung als rettender Strohhalm.

Für die Bildungsbürokratie bedeutet die Verankerung von IL als Prinzip zunächst einmal, dass die Untergebenen selber zusehen müssen, wie sie mit den Anordnungen zurechtkommen. Die Kombination von IL mit einer ständig verschärften top-downKultur ist die lang gesuchte, ideale pädagogisch-bürokratische Absicherung ihrer obrigkeitlichautoritäten roll-back-Offensive gegen die Reste der Bildungsreform-Errungenschaften in der Folge der Kulturrevolution von 1968 ff.

Unsere traditionell willfährigen, mediokren und theorielosen Fortbildungsinstitutionen (LI, Studienseminare) dienen sich geschmeidig dem Auftrag an, IL propagandistisch und organisatorisch zu konkretisieren und durchzusetzen. Für sie fallen mit IL wie bei jeder neuen pädagogischen Mode gemütliche Tagungen, sichere Posten, zahlreiche Möglichkeiten der Karriereförderung und des Nachweises der eigenen Wichtigkeit ab.
Für die Schüler bedeutet IL den Absturz ins Haiischbecken des Bildungsdarwinismus: Die mit den Startvorteilen werden auch diese Katastrophe überleben, eine Negativauswahl wird sogar von der zum Prinzip gemachten Rücksichtslosigkeit proitieren und die mit den Handicaps schließlich haben nun – ‚wissenschaftlich‘ nachgewiesen – noch viel mehr als immer schon selber Schuld, dass sie in der Versenkung des eigenen Versagens verschwinden.

IL lässt die Schwachen allein. IL leistet Beihilfe bei der Modernisierung und Verlagerung der gesellschaftlichen Gewalt, die die Anpassung der Subjekte an die herrschenden Verhältnisse schon immer erfordert hat: IL verwandelt auf dem Gebiet der Bildung – ganz im Sinne einer von allen sozialen Fesseln befreiten Leistungsgesellschaft – diese Gewalt von einer, die ganzen sozialen Gruppen gemeinsam gegenübertritt, in eine, die sich das Individuum einverleibt. Der Leistungsdruck, in den sich diese Gewalt im Normalbetrieb umsetzt, wird von einer äußeren, den Gruppen tendenziell feindlich gegenübertretenden und daher identifizierbaren und tendenziell hinterfragbaren, abwehrbaren Macht zu einer inneren, selbstgemachten, nicht mehr als fremd und feindlich erkennbaren, unabwehrbaren Instanz intensivierter Selbstvermarktung, Selbstausbeutung und Selbstdisziplinierung. IL verortet die Schuld- und Verantwortungssuche allein im persönlichen Versagen.
Die sozial emanzipatorischen, gesellschaftskritischen, utopischen, auf Freiheit und Glück ausgerichteten Anteile einer Bildung im Humboldt‘schen Sinne, die auch das Kompensatorische zum Gegenwärtigen zu berücksichtigen hat, bleiben mit IL auf der Strecke.

IL organisiert auf dem Bildungssektor die Erzeugung einer Generation, die stracks auf die nicht mehr abwehrbare, permanente Selbstausbeutung und Selbstüberforderung zusteuert, die wehrlos gemacht wird gegenüber der nur noch als eigenes Versagen erlebbaren Unmöglichkeit, den Anforderungen standzuhalten und deren Perspektive Burnout und Depression ist.

Ein besonders abstoßender Auswuchs des IL ist das sogenannte »Portfolio«-Wesen: Es gestaltet und betreibt das Auslöschen von Individualität und Persönlichkeit und deren Ersetzung durch die Dokumentation des eigenen Marktwerts, gemessen an den ephemeren Interessen der Mächtigen auf dem Arbeitsmarkt. »Portfolio« eröffnet eine Zwangsspirale zum immer prahlerischer hochdesignten Nachweis dieses je momentanen eigenen Marktwerts und betreibt dessen YouTubeisierung. Auch hier gilt: Wer die Mittel hat, kann sich reklamekundige Spezialisten kaufen.

IL ruft zum frontalen Angriff auf die soziale Qualität des Lehr-Lernprozesses. IL bedeutet Aushebelung und Lähmung der Kräfte des Von- und Miteinander-Lernens in der sozialen Gruppe. IL zerstört bzw. verhindert den Zusammenschluss einer Gruppe gleichen Interesses zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele und zur Abwehr gemeinsamer Bedrohungen. IL stellt den Vereinzelten hillos der im Apparat etablierten strukturellen Macht gegenüber.

IL steht dem Team-Gedanken und der Kooperation und damit einer mächtigen Produktivkraft nicht nur der gesellschaftlichwissenschaftlichen Innovation diametral gegenüber. Da hilft es auch nichts, wenn versucht wird der Kritik zuvorzukommen, indem tatsachen- und systemwidrig behauptet wird, individualisiert lerne es sich am besten in der Gruppe (Muster-Wäbs, H. / Pillmann-Wesche, R.: Individualisiert lernt man am besten gemeinsam!, in: ihbs 2/2009, S. 17, zitiert in einer Reklamebroschüre des HIBB v. Jan. 2011). Raubtiere ernähren sich am besten vegetarisch, pigs can fly and the earth is flat.

IL ist kapitulatorische Pädagogik: IL bedient die Rückzugstendenzen einer erschöpften Lehrerschaft aus dem Unterrichtsgeschäft: IL ist ideal dafür, die für die Lehrer anstrengende, aber für die Schüler förderliche und von ihnen – wo sie denn geschieht – geschätzte, gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Unwissen durch Techniken der sog. »Selbstlernkompetenz« zu ersetzen und den Anspruch auf Unterricht abzuwimmeln.
IL hat ein reduktionistisches Verständnis des Lehrer-Berufs und scheut sich nicht, dies an den Schulen in geförderten Lehrgängen zu verbreiten: IL bedeutet Rückzug aus der sozialen, verstehensorientierten, sprachlich-kommunikativen live-Interaktion auf das Managen von verdinglichten Anforderungen, Stoffen und Techniken (vgl. den dümmlich-entlarvenden Reklamespruch: »vom Lehrer zum Coach« (Veranstaltung von LI & Reinhard Kahl, Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer und Andreas Müller).

IL errichtet ein karikaturhaftes Zerrbild sozialbasierter LehrLernstile; IL schmeißt Unterricht mit Instruktion in eins und denunziert beides als obsoleten Frontalunterricht (vgl. Veranstaltungsreihe von LI & Reinhard Kahl: »Von der belehrten zur lernenden Gesellschaft«).

Mit dem Konstruktivismus greift IL auf eine Rechtfertigungstheorie zurück, die philosophisch peinlich und erkenntnistheoretisch haltlos ist: Der Konstruktivismus ist entstanden aus der platten Übertragung und maßlosen linearen Hochrechnung von Oberlächen-Erkenntnissen über Aktivierungszonen und Potentiale von physiologischen Gehirnvorgängen auf geisteswissenschaftliche Fragen. Bei der Ausweitung auf philosophisch-erkenntnistheoretische Fragestellungen scheitert der Konstruktivismus in mindestens zweierlei Hinsicht grundlegend: einerseits an seiner grandiosen Ignoranz gegenüber den 3000-jährigen Ergebnissen der Philosophie aber auch gegenüber den minder alten von Psychologie und Sprachwissenschaft. Andererseits scheitert er an seiner Nichtbeachtung der mehrfachen qualitativen Umschläge der zu erfassenden Phänomene auf ihrem langen Weg vom Sinnesreiz bis hin zur Aufstellung einer Theorie über die Erkennbarkeit der Welt, über die Mitteilbarkeit von Erkenntnissen oder über die richtige Methode, die Aporien und Möglichkeiten des Verstehens zu identiizieren und zu bearbeiten.

Für die Erfassung eines genuin sozialen und gesellschaftlichen Phänomens, wie es die Sprache und das im Wesentlichen in und mit ihr stattindende Lehren und Lernen ist, ist der Konstruktivismus, der ein unlösbares Problem bereits mit der Intersubjektiviät hat, eine ganz und gar untaugliche, ja abwegige Theorie.

Fragen von Lehr-Lern-Kommunikation mit Hilfe des Konstruktivismus, für den das Lehren, Unterrichten und Lernen im Grunde ein unaulösbares Paradox ist, verstehen oder gar steuern zu wollen, ist noch absurder als der Versuch, die Wirkung eines Wiegenliedes mit Kernphysik zu erklären. Der (pädagogische) Konstruktivismus ist eine Mode- und Rechtfertigungstheorie der Vereinzelung, der Abschaffung des Sozialen, der Absage an eine Erkennbarkeit der Welt, der Unmöglichkeit von Kommunikation, des Gewährenlassens jedweden Mainstreams bei gleichzeitiger Reduktion möglicher Kritik aufs Rein-Subjektive, Individuelle, total Relativierte.


Was das IL und den Konstruktivismus zum Duo infernale des gegenwärtigen Desasters macht, ist ihre wechselseitige Stabilisierung in Sachen eines erkenntnistheoretischen Solipsismus, der autistischen Ignoranz des Gesellschaftlichen und der Rechtfertigung eines individualistischen Bildungsdarwinismus im Dienste der Anpassung der Schüler an eine entfesselte Leistungsgesellschaft. 

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