Alterungsresistente Bildungsinhalte vermitteln, Bild: Wikipedia
Geschichtsvergessenheit als Programm, Journal21.ch, 21.10. von Carl Bossard
Wer mit jungen Menschen zu tun hat, weiss um ihr historisches Interesse
und erlebt, wie sie sich für Zeiten und Kulturen faszinieren lassen. Er kennt
ihren Wunsch nach Verstehen eigener und fremder Welten. Doch die Sachkenntnis
ist klein, das Wissen um Zusammenhänge bescheiden. Wegschauen ist keine Lösung;
die Schule müsste Gegensteuer geben. Stattdessen schafft sie Geschichte als
eigenständiges Fach ab.
Alles ist Gegenwart
„Junge Menschen heute leben vernetzt, in der Horizontalen“, schreibt der
Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann. Und er fügt bei: „Sie sind gleichzeitig
in Tokio, New York und Berlin; aber Historisches ist für sie bloss ein
Wikipedia-Eintrag.“ Alles ist Gegenwart.
Was sich nicht vergegenwärtigen lässt, ist nicht existent. So könnte man
denken. Dazu nochmals Hürlimann: „Meine Generation dagegen ist in der
Vertikalen aufgewachsen: Am Anfang war das Alte Testament, da war Rom, da war
die alte Schweizer Geschichte, und die Menschen begriffen sich als eine
Verlängerung des Gewesenen.“(1)
Da hat Thomas Hürlimann recht: Daten und Informationen bewohnen das
Horizontale.
Erkenntnisse entstehen nicht beiläufig
Sie sind die Signaturen der Gegenwart. Erkenntnissen und Bildung dagegen
wohnt eine Vertikalität inne. Die Schule steht darum vor grossen Aufgaben. Aus
den Daten-Haufen wie Big Data lassen sich zwar nützliche Informationen
herausdestillieren, doch sie sind bloss additiv. Sie generieren kaum
Erkenntnisse. Erkenntnisse entstehen nicht beiläufig. Sie sind Ergebnis von
Arbeit und nicht zufälliger Effekt von Aufwischen und Finden. Lernen und
begreifen muss jeder Schüler selbst.
Das ist anstrengend. Es braucht einen animierenden Unterricht, den
dialogischen Diskurs und vital präsente Lehrer. Wichtig sind Lehrerinnen, die
ihren Schülern etwas abverlangen und sie mit Strukturen konfrontieren, die
Jugendliche in ihrer Eigen- und Gegenwartswelt niemals kennenlernen würden.
Unterricht als gegenhaltende Kraft mit dem Mut zum Gegenläufigen. Die
Horizontale braucht die Vertikale.
Alterungsresistente Bildungsgehalte vermitteln
Die Schule ist darum in ihrer Aufgabe, zur Lernfähigkeit hinzuführen, so
wichtig wie nie zuvor. Und darum müssten sich Lehrpläne auf diejenigen Gehalte
und formalen Grundfähigkeiten konzentrieren, über die man dauerhaft lernfähig
bleibt – und nicht auf Aktualitäten: Bildungsgehalte ohne Verfallsdatum. In
einer kommunikativ verdichteten Dienstleistungsgesellschaft braucht es ein gut
entwickeltes muttersprachliches Können in Wort und Schrift. Bedeutsam sind
elementare mathematische wie naturwissenschaftliche Fähigkeiten und als
zwingende Bedingung die fremdsprachliche Qualifikation.
Wichtiges Bildungselement ist auch das Wissen um die eigene Geschichte
und damit die Fähigkeit, Herkunft und Zukunft miteinander zu verbinden. In
unserer modernen Zivilisation brauchen wir den historischen Sinn – mehr denn
je. Nur so können wir uns zur Fremdheit anderer, die uns nähergekommen sind,
und zur Fremdheit eigener Vergangenheiten, von denen wir uns
fortschrittsbedingt immer rascher entfernen, in eine Beziehung setzen. Eine
solche Haltung macht kooperations- und zukunftsfähig. Historisches Denken ist
die Basis.
Geschichte muss als Geschichte präsent sein
Doch die Schweizer Schulen schafften Geschichte als eigenständiges Fach
ab. Geschichte mäandriert als nebulöser Schwarm im Fachbereich „Mensch und
Umwelt“ mit unzusammenhängenden Einzelteilen: ein bisschen Pfahlbauer, ein
wenig Römer, eine Dosis Rittertum. Keine Übersicht, kein verbindendes
Zusammenhangwissen, keine Strukturen, nicht einmal auf der temporalen Ebene.
Geschichte wurde systematisch abgewertet.
Kaum eine gesicherte Stundenzahl. Kaum Kontrolle. Auch der Lehrplan 21
korrigiert nicht. Im Gegenteil. Er streicht Geschichte sogar an der
Sekundarschule. Das Fach wird Teil von „Räume, Zeiten, Gesellschaften“ (RZG) –
zusammen mit Geografie. Definiert sind zwölf Grundansprüche. Sie lassen
Geschichte nur noch als einzelne Fragmente erkennen. Ihr Stellenwert ist nicht
vorgeschrieben. Sie liegen im persönlichen Ermessen der Lehrerin, sind dem
beliebigen Gutdünken des Lehrers überlassen. Fürs Fach Geschichte konstruieren
diese Konstrukte kaum einen neuen Stellenwert.
Räume, Zeiten, Gesellschaften
Sobald aber eine Disziplin als eigenständiger Bereich verschwindet,
verschwindet auch der Inhalt. In den Köpfen der Kinder sowieso: „Wenn
Geschichte nicht als Geschichte in Erscheinung tritt, ist sie in ihren Köpfen
nicht vorhanden“, meint eine Geschichtsdidaktikerin. „Der Begriff «Geschichte»
weist programmatisch auf das Kerngeschäft der Geschichtswissenschaft hin, auf ihren
Umgang mit der Zeitlichkeit, auf ihre Art der Reflexion und Analyse des
Vergangenen“, kritisiert der Historiker Lucas Burkart. (2) Mit dem
Fachbereichsnamen «Räume, Zeiten, Gesellschaften» gehe das verloren, fügt er
an. Geschichte lehre Zusammenhänge in die Breite, aber auch zwischen Geschichte
und Gegenwart herstellen zu können.
Vor solchen Sammelfächern warnte schon der renommierte
Entwicklungspsychologe und Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Prof.
Franz E. Weinert: „Fächer sind als Wissenssysteme unerlässlich für kognitives
Lernen. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen heterogenen
Fächer-Mischmasch.“ Als Ausnahme nannte er den Projektunterricht; reale
Phänomene oder Probleme unserer Welt bilden hier den Ausgangspunkt.
Kompass in einer komplexen Welt
Die Zivilisationsdynamik ist ungebremst. Doch der Blick nach vorne
braucht den Rückspiegel. Je schneller sich die Gesellschaft verändert, desto
wichtiger wird das Wissen um die eigene Geschichte – und das Bewusstsein: „Da
kommen wir her.“ Wenn wir diese Dimension völlig verlieren, verlieren wir die
Vertikale. Wenn wir uns ganz in die Horizontale begeben und uns nur noch auf
die Gegenwart beziehen, dann verlieren wir das Verhältnis zur Geschichte und
damit die Orientierung – und ohne Orientierung keine Grundwerte des
Zusammenhaltes, keine Vorstellungen zur Raison d’Être der Schweiz. Schule
vermittelt den Blick zurück; doch er zielt immer auch nach vorne. Zukunft
braucht eben Herkunft, um Odo Marquards vielzitiertes Wort zu nennen.
Darum ist Geschichte so wichtig. Sie erzählt spannende Geschichten.
Menschen brauchen gute Geschichten. Sie wecken Interesse. Sie führen zu
Ereignissen wie zum Beispiel zur Französischen und Helvetischen Revolution von
1789 bzw. 1798 oder zur Bildung des Bundesstaates von 1848. Nicht als isolierte
Ereignisse, nicht als zusammenhangloser Haufen, nicht als begriffsloses
Nebeneinander. Weder einfach Jahreszahlen noch Fakten, auswendig gelernt und
mechanisch reproduziert. Nein. Jedes Geschehen steht in einem grösseren
Zusammenhang mit der Gegenwart.
Das zeigt zum Beispiel die Zeit zwischen 1798 und 1848 – eine der
spannendsten Epochen der Schweizer Geschichte. Auch für junge Menschen. Es war
der Kampf um die Modernisierung der Schweiz und ihren Aufbruch in die Zukunft,
der Konflikt zwischen Einheitsstaat und Staatenbund, der Streit zwischen dem
französisch-napoleonischen Zentralismus – symbolisiert im Apfel – und dem
alteidgenössischen Partikularismus – in Gestalt der Traube. Der fünfzigjährige
Kampf zwischen Apfel und Traube war intensiv. Es gab Krieg; es floss Blut. Fast
wäre die Schweiz auseinandergebrochen. Der Bundesstaat von 1848 brachte den
Kompromiss – in Form der Orange: ein vielfältiges Land mit möglichst autonomen
Gliedstaaten – dank einer föderativen Staatsstruktur.
Die Parallele zur Gegenwart ist evident – und damit das Postulat des
scharfsinnigen Schweizer Historikers Herbert Lüthy: „Alle Geschichte ist
Geschichte der Gegenwart, weil Vergangenes als Vergangenes gar nicht erfahren
werden kann, sondern nur als aus der Vergangenheit Gegenwärtiges.“
Der Zusammenhang als Türöffner
Erst wenn wir die Dinge im Kontext erkennen, gehen uns historische
Welten auf. Das Verstehen von geschichtlichen Zusammenhängen bildet die
Sensibilität für zeitliche Dimensionen und Entwicklungsprozesse, fürs Gewordene
und Gegenwärtige. Der Zusammenhang wird zum Türöffner in die Zukunft. Nicht
umsonst prägte der Philosoph Hans Blumenberg vor vielen Jahren den Ausdruck,
Bildung sei kein „Arsenal“, sondern ein „Horizont“. Nicht Daten und Fakten, sondern
Orientierung. Bildung als Orientierungsfähigkeit in geistigen und historischen
Welten.
Das kommt nicht von selbst. Jede Einsicht von Bedeutung – auch eine
geschichtliche – will gedanklich erarbeitet sein. In der Vertikale. Das erspart
uns keine Datenmaschine. Auch in Zukunft nicht. Und das Schulfach Geschichte
ist eine Art Grundversicherung. Das progressive Land Hessen schaffte das Fach
ab und führte es in der Zwischenzeit wieder ein – durch Aktualität eines
Besseren belehrt.
(1) Kedves Alexandra, Thomas Hürlimanns Kirschgarten.
In: Tages-Anzeiger, 5.6.2015, p. 25.
(2) Lucas Burkart, Jugendliche sollten eine
Faszination für andere Zeiten entwickeln. In: NZZ,18.3.2012.
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