Für viele Kinder - und vor allem für ihre Eltern - scheint es nur
eine Zukunftsperspektive zu geben: die Matura. In Genf ist der Anteil der
Lehrlinge der kleinste der Schweiz. Nur 4 Prozent der Jugendlichen entscheiden
sich für eine Berufsausbildung. Weniger als jedes zehnte Unternehmen bildet
Lehrlinge aus.
Genf lernt die Lehre, NZZaS, 11.10. von Ron Hochuli
Dies liegt zum Teil an der
Struktur der Wirtschaft, die in Genf stärker als in jeder anderen Region auf
den Dienstleistungssektor ausgerichtet ist - der bekanntlich weniger Lehrlinge
einstellt. Zudem hat die Berufsbildung im Grenzkanton einen schlechten Ruf.
Dabei spielt eindeutig der Einfluss des grossen Nachbarn eine Rolle: In
Frankreich absolvieren über 80 Prozent der Schüler einen Baccalauréat, eine
Matura, und es ist im Laufe der Zeit ein gewisser Snobismus gegenüber den
Lehrlingen entstanden.
Die Genfer Behörden wollen
diese Tendenz umkehren, denn eine Diagnose ist erschreckend: Jeder zweite
Schüler entscheidet sich fürs Gymnasium, aber jeder Dritte erreicht die Matura
nicht. Das führt dazu, dass bis zu 15 Prozent der Jugendlichen ohne Diplom in
die Berufswelt einsteigen. Ihnen droht die Arbeitslosigkeit.
Diese Woche hat der
Staatsrat verschiedene Massnahmen verabschiedet und will selbst beispielhaft
agieren: Ziel ist es, dass unter dem Personal der Verwaltung und der
öffentlichen Unternehmen wie Flughafen, Transportbetriebe oder
Elektrizitätswerke mindestens 4 Prozent Lehrlinge arbeiten. Darüber hinaus will
man dem privaten Sektor einen Schub geben. Es wird den Unternehmen ein
spezielles Coaching angeboten, und die Lehrmeister werden sich am eigenen
Arbeitsort ausbilden lassen können. Auch die Bürokratie soll abgebaut werden.
Bei öffentlichen Ausschreibungen will man künftig bei den Anbietern viel
genauer auf die Anzahl Lehrlinge achten, wodurch ein weiterer Anreiz entstehen
soll.
Parallel dazu braucht es
bei den Eltern einen Mentalitätswechsel. Nach Ansicht der Genfer
Erziehungsdirektorin Anne Emery-Torracinta muss man ihnen klarmachen, dass die
Lehre kein Abstellgleis sei; dass es danach die Möglichkeit gebe, eine
Berufsmatura zu absolvieren und ein Studium in Angriff zu nehmen. Eigentlich
eine Banalität, die aber von vielen noch nicht richtig wahrgenommen wird.
Womöglich zeigt sich hier
der Anfang eines kulturellen Wandels. Noch sind es Einzelfälle, aber in letzter
Zeit schielen die französischen Behörden in Richtung Schweiz und wollen sich
über das System der Berufslehre schlaumachen. Ein System, auf das sie, mit fast
25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich, durchaus neidisch sind.
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